vonHelmut Höge 05.11.2009

taz Blogs


Willkommen auf der Blogplattform der taz-Community!

Mehr über diesen Blog

Mach auch das Victory-Zeichen für den Longnose, der will uns photographieren.

Über Misthaufen-Gespenster, -Philosophen und Bauernträumer (ein Einschub)

Das Wort „Misthaufengespenst“ erfand einmal ein Kind auf einem Steglitzer Spielplatz im Streit mit einem anderen: Die beiden hatten zusammen gespielt und plötzlich angefangen, sich zu beschimpfen, wobei sie nach immer verletzenderen Worten suchten: „Du Idiot, du Pisser, du Kacker…usw. Schließlich holte eines der Kinder zum entscheidenden Schlag aus: „Du, du, du….Misthaufengespenst!“ Da war das andere baff und sagte nichts mehr. Das zweite Schimpfwort stammt aus Bernardo Bertoluccis großartigem Film „1900“ – ein Bauernepos, das die Klassenkämpfe in der Po-Ebene bis zum Sieg des Faschismus thematisiert. Es kommt darin zu einem Streit zwischen zwei Brüdern, die in der Landwirtschaft arbeiten: Der eine ist Gutsverwalter und schließt sich der faschistischen Bewegung an, der andere ist Kommunist. Er wird irgendwann von seinem Bruder als „Misthaufenphilosoph“ abgetan.

Und dann gibt es auch noch den ebenso abfällig gemeinten Begriff des „Bauernträumers“. So nannten die Volksaufstandsexperten in der Moskauer Kominternzentrale, in Sonderheit Bucharin,  den Genossen Ho Tschin Minh, weil er in ihren Strategiedebatten stets die Bauern ins Spiel brachte. Auch in einem Komintern-Aufstands-Handbuch aus dem Jahr 1928, herausgegeben von Wollenberg, Kipperberger, Tuchaschweski, und Ho Tschin Minh schrieb letzterer: „Der Sieg der proletarischen Revolution in Agrar- und Halbagrarländern ist undenkbar ohne aktive Unterstützung des revolutionären Proletariats durch die ausschlaggebenden Massen der Bauernschaft“.

Ho Tschin Minh kam in seinem Beitrag sogar zu dem Schluß, dass „der größte Fehler“ der chinesischen kommunistischen Partei darin bestanden habe, nichts zur Vertiefung der chinesischen „Agrarrevolution“ getan, sondern im Gegenteil die „Bauernbewegung“ noch gebremst zu haben. Die Partei hatte sich, gestützt auf ihre deutschen und russischen Berater aus der Komintern vor allem auf die Organisierung von Arbeiteraufständen in den großen Städten konzentriert. Diese waren blutig niedergeschlagen worden. Damals waren gerade mal 0,5% der chinesischen Bevölkerung Arbeiter. Umgekehrt hatte es in der dreitausendjährigen Geschichte Chinas immer wieder große Bauernaufstände gegeben, die regelmäßig zu einem Dynastiewechsel führten. Noch heute ist China ein Agrarland, allein in Peking leben und arbeiten noch 450.000 Bauern – genau so viel wie in ganz Deutschland, wo seit dem 16. Jahrhundert alle Bauernrevolten scheiterten. Der Bauer, das ist „das wirkliche China“, wie der Agrarutopist Peng Pai meinte. Nach der Niederschlagung der Arbeiteraufstände in den chinesischen Städten, die Inseln gleich in einem Bauernmeer lagen, reorganisierte der Bauernsohn Mao Tse-tung die kommunistische Partei auf dem Land neu – und orientierte dabei die Politik um – auf die Bauern und auf ihren Partisanenkampf. Seine Politik kulminierte nach dem Sieg der Kommunisten 1949 in einen  völligen Bruch mit Moskau und in die Kulturrevolution – der Jahre  1966 bis 1976.

Während der so genannten Großen proletarischen Kulturrevolution wurden Millionen Intellektuelle und Kader, aber auch und vor allem die „gebildete Jugend“ aufs Land geschickt – unter der Losung der „3 Mits“: Mit den Bauern essen, mit den Bauern arbeiten, mit den Bauern diskutieren!  Um die „3 Trennungen“ – von der Praxis, vom Volk und von der körperlichen Arbeit – zu überwinden. Grad neulich erwarb ich im Antiquariat eine kleine Flugschrift aus den frühen Siebzigerjahren: „Über die Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit in der chinesischen Kulturrevolution“, übersetzt von Joschka Fischer – aus dem Amerikanischen. Die Kulturrevolution hatte eine große Ausstrahlung: im Westen wurde der Maoismus fast zu einer Mode. Einer, der auch heute noch seinen Maoismus – selbstkritisch, zerknirscht – immer wieder ins Spiel bringt, ist der taz-Redakteur Christian Semler, ehemals Vorsitzender der KPD. Dabei äußert er fast immer sein Bedauern über die vielen chinesischen Gebildeten und Spezialisten, die damals über Jahre zu verblödender Landarbeit gezwungen wurden. Dies traf vor allem auf die als „Reaktionäre, Rechte Elemente und Revisionisten“ klassifizierten Intellektuellen zu, die teilweise über 22 Jahre aufs Land verbannt blieben, nämlich seit der „Anti-Rechts-Kampagne“ 1958 bereits, die auf die „Hundert-Blumen-Bewegung“ gefolgt war. Erst 1976 begann ihre Rehabilitierung, außerdem schaffte man die Pflicht zur Landarbeit vor dem Studium ab.

Wenig später – nach der Verhaftung und Verurteilung der „Viererbande“ – wurden auch schon die ersten literarischen Aufarbeitungen der Kulturrevolution – der zehn chaotischen Jahre, wie man sie nun nannte – veröffentlicht. Die Bücher darüber werden inzwischen als „Narben-Literatur“ bezeichnet. Sie wurden – aus naheliegenden Gründen: um Maos Irrweg aufzuzeigen – auch in Ost- und Westdeutschland eifrig übersetzt und publiziert. Nicht selten handelte es sich bei den Autoren inzwischen um Auslandschinesen, so daß die Bücher nicht aus dem Chinesischen, sondern aus dem Englischen, Französischen oder Holländischen übersetzt wurden – aus finanziellen Gründe. Dies ist schon fast gängige Praxis bei allen chinesischen Werken. Dabei  kommen jedoch oft seltsame Gebilde bei raus: So sprechen die Guonmindang-Offiziere in Mao Duns Sittenbild des Jahres 1930 „Shanghai im Zwielicht“ z.B. genauso wie die preußischen Offiziere bei Theodor Fontane, und in dem dünnen Poproman „Lalala“ von Mianmian redet die desorientierte Pekinger Jugend im selben Jargon wie die in den angesagten Berliner Clubs. Der französische Philosoph Francois Jullien hält solch eine Übersetzungsarbeit für verfehlt, er meint sogar, selbst gediegenes „Übersetzen reicht nicht…Man muß versuchen, ‚chinesisch zu werden‘ und gleichzeitig dagegen angehen, um die Texte auf ihre Aussage hin untersuchen zu können, und darüber hinaus auch auf das hin, was sie nicht sagen“. Nun sind jedoch viele Texte der „Narben-Literatur“ von den Autoren bereits auf einen Erfolg in ihrem Exilland hin geschrieben, so daß hierbei eigentlich nur die große Anzahl, die zudem über dieses „Genre“ hinausgeht, eine gewisse „chinesische Kohärenz“ erlaubt.

