vonsaveourseeds 15.10.2009

taz Blogs


Willkommen auf der Blogplattform der taz-Community!

Mehr über diesen Blog

„Von Krise war auf der Anuga nichts zu spüren“, bilanzierte der Präsident des Bundesverbandes des deutschen Lebensmittelhandels (BVL) das Ergebnis der weltgrößten Ernährungsmesse in Köln, „Gegessen wird eben immer.“ Wirklich? Die FAO veröffentlichte gestern ihren neuesten Bericht zur Welternährungslage: Die Zahl der Unterernährten hat einen neuen Weltrekord aufgestellt: 1,02 Milliarden Menschen. Ein Sechstel der Menschheit hungert. Ein anderes Sechstel leidet an Fettsucht. Das war die Zielgruppe der globalen Fertiggericht-, Aroma-, Fleisch- und Zuckerschau. Brutaler als mit dem offziellen logo der Veranstaltung, dessen gestylte Lippen eine kleine quadratische Erde vernaschen, läßt sich der Zustand der Welternährung kaum ausdrücken.

Man soll freilich nicht denken, der Branche sei dies nicht bewußt. Der Vorsitzende der Bundesvereinigung der deutschen Ernährungsindustrie, Jürgen Abraham, griff die Lage mutig auf: „Wir alle gemeinsam sind gefordert noch sehr viel größere Anstrengungen zu unternehmen, um zukünftig 9 Mrd. Menschen auf dieser Erde ernähren zu können,“ sagte er in der Eröffnungsansprache und wußte auch wie: „so dürfen auch neue Technologien wie die Grüne Gentechnik kein Tabu sein,“ und „Der Welthandel mit Agrar- und Ernährungsgütern kann einen entscheidenden Beitrag leisten, den Wohlstand in Entwicklungs- und Schwellenländern zu mehren. Dafür brauchen wir offene Märkte. (…) Für die Zukunftschancen unserer Branche ist ein erfolgreicher Abschluss der Doha-Runde in der WTO ein entscheidendes Signal.“ denn „Deutschland ist im Welthandel mit Agrargütern und Lebensmitteln bei den Ausfuhren auf Platz drei, bei den Einfuhren sogar auf Platz zwei. Die Exporte der verarbeiteten Lebensmittel wachsen dynamisch mit hohen Wachstumsraten; in den letzten 10 Jahren sind sie um mehr als 20 Milliarden Euro auf 42,2 Milliarden Euro im Jahre 2008 gestiegen.


Abraham’s eigenes Geschäft eignet sich gut zur Verdeutlichung dessen was seine Branche unter „nachhaltigem Wachstum“ versteht. Seine Schinken werden mit billig importierten Futtermitteln aus der dritten Welt, nicht zuletzt mit Gentechnik-Soja aus Brasilien und Argentinien gemästet und dann im Schwarzwald, in den Ardennen und im spanischen Serrano (Eigenwerbung: „ein jeder unserer Schinken ist ein Original aus dem jeweiligen Land„) geräuchert. In Deutschland hat er einen Marktanteil von 23%, setzt knapp 200 Millionen Euro um, 20% davon im Export, v.a. in die USA. Im Weltmaßstab ist Abraham damit freilich noch ein zu kleiner Fisch. Deshalb übernahm der größte Schweizer Fleischkonzern, die Bell AG (Jahresumsatz ca. 1,7 Milliarden Euro, Anteilseigner Coop und Sal. Oppenheimer) letztes Jahr 75% des Schinken-Imperiums. Weil der heimische Markt zu klein geworden ist, expandiert Bell international und kaufte bei der Gelegenheit auch gleich noch den Wurst-Konzern Zimbo.

Die industrielle Fleischproduktion gehört zu den schlimmsten Umweltverschmutzern, Klimakillern und Vernichtern von bäuerlichen Existenzen. 35% der Weltgetreideproduktion gehen mittlerweile als Futtermittel in die Fleischproduktion (menschliche Ernährung: 47%, Sprit und Industrie: 18%). Bei den Ölsaaten ist das Verhältnis noch krasser. Deutschland und die USA gehören zu den Spitzenvertilgern von Fleisch, das seinerseits neben Zucker als Hauptverursacher von Überfettung und Zivilisationskrankheiten gilt.

Die Schweineteile, die nicht als Schinken, Filet und Kotlett in Deutschland abzusetzen sind, finden zu Dumpingpreisen dank EU-Subventionen ihren Weg nach Afrika, wo sie die örtlichen Bauern niederkonkurrieren.