Wenn hier unten Afrika ist, dann muß doch da oben rechts China sein…

Ich habe mich hier auf die Stellen in der chinesischen „Narben-Literatur“ konzentriert, in denen die Autoren auf die Bauern und ihre landwirtschaftliche Tätigkeit zu sprechen kommen. Beginnend mit einigen  Zitaten von Jia Pingwa. Dieser Schriftsteller ist in gewisser Weise untypisch: Er wurde 1952 in einem dorf namens Dihua geboren, nachdem er 1967 die Hochschulreife erworben hatte, kehrte er in sein Heimatdorf zurück und wurde zunächst „ein echter Bauer“, wie er das nennt. Die Bauern zählten ihn jedoch fortan zur „gebildeten Jugend“. Er wurde Mitglied des Dorfes Dongjie der Brigade Dihua in der Volkskommune Dihua. Als man ihn auf die Baustelle eines Staudamms versetzte, war er dort für die Herausgabe einer Kampfzeitung verantwortlich, die er mit eigenen Gedichten füllte. Damit begann seine Karriere als Schriftsteller. „Während der langen Jahre, in denen die Literatur der gebildeten Jugend“ – die Narbenliteratur – „Mode wurde“, hat er jedoch „kein einziges Wort dazu beigetragen“, wie er schreibt. Denn „zur gebildeten Jugend rechnet man meistens solche Kinder, die in der Stadt lebten, ein mehr oder weniger als reich zu bezeichnendes Leben führten und plötzlich in Begleitung von Trommel- und Gong-Musik aufs Land geschickt wurden, um Bauern zu werden. Meine Heimat war auf dem Land. Ich kam nicht aufs Land, um Bauer zu werden, sondern ich war von Anfang an Bauer. Ich habe viele Romane der gebildeten Jugend gelesen. Jene städtischen Kinder mußten das Elternhaus und das gemütliche Leben verlassen, um auf dem Land manches zu erleiden, so hatten sie viel zu fluchen und zu klagen. Ihr Schicksal rührte auch mich zu Tränen. Nach der Lektüre dachte ich aber oft: Wenn sie nicht verdienten, aufs Land geschickt zu werden, hätten wir dann  verdient, auf dem Land geboren zu werden? Es ist wie mit den Kacheln: Manche werden auf die Wand in der  Küche geklebt und manche ins  Badezimmer. Wenn Küchenkachel im Badezimmer verlegt werden, schreien sie laut vor Kummer, so daß Himmel und Erde erschüttert sind. Wie können sie dann noch die Badezimmerkacheln wimmern hören? Wie hatte ich die gebildete Jugend damals bewundert! Sie kamen mit Trommel- und Gongschlägen, wurden aufs Land geführt, übernahmen im Dorf die wichtigsten und leichtesten Arbeiten – zum Beispiel als Barfuß-Ärzte, Lehrervertretung, Traktorfahrer, Buchhalter oder Mitarbeiter der Kulturpropaganda. Sie hatten geregelte, überdurchschnittliche Lebensmittelrationen, durften regelmäßig in die Stadt fahren, um mit Radios, Taschenlampen, Tigerbalsam, Keksen und Bonbons zurückzukommen. Sie trugen Soldatenhosen, hatten am Hals einen Mundschutz hängen, besaßen Strümpfe aus Nylon und Hosengürtel aus Segeltuch. Sie waren Objekte der Begierden der schönsten Mädchen im Dorf. Die Mädchen wählten immer zuerst sie, erst dann waren wir an der Reihe.“

Auf diese Beschreibung der Rolle der gebildeten Jugend in den Dörfern paßt der französische Roman „Balzac und die kleine chinesischen Schneiderin“ von Dai Sijie, der sich durch eine große – nachträgliche – Bauernverachtung auszeichnet. Der Autor, geboren 1953, wurde 1971 zusammen mit seinem Freund Luo zur Umerziehung in ein abgelegenes Bergdorf geschickt, 100 Kilometer von der nächsten Kreisstadt Yong Jing entfernt. Im Dorf gab es  bereits einen  anderen gebildeten Jugendlichen, Brillenschang: „Wir bildeten sozusagen eine Dreierbande“. Dai Sijie hatte seine Geige dabei, die der tölpelhafte und zudem paranoische Dorfvorsteher sogleich konfiszieren und verbrennen wollte, weil er nicht wußte, was das ist. Als er erfährt, dass es sich dabei um ein Musikinstrument handelt und dass Dai Sijie darauf u.a. Mozart spielen kann, fragt er wütend „Mozart was?“ „Mozart ist mit seinen Gedanken immer beim Großen Vorsitzenden Mao,“ erklärt Luo sofort. „Die Gesichtszüge des Dorfvorstehers entspannten sich“ und der Icherzähler fängt an zu spielen: „Die eben noch harten Gesichter der Bauern weichten bei Mozarts klarem Jubel auf wie die vom Regen durchnäßte Erde…Das war unser erster Umerziehungstag. Luo war 18 und ich 17.“ Und die beiden machten sich auch fortan eher über die Bauern lustig, als von ihnen zu lernen. „Im Dorf hatte es bis dahin weder Wecker noch Uhr gegeben“, deswegen übte der Wecker, den Luo von zu Hause mitgebracht hatte, bald „eine fast religiöse Anziehungskraft auf die Dorfbewohner aus“. Die beiden gebildeten Jugendlichen waren in einem abseits gelegenen Pfahlhaus untergebracht, jeden Morgen kam der Dorfvorsteher zu ihnen, „er ließ den Wecker nicht aus den Augen. Punkt neun Uhr stieß er einen schrillen, langgezogenen Pfiff aus: das Zeichen für jedermann, daß es Zeit war, aufs Feld zu gehen“. Einmal drehte Luo den Uhrzeiger eine Stunde zurück, um länger schlafen zu können: es funktionierte. Danach änderten sie „das morgendliche Wecken je nach Lust und Laune und körperlicher Verfassung. Manchmal stellten wir den Wecker auch eine oder zwei Stunden vor, um früher Feierabend machen zu können. Was dazu führte, daß wir schließlich nicht mehr wußten, wie spät es wirklich war, und jegliches Zeitgefühl verloren“. Anfangs mußten sie Scheiße in Holzeimern auf die Felder in den Bergen tragen, dann beschloß der Ortsvorsteher, auch noch ihre Intelligenz zu nutzen: Er schickte sie zu den monatlichen Filmvorführungen in der Kreisstadt, anschließend mußten sie den Dorfbewohnern den Film nacherzählen. Der Autor entwickelte dabei im Laufe der Zeit sein Erzähltalent, vor allem beim Zusammensein mit einer kleinen Schneiderin, die sich als besonders kritische Zuhörerin erwies. Als nächstes läßt er sich von einem alten Sänger unzüchtige Lieder der Bergbevölkerung vortragen, die er Brillenschang übergibt, der sie zu parteikonformen umdichtet, um sie in einer Literaturzeitschrift als Beispiel unverfälschter revolutionärer Volksromantik zu veröffentlichen. Das gelingt ihm auch. Und wenig später besorgt ihm seine Mutter schon eine Anstellung als Redakteur in jener Zeitschrift.

Ich schaffe zwei in der Stunde.

Der Autor schreibt: „Um mit großem Pomp das Ende seiner Umerziehung zu feiern, bereiteten der Brillenschang und seine strickende-dichtende Mutter ein großes Festmahl für die Dorfbevölkerung vor, das am Tag vor ihrer Abreise stattfinden sollte“. Dai Sijie muß sich dagegen weiter von den Bauern umerziehen lassen. Erst einmal bekommt er jedoch eine Abreibung von einer Gruppe Dorfjugendlicher, die wegen seines Verhältnisses mit der schönen Schneiderin eifersüchtig auf ihn sind. Und dann wird die Schneiderin schwanger – von Luo, und der Autor organisiert im Kreiskrankenhaus eine Abtreibung für sie. Als er sie anschließend wiedersieht, hat sie sich verändert: ihre Zöpfe hat sie abgeschnitten und sich einen Mao-Rock genäht, außerdem trägt sie statt ihrer rosafarbenen Pantöffelchen weiße Tennisschuhe: Die Filmerzählungen und die Vorlesungen einiger Bücher von Balzac und Flaubert  haben das „etwas linkische Bauernmädchen“ verändert, umerzogen – sie geht in die Stadt!

Während der Kulturrevolution gerieten mehr Mädchen als Jungen in Bewegung – und dementsprechend viele haben anschließend auch über diese Zeit geschrieben. Erwähnt sei  Anchee Min, deren Roman „Rote Azalee“ aus dem Amerikanischen übersetzt wurde. Die 1957 in Shanghai geborene Schriftstellerin wurde Anfang der Siebzigerjahre „Führerin der Roten Garde“ an ihrer Schule, während man ihre Eltern als „bürgerliche Intellektuelle“ drangsalierte und degradierte. Auch Angee Min wurde schließlich einer „Kategorie“ zugeordnet, „die Bauern werden sollten“. Am 15.April 1974 brachte ihre Familie sie zum Platz des Volkes, wo zehn riesige Lastwagen standen, mit roten Fahnen an der Seite, auf denen man mit goldenen Schriftzeichen „Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Rotes Feuer“ geschrieben hatte. Um beim Abschied nicht zu weinen, sangen die Jugendlichen ein revolutionäres Lied. Anchee Min wurde am nächsten Tag zur Arbeit auf den Reisfeldern eingeteilt. Danach mußte ihr Zug einen Bewässerungsgraben ausheben, die Autorin orientierte sich an der Bestarbeiterin und Parteisekretärin Yan: Um sie zu beeindrucken, „ergriff ich jeden Abend bei den Versammlungen, in denen Geständnisse abgelegt und Selbstkritik geübt wurde, das Wort“. Yan machte sie wegen ihres Eifers auf den Reisfeldern zur „Führerin des 4.Zuges“ und wies Anchee Min ein Bett in ihrem Zimmer zu. Statt mit Bauern arbeiteten sie vor allem mit Soldaten zusammen, die ebenfalls zur Landarbeit abkommandiert worden waren. Yan haßte die Männer, sie verliebte sich in Anchee Min, bald schliefen die beiden zusammen in einem Bett. Und langsam verloren sie das Bild der „strahlenden Zukunft“ aus den Augen, das die Partei für sie gezeichnet hatte. Dafür fühlten sie sich fortan von zwei Genossinnen bespitzelt. Eines Tages bekommt Anchee Min den Befehl, sich beim Shanghaier Filmstudio zu melden, um zur Schauspielerin ausgebildet zu werden. Dort wird sie mit weiteren Intrigen konfrontiert. Der Film, in dem sie eine junge revolutionäre Bäuerin spielen soll, ist ein Projekt von Jiang Ching, der Ehefrau Mao Tse Tungs. Mit deren Verhaftung 1976 werden die Dreharbeiten abgebrochen und Anchee Min soll wieder zurück in die Volkskommune. Einem Kollegen gelingt es, den Befehl rückgängig zu machen: Sie darf die nächsten sechs Jahre weiter im Filmstudio arbeiten – als Script-Girl und Putzfrau. Wegen ihrer Nähe zur Viererbande ist sie politisch ins Abseits geraten, das macht sie mutlos und krank. 1984 gelingt ihr die Auswanderung nach Amerika.

Die Beamtin Jiao Yang lernte als junges Mädchen Tanzen, sie wurde von Jiang Ching entdeckt und bekam die Hauptrolle in der Pekingoper „Das Mädchen mit den weißen Haaren“. Als sie 17 wurde schickte man ihre Klasse zur Feldarbeit aufs Land. Die Mütter begleiteten ihre Töchter ins Dorf: „Um mich herum wurde herzzerreißend geweint. Ich war dagegen froh, allein zu sein,“ erzählte sie den beiden Autoren Xiao Hui Wang und Monika Endres, die Jiao Yang 1999 interviewten. Jiao Yang trat im Dorf sogar den „Eisenmädchen“ bei – eine Brigade, „die für die besonders harten Arbeiten herangezogen wurden“ und die außer ihr – der Rotgardistin aus der Stadt – nur aus Bauernmädchen bestand. Um fünf Uhr wurden sie geweckt und marschierten aufs Feld. „Wir schliefen im Freien…Die Erntearbeit war ein Wettlauf mit der Zeit… Pflüge gab es nicht, deshalb mußten wir die Erde nach der Ernte von Hand umgraben…Am beschwerlichsten war es, wenn man seine Tage hatte…Doch keines der Mädchen ließ sich etwas anmerken, die Revolution ging vor…Mein einziges Ziel war, Mitglied der Partei zu werden, das gab mir wahrscheinlich den eisernen Willen, durchzuhalten…Entlohnt wurden wir mit Getreide und elf Juan monatlich, die eigentlich nur symbolischen Wert hatten…Aber jeder konnte sich satt essen. Das Leben war einfach. Jeder besaß gleich viel…Mit der Zeit fühlte ich mich dem Dorfleben immer mehr verwurzelt“.

Endlich Parteimitglied geworden, schlägt sie sogar ein Arbeitsplatzangebot der Kreisstadtverwaltung aus. Neben der Arbeit auf dem Feld schreibt sie noch Artikel fürs Radio und für Zeitungen – z.B ein Porträt über eine „vorbildliche Bäuerin“. Man war mit ihr als Autorin sehr zufrieden, deswegen trat irgendwann das ein, „was meine Bauernmädchen mir bereits prophezeit hatten“: Jiao Yang wurde Redakteurin  in der Stadt – und studierte dann Journalistik, wobei sie sich in einen Studenten verliebte, „der kein Maoanhänger war“. Die beiden heirateten trotzdem, heute ist ihr Mann Vorstandsvorsitzender einer amerikanisch-chinesischen Möbelfirma. Rückblickend meint Jiao Yang: „Ich möchte diese wichtigen Jahres des Aufbaus nicht missen“.

Das hier ist echte chinesische Handarbeit. Lassen sie sich nicht durch den Stempel „Made in Italy“ irreführen.