Dazu Abraham: „Auch die Anuga 2009 belegt in beeindruckender Weise, dass das Food-Business ein weltumspannendes Geschäft ist. (…) Die Messe bietet bei international weiter steigender Nachfrage nach hochwertigen Lebensmitteln beste Chancen für den Ausbau unseres Auslandsgeschäfts; wir haben dabei vor allem in den letzten Monaten große Unterstützung durch unsere Politik, durch die Bundesregierung, erfahren, für die ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken möchte.“ Kritik durch „vermeintliche Verbraucherschützer“ habe die„hoch spezialisierte Kette von der Landwirtschaft über die Verarbeitungsindustrie bis zum Lebensmittelhandel und zur Gastronomie“ nicht verdient, „Deshalb richte ich an die Branche den Appell, sich mit den Vorwürfen der NGOs kritisch auseinanderzusetzen und sich aktiver in die öffentliche Diskussion einzubringen(…) An die Politik in Deutschland und Europa richtet sich der Appell, an einer Versachlichung der Diskussion mitzuwirken und nicht populistischen Forderungen nachzugeben, die allenfalls Scheinlösungen präsentieren. Der Verbraucher hat diese Verunsicherung nicht verdient – und die Wirtschaft auch nicht!“

Alles klar? Na, dann Mahlzeit! Und gönnen Sie sich ruhig mal einen original Abraham Bio-Schinken zum morgigen Welternährungstag. Denn zu den Trends der Anuga 2009 „gehören gesundheitsbezogene Produkte, zielgruppenspezifische Produkte, z. B. für Kinder, Convenience, Nachhaltigkeitskonzepte sowie Bio-Produkte.“ Die „taste 09“ der Anuga beschreibt das so: Neben neuen Geschmackserlebnissen und dem Wunsch vieler Verbraucher nach mehr Convenience, nach einem Mehr an Gesundheit und Wellness spricht die Ernährungsindustrie auch die jüngsten Konsumenten mit besonderen Produktinnovationen an. Aufreißen, spießen, eintauchen und mit Ketchup genießen – dies versprechen die schmackhaften Fleisch-Snack-Bällchen in einer handlichen Aufreiß-Packung. Die Fleisch-Bällchen werden in sieben Geschmacksrichtungen angeboten, lustige Spieße in verschiedenen Farben zum Spielen und Sammeln sprechen die Kids an.“

Falls Ihnen jetzt Max Liebermanns „Man kann gar nicht soviel essen wie man kotzen möchte“ durch den Kopf gehen sollte, dann macht das den Herren der Anuga keine Sorgen. Solange Sie die bunten Produktinnovationen nur gekauft haben, sollten Sie sich nicht scheuen, das Zeug gleich wegzuwerfen: Etwa 30 Prozent aller in Europa hergestellten Lebensmittel wird schließlich einfach weggeworfen. Das ist zwar für die Welternährung, das Klima und die Umwelt, vielleicht auch für gewisse Ethik-Sensibelchen eine Katastrophe, aber für die Lebensmittelbranche und auch für ihre eigene Gesundheit ist es schließlich besser so.

(Die Grafik der UNEP zeigt warum heute im weltweiten Schnitt von 4600 geernteten Kilokalorien nur 2000 auf dem Teller landen, durch Klicken wird sie grösser)

P.S.

Man kann bei diesem Thema vor Wut leicht in einen zynischen Ton verfallen. Entschuldigung – das hilft schließlich auch nicht wirklich weiter. Deshalb wollen wir zum Schluss einen anderen Beitrag der Wirtschaft zum Thema Welthunger nicht unerwähnt lassen. Der Kehler Importeur von französischen Käse-Spezialitäten „Fromi“ präsentierte die Aktion Französischen Käse genießen und bolivianischen Kindern helfen in Zusammenarbeit mit der Deutschen Welthungerhilfe, die gestern ihren Welthunger-Index veröffentlichte. Weil in Bolivien jedes vierte Kind unterernährt ist, gibt es für jeden verkauften Käse ein Glas Milch für ein bolivianisches Kind. Exportsubventioniert? Nein, durch den Aufbau lokaler Kleinkäsereien.

P.P.S.

Unter dem Titel „Cool Food gegen Taboo Food“ macht das Marktforschungsinstitut rheingold unter den Verbrauchern einen neuen trend aus: Sie schämen sich für ihre Lust an allgemein als ungesund eingestuftem Essen und tun es deshalb heimlich. Für Firmen komme es deshalb immer mehr darauf an, ihre Produkte aus der Schmuddelecke in den „coolen“ Bereich zu schieben und dabei trotzdem die Lust auf Fett und Zucker zu bedienen. „Essen ist der neue Sex“ übersetzt der Kölner Stadtanzeiger diese neue Verklemmtheit.

Sprüh-Natur für den beauty case

Innovation im Naturtrend der Luxusklasse: Durch gemeinsames Verpressen von Olivenöl mit Ananas, Fenchel, Banane, Paprika und anderem Gemüse kann sich der Feinschmecker von morgen den Verzehr von Gemüseballast und -fasern ersparen und doch deren feine Aromen auf’s Fertiggericht applizieren – oder auch als parfümiertes Öl direkt auf die Haut, wie der Hersteller von „natquid“ namens Olivolution empfiehlt.


Lust auf noch mehr Ekel-Bilder? Dann schauen Sie mal im blog von „news on tour“ vorbei.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/anuga_erfolgreicher_abschluss_der_ekel-messe_zum_welternaehrungstag/

aktuell auf taz.de

kommentare