Einen ähnlichen Ehrgeiz bei der Landarbeit entwickelte auch die 1957 geborenen Schriftstellerin Wang Ping. Sie ging 1985 nach Amerika, wo sie dann ihre Lebensgeschichte auf Englisch veröffentlichte. 1975 lebte sie in der Volkskommune Ma Ao, wo man sie zur „vorbildlich erzogenen gebildeten Jugendlichen des Jahres“ ernannte: „Ich zog von Schule zu Schule, um über meine Arbeit auf dem Land Vorträge zu halten“. Anschließend bekam sie eine Empfehlung von der Volkskommune und durfte am Lehrerseminar von Hangzhou studieren. Sie hatte sich freiwillig für das „Umerziehungsprogramm durch Bauern  in Ma Ao“ angemeldet. Ihre Mutter stöhnte „Bist du von allen guten Geistern verlassen?!“ Aber der einzige Weg, um von ihrem Geburtsort, einer Insel, wegzukommen, führte durch die Universität und der einzige Weg, an die Uni zu gelangen, „bestand darin, zuerst Bäuerin zu werden“. In Ma Ao verbrachte sie täglich 18 Stunden auf den Feldern: „Wir schnitten und pflanzten Reis“. Wang Ping wird schnell Führerin der Jugend-Stoßbrigade, sie stand eine Stunde früher als die Bauern auf, um die Keimlinge zum Pflanzen herauszuziehen. „Und dann veröffentlichte ich alle drei Tage die letzten Neuigkeiten auf der Wandzeitung…Obwohl ich nicht wußte, warum. Die meisten Bauern waren Analphabeten. Doch ihnen gefielen meine Schriftzeichen sowie die Zeichnungen, und das war tröstlich…Vielleicht wollte ich auch den Führern der Volkskommune gefallen? Die Sekretärin des Jugendverbandes lobte mich. Ich lernte alles über Landwirtschaft: Pflanzen, Jäten, Pflügen, Ernten. Das einzige was ich nicht ordentlich lernen konnte, war barfuß zu laufen. Meine Fußsohlen waren zu empfindlich…Von aller Landarbeit mochte ich das Reispflanzen am liebsten. Es war befriedigend, sich umzuschauen und die sechs geraden Reihen von Setzlingen zu sehen, die man gerade gepflanzt hatte. Innerhalb von zwei Wochen hatte ich nicht nur das Pflanzen gelernt, sondern auch den besten Bauern des Dorfes in einem Wettbewerb geschlagen“.

Am Anfang machten ihr noch die vielen Blutegel zu schaffen, die sich an ihren Waden und Handgelenken festsaugten. Sie zeigt aber keine Schwächen und strengt sich vor allem deswegen so an, weil sie lieber heute als morgen zum Studium zugelassen werden möchte. Sogar während sie als vorbildlich erzogene gebildete Jugendliche in den Schulen Vorträge hielt, war sie auf die Felder gegangen „und hatte das Schweigen und die bösen Blicke der Bauern ertragen“. In Ma Ao hatte man sich die Modellkommune Dazhai zum Vorbild genommen und angefangen, Hügel abzutragen, Gräben zu füllen, Terrassenfelder anzulegen und Flüsse zu begradigen. „Es war anstrengend und offensichtlich vertane Arbeit. Die Bauern fluchten, wann immer der Dorfvorstand nicht in der Nähe war, doch ich begrüßte die Tätigkeit. Das mechanische Graben betäubte irgendwie meinen Schmerz“. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie einen „aus den verfluchten Klassen der Landbesitzer, reichen Bauern und Nichtstuer“ denunziert hatte. Jetzt traute sie sich nicht, irgendwelche Bauern im Dorf zu besuchen und mit ihnen zu essen. Alleine wärmte sie sich abends in ihrem Zimmer den übriggebliebenen Gemüsereis auf und fütterte dann ihre Ente und ihr Huhn. Und dann kam eines abends auch noch ihr Parteisekretär und verlangte Zärtlichkeiten von ihr: „Laß mich gehen, Onkel Ma, ich bin erst 16, zu jung, zu dünn, zu häßlich. Meine Mutter wird dir alles geben, was du willst – eine Uhr, Wollsachen, Zigaretten, Zucker…Laß mich gehen“, schreit sie. Schließlich läßt der Parteisekretär von ihr ab und entschuldigt sich  – später setzt er sich sogar für sie ein: „Die Bauern und meine beste Freundin Su Feng begannen wieder, freundlich zu mir zu sein“. Noch später – in Peking – lernt sie einige ausländische Dozenten kennen und in einen verliebt sie sich. Er verhilft ihr 1985 zu einem Stipendium in den USA.

Da ist neulich der halbe Berg runter gekommen, es wurde aber niemand verletzt.

Umgekehrt hatte es die 1953 in Montreal geborene Maoistin Jan Wong 1972 nach China gezogen, wo sie sich Maos Idee zu Herzen nahm, „daß körperliche Arbeit gut für die Seele sei“. Zunächst bekam sie jedoch als eine der ersten Auslandschinesen einen Studienplatz an der Pekinger Universität: „Man konnte mit mir nicht viel falsch machen, ich war eine eingefleischte, total bescheuerte Maoistin“, schreibt sie. Bald durfte sie ein Praktikum in der Pekinger Maschinenfabrik Nummer Eins absolvieren. Hier lernte sie, mit einem Druckluftschleifer zu arbeiten und war erstaunt darüber, „wie abgestumpft die Arbeiter waren“.  Im Jahr darauf half sie den Sommer über bei der Weizenernte einer Volkskommune. Während ihre Klassenkameradinnen mit Sicheln das Getreide schnitten, durfte sie als Linkshänderin die Ähren mit selbstgeflochtenen Seilen  zusammenbinden. Da sie keinen Strohhut trug, fiel sie – ebenso wie fünf andere Mädchen – nach einiger Zeit infolge der Hitze und der Erschöpfung in Ohnmacht. Einen Monat später trat sie bereits die Rückreise nach Kanada an, zuvor hatte sie noch zwei Leute, die sie mit „konterrevolutionären Gedanken“ überschüttet hatten, bei ihrer Lehrerin denunziert. 1988 kehrte sie als China-Korrespondentin einer kanadischen Zeitung und als geläuterte Antimaoistin nach Peking zurück. Ihre erste Reportage machte sie auf dem Land – in einem abgelegenen Dorf namens Gaobei, wo sie die marktwirtschaftlichen Fortschritte der „Ich-Generation“ bewundert und das noch immer ungelöste „Toilettenproblem“ beklagt. Obwohl die „Mao-Generation“ gescheitert ist, bedauert sie es rückblickend jedoch keinen Augenblick, „daß ich die besten Jahre meines Lebens in China verbracht habe“. Es war aber nur ein Jahr gewesen! „Es tut mir auch nicht leid, daß ich Gruben ausgehoben, Zement gemischt und Reis geerntet habe“ – war es nicht Weizen gewesen?

Die Schriftstellerin Ting-xing Ye wurde 1952 in Shanghai geboren, während der  Kulturrevolution verschlug es sie als „Kapitalistenkind“ auf eine Gefängnisfarm.  Nach ihrer Rehabilitation studierte sie Englisch und wurde   Regierungsdolmetscherin. 1987 emigrierte sie nach Kanada, ihre Memoiren schrieb sie auf dem Englisch. Bereits als 14jährige wurde sie als Erntehelferin das erste Mal aufs Land verschickt – in die Provinz Songjiang zur Brigade Oststadt, wo die Schülerinnen der Produktionsgruppe 2 zugeteilt wurden. Es gab nicht viel zu tun: Sie sollten gebündelte Rübsamenstengel zum Dreschplatz schaffen. „Die Bauern wiesen uns an, immer nur ein Bündel zu tragen“. Da diese jedoch sehr leicht waren, ignorierten die Mädchen ihren Rat. Als der Wind die Bündel erfaßte, verloren sie ihr Gleichgewicht und fielen um: überall lagen Rübsamen. „Einige Dorfbewohner hielten mit ihrer Einstellung zu der ganzen Aktion nicht hinterm Berg und nannten unsere edle Mission ‚eine Kerze für einen Blinden anzünden‘. Aber ein paar Bauern fanden schließlich doch Gefallen an unserem Aufenthalt. Sie fragten, ob sie sich abends während des Englischunterrichts, der auch auf dem Land weiter ging, hinter die Schülerinnen setzen durften. Jetzt war es an den Mädchen, sich ein bißchen über die Bauern lustig zu machen, denn diese hatten schon Schwierigkeiten mit dem Chinesischen: „Die englischen Worte, die an der Tafel standen, bezeichneten sie als ‚Kaulquappen‘.“ Als die Schüler nach zwei Wochen wieder zur Schule zurückkehrten, empfing sie der Direktor. in seiner Rede sagte er: „Die körperliche Leistung eurer harten Arbeit ist nicht annähernd so wichtig wie eure geistige Vervollkommnung durch das Zusammenleben mit den Bauern, die die besten Lehrer des Lebens sind“.

Dann begann die Kulturrevolution: „Setzt den Unterricht aus, um Revolution zu machen“, so lautete die erste Wandzeitung, die Ting-xing Ye sah. Schon bald forderten die Roten Garden: „Revolution rund um die Uhr“.

Das Schiff, das sie dann 1968 zur Gefängnisfarm Da Feng, Große Ernte, brachte, war voll mit „unglücklichen Jugendlichen“. Dort angekommen erklärte ihnen der Assistent des Führers der Ersten Brigade der Unterabteilung Xi Min die Anbauprobleme bei den verschiedenen Feldfrüchten. Ting-xing Ye verstand so gut wie nichts;: „Ich kam aus der Stadt. Für mich war eine Feldfrucht wie die andere. Doch schon bald sollte ich auf einem harten Weg lernen, daß ich mich irrte…Als erstes lernte ich, Baumwolle zu pflücken“ – die Nachernte. Anschließend mußten die Jugendlichen die Baumwollpflanzen aus dem Boden reißen, weil dort im nächsten Jahr Reis angepflanzt werden sollte. Im Frühjahr wurde dann Gründüngung auf die Felder gebracht: „Jeder bekam eine Tagesquote vorgeschrieben, die stieg, als das Wetter wärmer wurde. Doch so sehr ich mich auch abmühte…ich schaffte es nicht, daß mein Namen von der ‚Versagerliste‘ verschwand, die jeden Tag mit einem roten Minuszeichen in der Kantine ausgehängt wurde“. Schließlich nahm sich die Gruppenführerin Ting-xing Ye an: zusammen erfüllten sie das Soll. Dafür wuchsen die Spannungen zwischen den Grünpflanzen sammelnden Schülern und den Dung auf die Felder tragenden Gefangenen, die dann auch noch für das Pflügen zuständig waren, also die schwerere Arbeit leisten mußten. Als Kompromiß sollten beide Gruppen schließlich die selben Arbeitszeiten und das gleiche Arbeitspensum einhalten. Dennoch blieben die Gefangenen unzufrieden. Eines Tages lieferten sie verfaulten Fisch an die Kantine, den dann nur die Jugendlichen aßen. Fast alle wurden davon krank, die Autorin mußte sogar ins Krankenhaus gebracht werden. Als sie im Herbst wieder zurück auf die Farm kam, wurde sie bei der Reisernte eingesetzt: „Wir waren ganz aufgeregt, weil wir wußten, daß jede einzelne Pflanze durch unsere Hände gegangen war, vom behutsamen Auszupfen der Setzlinge aus dem Saatbeet über das Pflanzen in geraden Reihen bis hin zum endlosen Jäten und Düngen. Jetzt sollte der Reis von Hand mit der Sichel geschnitten werden. Das Wasser war aus den Feldern abgelassen und die Ernte konnte beginnen“. Anschließend ging es ans Dreschen. Da die Gefängnisfarm inzwischen von der Luftwaffe übernommen worden war, wurde die Arbeit immer militärischer, schließlich zwang man die Autorin, die in Verdacht geraten war, an einer „konterrevolutionären Verschwörung“ beteiligt gewesen zu sein, einige der zivilen Kader zu denunzieren:  „Zu meiner immerwährenden Schande füllte ich zwei Seiten mit Unwahrheiten und Übertreibungen“. Der Säuberungsaktion fiel schließlich auch ihre Freundschaft mit der Gruppenführerin zum Opfer. 1973 bekam die Gefängnisfarm wieder eine zivile Verwaltung, der neue Leiter ernannte Ting-xing Ye zur „älteren Schwester“ einer Gruppe von 17jährigen, die neu eingetroffen waren: „Daß ich nun meine fünfjährige landwirtschaftliche Erfahrung nutzen konnte, um ihnen zu helfen, tat mir gut“. Im Sommer 1974 kann sie endlich die Farm verlassen, um in Peking ihr Englischstudium aufzunehmen. Ihr kanadischer Dozent hilft ihr später, ein Stipendium in Toronto zu bekommen, wo die beiden heiraten. 1994 kehrte sie noch einmal, als kanadische Staatsbürgerin, nach China zurück.
Die 1960 in Peking geborene Lulu Wang schrieb in ihren Jugenderinnerungen, die sie 1997 in Holland veröffentlichte, wohin sie 1986 als Chinesischlehrerin gegangen war: „Als ich 16 wurde, war die Kulturrevolution aus der Welt geschafft…Meine Cousins und Cousinen, die Mao als Rotgardisten in die unwirtlichen Gebiete Nordchinas geschickt hatte, kehrten einer nach dem anderen nach Peking zurück. Die fanatischen Revolutionäre hatten sich in desillusionierte, hoffnungslose und abgestumpfte Wesen verwandelt. Sie lebten wie versteinert, ohne irgend etwas für sich oder andere zu empfinden“. Sie selbst war zusammen mit ihrer Mutter in ein Umerziehungslager der Universität – „Kaderschulen 7. Mai“ genannt – gekommen. Dort befanden sich noch viele andere Wissenschaftler, die – zur Landarbeit verdammt – darum wetteiferten, in ihrer Freizeit das kleine Mädchen zu unterrichten. Einer, der Historiker Quin, nahm sie mit auf seine Arbeitsstelle – in die Mühle. Dort mußten die beiden Mehlsäcke füllen und diese in einer Ecke aufstapeln: „Schon bald waren sie völlig außer Atem und naß geschwitzt…Es war erst halb zwei. Mußte sie das nun tagsaus tagein tun? Das würde sie nie duchhalten. Aber sie hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn der sich schnell füllende Sack an der Röhre hielt Geist und Körper in Trab“. In den Pausen brachte Quin ihr historisches Denken bei. Manchmal ging Lulu Wang auch in den Schweinestall. Dort arbeitete der Biologe Rui als Mäster. Ihre Mutter arbeitete auf den Reisfeldern. Nach einem Jahr darf sie mit der Tochter nach Peking zurückkehren, inzwischen haben sie sich an das Arbeitslager gewöhnt, so daß beide beim Abschied weinen, Lulu Wang wundert sich über die herzzerreißenden Schreie ihrer Mutter, als der Traktorist die beiden abholen kommt: Sie benahm sich so „schamlos unelegant wie eine Bäuerin, die ihre einzige Milchkuh sterben sieht“.

Die Tochter beruhigt sich schnell: „Ihr Blick schweifte über die Felder mit Gemüse und Getreide und die gebräunten Rücken der Bauern, die Unkraut jäteten“. In Peking  besuchte die Autorin wieder eine normale Schule, allerdings sah sie nun nach dem hochqualifizierten Privatunterricht im Kult um die Mao-tse-tung-Ideen angeblich nur noch Heuchelei. Ihren Vater hatte man in die Provinz Yunan verschickt: „Dort muß er Bauern beibringen, wie man ‚Beschreiter des kapitalistischen Weges‘ erkennt und sie ausrottet“, hatte ihr die Mutter erklärt, die kurz darauf erneut zur Arbeit aufs Land abkommandiert wird. Diesmal bringt sie ihre Tochter bei den Großeltern in der Kleinstadt Quindao unter, wo sie weiter zur Schule geht. Ende 1973 schickt man  ihre Klasse zu einem einomonatigen Praktikum in die Volkskommune „Fünf Rote Sterne“. Die Englischlehrerin erklärt den Schülern: „Der Parteivorsitzende Mao sagt: ‚Lernt von den Bauern‘. Bei den Bauern erstrahlen die schönsten Eigenschaften des Proletariats“. Die Schüler werden bei den Bauern einquartiert. Lulu Wang sieht, „wie einige Klassenkameraden nach dem Anklopfen von der Bäuerin und ihren Kindern hineingeschleppt und mit rauher, aber rührender Gastfreundschaft überschüttet wurden. Verglichen mit diesen Landbewohnern hatten sie, die Städter, Froschblut in den Adern“. Sie selbst wird zusammen mit ihrer Lehrerin jedoch enttäuschenderweise von der reichsten Familie des Dorfes, die in einem großen Steinhaus  lebt, aufgenommen. Die Hausherrin bewirtet ihre Gäste großzügig und traktiert sie ansonsten mit ihren reaktionären Ansichten. Als die Lehrerin Mao zitiert „Je dunkler die Haut, desto revolutionärer das Herz!“ lacht sie los: „das ist ein guter Witz! Was die hohen Herren behaupten, begreifen wir einfachen Leute nicht, aber eins ist gewißt: ‚Kein Mensch in den Dörfern möchte eine dunkle Haut haben!“ Sie selbst ist sehr weiß und ihre Haut „auffallend glatt“, wie die Autorin bemerkt. Am nächsten Morgen helfen die Mädchen bei der Maisernte. Lulu Wang schämt sich, weil sie so langsam ist, ihre Freundin Kim ist schon nach kurzer Zeit eine ganze Reihe weiter als sie, als Kim dies ebenfalls bemerkt, kommt sie rüber und hilft ihr. Außer kim hätte das keiner riskiert, meint die Autorin, ihre „heldenhafte Geste wurde nicht nur von den Schülern bestaunt, sondern auch von den Bäuerinnen. Wenn ein junger Bursche einer jungen Frau bei der Feldarbeit half, wurde das als  Liebeserklärung angesehen. Galt das auch für ein Stadtkind? Beim Abendessen bekamen sie über die Lautsprecher der Radiostation eine Lobeyhymne auf Kim zu hören, die Wanquan, der Parteisekretär ihrer Klasse, verfaßt hatte“. Nach und nach erfährt sie, dass ihre Gastgeberin auch nur eine einfache Bäuerin ist, in ihrer Jugend war sie jedoch das schönste Mädchen der Volkskommune gewesen, die alle heiraten wollten.

Sie entschied sich dann jedoch für einen Bauarbeiter, der in der Stadt lebte und arbeitete und dort bares Geld verdient – die Bauern bekamen fast nur Deputate. Nach der Hochzeit war ihr Mann wieder in die Stadt zurückgekehrt, er überwies seiner Frau jedoch monatlich fünf Kuai: „ein Vermögen, das selbst Taubstumme zum Singen gebracht hätte,“ wie die Autorin schreibt, die allabendlich mit ihrer Freundin Kim, die nach wie vor „Bestleistungen erbringt,  an den Maisfeldern spazierengeht und sich über den stolz freut, mit der ihr Kim „die beste Methode dieser oder jener Feldarbeit noch einmal erklärt“. Als es regnet, hält die  Klasse Selbstkritikveranstaltungen im Steinhaus ab, z.B. kritisieren die Mädchen sich als „bürgerliche Zicken“, weil sie sich nach einer Haarwäsche sehnen anstatt wie die Bauern nur im Sommer sich zu waschen, denn Mao lehre ja, „dass Schmutz am Körper Sauberkeit im Kopf“ bedeute. Ihre Gastgeberin, die mit am Tisch saß und die Socken ihrer Kinder stopfte, betrachtete dagegen „die heldenhafte proletarische Selbstanklage eher als Kritik an ihrer Haushaltsführung“ und entschuldigt sich, dass sie den Mädchen kein Badewasser heiß gemacht hat, mit dem Eingeständnis: „Wir Dörfler machen uns nichts aus Hygiene“. Lulu Wang kommt zu dem Schluß: „Der Unterschied zwischen Bauern und Städtern war unerträglich, vor allem, wenn die Bauern auch noch meinten, sich dafür entschuldigen zu müssen“.  Ein Klassenkamerad hatte die Hausherrin mitfühlend gefragt, ob sie es nicht schlimm fände, ihren Mann so selten zu sehen, woraufhin sie ihm geantwortet hatte: „Erkundigen Sie sich doch mal im Dorf. Wenn sie auch nur eine Person finden, die unsere Familie nicht tief bis in ihre Eingeweide beneidet, dann laß ich meinen Kopf wie einen Blumenkohl über den Weg rollen“. Die Eltern von Lulu Wang kehrten 1974 nach Peking zurück: Während der Aufenthalt auf dem Land bei ihrer Mutter einen Widerwillen gegen jede Form von Ungleichheit erzeugt hatte, „hatte der Aufenthalt in der Wüste die Vorliebe ihres Vaters für Klassenunterschied offenbar noch verstärkt“.

Lulu Wangs Lehrerin machte das Beste aus ihrer Landverschickung, indem sie sich jedesmal im komfortabelsten Haus des Dorfes einquartierte. Es gab jedoch auch einige wenige Lehrer, die sich dem ganzen verweigerten. Claudie und Jacques Broyelle sowie Eveline Tschirhat, die von 1972 bis 1975 in Peking am Fremdspracheninstitut unterrichteten erwähnen in ihrem „Bericht aus dem chinesischen Alltag“ so einen Fall: „ein Lehrer eines Spracheninstituts weigerte sich, aufs Land zu gehen: ‚Man kann noch so viel Druck auf mich ausüben, ich gehe nicht!‘ erklärte er. Die Leitung stufte diese Angelegenheit als so gewichtig ein, daß sie eine anklagesitzung gegen ihn einberief. ‚Es ist ein Zeitverlust,‘ erklärte der Lehrer. ‚Man lernt nichts. Was die Umerziehung betrifft, so hat man sehr wenig Kontakt zu den Bauern. Man muß ihnen Zigaretten geben, um mit ihnen diskutieren zu können“.

Und das soll nun eines dieser seltenen chinesischen Zwerghirsche sein? Der sieht ja genauso aus wie die  Bambis bei uns.

Jan Myrdal, ein geharnischter Maoist aus Schweden, der später die drei eben erwähnten, in China desillusionierten Autoren als französische Modelinke abtat, hat dagegen in seinem zweiten „Bericht  aus einem chinesischen Dorf“ namens Liu Ling eine ganz andere Beobachtung  gemacht – ebenfalls im Jahr 1974: „Früher war es im Dorf still und leise gewesen“, meint er, aber jetzt werde abends gesungen und gelacht: „Das waren die Jugendlichen aus Peking und Sian, die zur Umerziehung dort waren. Auch Liu Ling selber veränderte sich durch ihre Anwesenheit…Insgesamt waren es 18 junge Leute. Sie machten sich in Liu Ling nützlich. Unter Anleitung des Agronomen war es ihnen geglückt, die erste Baumwollernte in dieser Gegend hervorzubringen“. Es waren großenteils Landwirtschaftsstudenten. Der Parteisekretär der Volkskommune erklärte dazu Jan Myrdal: Sie brauchten eine Weile, bis sie einsahen, daß sie ihre Theorien nicht direkt aus dem Klassenraum auf die Praxis übertragen konnten, „daß sie sich erst in das Volk eingliedern und die Praxis der Arbeit kennenlernen mußten, ehe ihre Theorien etwas wert waren. Trotzdem waren sie nicht schlecht“. Über die Schüler im Dorf weiß ein anderer Kommunekader zu berichten: „Anfänglich fiel es vielen Stadtjugendlichen schwer, die Exkremente aus den städtischen Latrinen zu holen…Sie hatten ganz einfach Angst vor Scheiße…Nun nach einem Jahr hat sich ihre Einstellung geändert“.

Bereits in seinem ersten „Bericht aus einem chinesischen Dorf“, das in viele Sprachen übersetzt wurde, hatte eine aufs Land verschickte junge Frau namens Ching Chi dem Autor erzählt: „Ich bin Sekretärin am Intourist in Sian und leiste freiwillig 13 Monate ‚körperliche Arbeit‘ in Liu Ling“. Zwar hätte sie früher auf Versammlungen immer gesagt „Die Bauern sind gut“, aber in ihrem Innersten hätte sie gefunden, „daß die Arbeiter und armen Bauern ein ungebildetes und schmieriges Pack wären“. Diese ihre falsche Einstellung hätte sich jedoch grundlegend auf dem Dorf geändert: Sie fühle sich nun bei der Abreise wie in zwei Teile gespalten: „Auf der einen Seite verspürte ich schreckliche Sehnsucht nach meinem Mann, aber auf der anderen Seite war ich furchtbar unglücklich, daß ich Liu Ling nun verlassen mußte. Ich war mit dem Dorf verwachsen und fühlte mich fest mit ihm verbunden“.

Die in Paris lebenden Autoren Xi Xuanwu und Charles Reeve haben 1997 ein Buch mit Interviews chinesischer Intellektueller und Oppositioneller herausgegeben, u.a. mit dem heute im portugiesischen Exil lebenden ehemaligen Rotgardisten Mu Xidi. Er erzählt: Die Kulturrevolution war für ihn – „als ungestümen Jugendlichen – die ersehnte Möglichkeit, alles in die Luft zu jagen, meine Geburtsstadt Amoy zu verlassen und in China herumzuziehen. Solange die Macht uns brauchte, hielten wir uns für unbesiegbar. Das Erwachen war schmerzhaft: das Eingreifen der Armee, die Verbannung fast unserer gesamten Generation auf das Land, das furchtbare Leben in den Dörfern, die Entdeckung der entsetzlichen Lage der Bauern. Zehn Jahre unseres Lebens haben wir damit verschwendet, Urbarmachungsarbeit zu leisten, bei der ich mich heute noch frage, welchen Nutzen das brachte…Ich habe immer gerne den Pinsel geführt (d.h. geschrieben)…Doch sie haben aus mir einen Landarbeiter gemacht, einen Handarbeiter, also habe ich beschlossen, Handarbeiter zu bleiben“. Seinen einstigen intellektuellen Freunde wirft Mu Xidi, der dann Seemann wurde, vor, „daß sie im Grunde zu viel Verachtung für die Bauern besaßen“.

Dies trifft auch auf die 1921 geborene Musikprofessorin Xü Hui Lin zu, die von den bereits erwähnten Autoren Xiao Hui Wang und Monika Endres-Stamm interviewt wurde. Man verdächtige Xü Hui während der Kulturrevolution erneut der Spionage für die Guonmidang, sie wurde überwacht und schließlich zur Umerziehung durch körperliche Arbeit verurteilt: Xü Hui Lin mußte Säcke mit Lederresten schleppen. Diese schwere Arbeit ruinierte zum einen ihren Rücken und zum anderen war sie dort „von lauter primitiven Menschen umgeben, die schmutzige Witze rissen und dauernd sexuelle Anspielungen machten“.

Ähnlich sah auch der 1926 in Shanghai geborene Germanist Zhou Chun seine Verurteilung zu körperlicher Arbeit, die ihn – den Rechtsabweichler – zunächst 1957 in die Setzerei seines Verlages führte. 1988 emigrierte er nach Berlin, wo dann auch seine Erinnerungen erschienen. Über seine Kollegen in der Setzerei – die eine jämmerliche, enge, schmutzige und chaotische Bude war – schreibt er: „Die Menschen waren grob, vulgär und egoistisch. Mit Ausnahme von wenigen älteren Meistern waren die meisten halbe Analphabeten. Mädchen und Jungen aus den Dörfern der Umgebung von Peking…Mein Herz zog sich zusammen. Keine Panik, sondern immer gefaßt und würdig, sagte ich mir. Vielleicht geschah es aus menschlichem Instinkt, sich selbst zu schützen. Diese Haltung habe ich gleich zu Anfang meines Verhängnisses angenommen“ – eine Art „Immunität“. Sein Verhängnis dauerte 22 Jahre – erst 1979 erlangte er seine Freiheit wieder. Nach der Setzerei kam Zhou Chun in ein Arbeitslager auf dem Land. Hier hatten sie nur einen Wunsch: „Regenwetter. Denn dann hieß es: Heute wird nicht auf dem Feld gearbeitet, sondern zu Hause studiert…So verlief das Leben Tag für Tag, Monat für Monat. Dann kam die Kulturrevolution“. Zhou Chun wurde als „Freigelassener“ in die Volkskommune Süd-Liugang verbracht. Dort wurde ihm der Leiter der Produktionsgruppe vorgestellt, der fortan für ihn verantwortlich war. Bevor der Autor ihm noch seine Häftlingsgeschichte erzählen kann, sagt dieser – Onkel Liu genannt – zu ihm: „Da du nun mal hier bist…Wir sind alle Mitglieder einer großen Familie. Wir heißen dich willlkommen. Du bist studiert. Wir haben sehr viel von dir zu lernen. Aber Landarbeit mußt du von uns Bauern lernen“.

Die Feldarbeit war in der Kommune völlig anders als im Arbeitslager: Nach dem Frühstück mußte Onkel Liu jeder Familie persönlich mitteilen, daß es Zeit sei, sich auf den Weg zur Arbeit zu begeben, um dann zu erfahren, daß einer heute Bauchschmerzen hatte und ein anderer zum Schwiegervater mußte, der seinen siebzigsten Geburtstag feierte. Nach einer guten halben Stunde begannen die Mitglieder ohne Hast und Lust zum Feld zu gehen. Ich war meistens der erste, der erschien, konnte aber ohne die Gruppe nicht anfangen“. Da seine Gesundheit angeschlagen war, wurde ihm bald eine leichtere Arbeit zugewiesen: Mit einer Kiepe mußte er Dung auf der Landstraße einsammeln: „Wer hätte gedacht, daß mein erster Beruf als ’neuer Mensch‘ von 1970 bis 1973 Mistsammler auf dem Lande sein sollte!“ Zhou Chun hatte sich zwar „immunisiert“, aber er kommt nicht umhin, die Freundlichkeit und Güte der Bauern zu bemerken. „Auch wenn sie arm waren, waren die Dorfbewohner großzügig. Wenn ich beim Mistsammeln an ihren Häusern vorbeiging, gab mir dieser Onkel ein stück Maisbrot oder eine Süßkartoffel, jene Tante eine Schüssel Brei und ein Stückchen gepökeltes Gemüse. ‚Iß, iß, du armer Mensch,‘ sagten sie. ‚Ein Intellektueller aus einer Großstadt, der sogar die sprachen der fremden Teufel kann, muß mit uns Bauern Armut leiden. Ai-jai-jai!'“ Ständig versuchten sie den Autor mit einer Witwe zu verkuppeln, damit er nicht so alleine leben mußte. Zwar wurde daraus nichts, aber umgekehrt  übergab Zhou Chun seine gesamten Ersparnisse, 1100 Yuan, der Produktionsbrigade. Onkel Liu war darüber böse, weil er der Meinung war, es gehöre seiner Produktionsgruppe, der Zhou Chun zugeteilt war. Von seiner Schwester, die als Dozentin ebenfalls aufs Land verbannt war, erfuhr er brieflich: „Wir wohnen jetzt in einem Dorf und sind fast Bauern geworden. Wir haben einen großen Hund, eine schöne Katze, zwei fette Schweine, sechs Hühner, zwei Enten und zwei Gänse. Eier haben wir mehr als genug. Gemüse auch, und zwar frisch aus unserem kleinen Gemüsegarten. Damit haben wir, auch die Kinder, alle Hände voll zu tun. Unsere Fremdsprachen haben wir fast verlernt. Interessant ist, daß unser Haus zu einem Dorfklub geworden ist. Jeden Abend kommen Männer, Frauen und Kinder zu uns. Wir knacken Sonnenblumenkerne, rauchen selbstgepflanzten Tabak. Das Zimmer ist immer voll Rauch, Stimmen und Gelächter. Wenn aber ein Dorfkader dabei ist, dann ist die Stimmung verdorben. Deswegen bleiben sie auch immer nur kurz.“

Wie Zhou Chun wurde auch der 1933 geborene Schriftsteller Cong Weixi bereits im Zuge der „Anti-Rechts-Kampagne“ 1957 zu körperlicher Arbeit verurteilt und erst Ende der Siebzigerjahre rehabilitiert. Seine Aufzeichnungen darüber, die 1989 in Peking erschienen, erregten großes Aufsehen in China. Sein über 20 Jahre dauerndes Zwangsarbeiterdasein  begann in einem Dorf nahe Peking, das zur Volkskommune Lugu gehörte. „Weisungsgemäß waren wir aufs Land gekommen, um uns ideologisch zu läutern und in Bescheidenheit von den Bauern der Kommune zu lernen. Doch schon bald fragten wir uns verunsichert: in welcher Hinsicht“. Als die verurteilten Rechten  beim Unkrautjäten auf den Maisfeldern helfen sollen, sagt ihnen der Leiter der dortigen Produktionsbrigade Li: „Genossen, es ist für euch ein schweres Los, daß ihr hier gelandet seid (wieso mißbrauchte er das heilige Wort ‚Genosse‘?). Ich alter Grobian habe größten Respekt vor Leuten, die die Wahrheit sagen. Und was sind denn die Rechten? Es sind doch allesamt Leute, die nichts anderes sagen als die ganze Wahrheit. Unsere Brigade wird an euch, Genossen (wieder dieser Mißbrauch), keine harten Anforderungen stellen, arbeitet so, wie es eure Kräfte erlauben“. Cong Weixi und seine Gruppe der Rechten war sprachlos. „Im Prinzip hätte jemand, der fest an die Umerziehung glaubte, diesem Brigadier Li entschieden widersprechen müssen“, denn er war als Angehöriger der armen Bauernschaft für ihre Überwachung zuständig. Zwar hielt sich jeder von ihnen mit Äußerungen zurück, aber als ihr eigener „Boß“ – „auch ein Rechter, dem der Verlag die Verantwortung für unsere Gruppe aufgetragen hatte“ – außer Hörweite war, wagten einige, ihre Meinung zu äußern: „Vortrefflich dieser Mann!“ und „Hoch leben die armen Bauern und ärmere Mittelbauernschaft!“ Insgesamt waren sie jedoch dann alle „zutiefst erstaunt darüber, wie altmodisch und unzivilisiert es – ganze zehn Kilometer vom Pekinger Stadtgebiet entfernt – in Lugu zuging“. Die Kommune trug in den Fünfzigerjahren noch den Namen „Chinesisch-sowjetische Freundschaft“ und so kam es, daß eines Tages eine Ballettgruppe aus der UDSSR dort gastierte. Sie tanzte „Die vier kleinen Schwäne aus Schwanensee und einen Akt aus Giselle. Die aufs Land verbannten Rechten durften zwar nicht zukucken, aber von den empörten Bäuerinnen bekamen sie anschließend zu hören: „Allerhand! Die tanzen mit nacktem Arsch und schämen sich nicht einmal!“ „He, ihr Gebildeten, ihr habt euch doch mit Tusche vollgepumpt, nun sagt uns  mal, was die Nacktanzerei soll?!“

Auf der anderen Seite neigten wiederum die Bauern zu äußerst derben Späßen: Bei der Arbeit im Gemüsegarten „sahen wir, wie ein paar Bauern aus reiner Langeweile eine Bäuerin mittleren Alters einfach zu Boden drückten, ihr die Hose herunterrissen ( in ihrem Jargon nannten sie das ‚den Kürbis freilegen‘) und ihr mit Gewalt einen Schweineschwanz zwischen die Schenkel steckten. Sie lachten und lärmten dabei…Wir konnten uns nur betreten abwenden. So ging es hier zu: feudalistisch beschränkt sowieso und dazu noch über alle Maßen zügellos…Jetzt wurde mir mit einem Schlage bewußt, wie gekünstelt doch das bäuerliche Dasein in der Literatur der Fünfzigerjahre beschrieben worden war“. Cong Weixi prüft sich daraufhin selbst, „ob ich nicht in meinen eigenen Büchern den Glanz des Lebens zu überschwenglich bejubelt hatte“. Er bekam erst einmal Beulen am Hals vom vielen Tragen schwerer Lasten: „Die Tragestange zu handhaben, das war in meiner Umerziehungskarriere die früheste und erste Fertigkeit für die Anpassung an das Leben“. Dann ging es darum, auf den ringsum an den Hängen angelegten Terrassen Obstbäume zu pflanzen: „Nächtliche Produktionsschlachten unter Laternenlicht waren so etwas wie unser täglich Brot“. Einmal sollte der ebenfalls aufs Land verdammte Zeichner des Verlages, Li Binsheng, so genannte „Straßenbilder“ an die Fassaden der Bauernhäuser malen. Dabei hatte er die Rinder, die im Jahr des Großen Sprungs nach vorne unbedingt fett und kräftig auszusehen hatten, als magere Kreaturen abgebildet. Es kam zu einer Kritikversammlung, wobei ihm vorgeworfen wurde: „Du hast die Rinder in teuflischer Absicht so mager gemalt!“ was beweise, dass er immer noch reaktionär eingestellt sei. Cong Weixi wurde alsbald an einen neuen Standort versetzt, der den seltsamen Namen „Silutong“ (Überallher – Überallhin) trug. Hier befahl ihm sein „Boß“ einmal, ein störrisches mongolisches Pferd vor einen Leiterwagen zu spannen, um damit große Steine von der Pekinger Stadtmauer zu holen. Cong Weixi weigert sich: „Ich bin nicht in der Lage, dieses Tier im Zaum zu halten!“ „Die Intellektuellen sollen ja eben lernen, so zu arbeiten wie Arbeiter und Bauern,“ antwortete der „Boß“ beredet.

Der Autor fügt sich – und es klappte auch. Zuvor war es einem anderen Rechten, „Schulmeister Zhao“, passiert, daß ihm ein Esel mit dem Karren durchgegangen war und dabei an beim Um die Ecke Biegen die Rückwand des Frauenklos weggerissen hatte. Die Frauen, die sich darin gerade niedergesetzt hatten, schrien entsetzt auf und beschimpften Zhou als „bebrillten vieräugigen Sittenstrolch“. Dieser konnte sich nicht genug damit entschuldigen, daß er zum ersten Mal einen Wagen gelenkt hatte. Diese unrühmliche Geschichte machte als Witz wieder und wieder die Runde im Dorf. Ein anderer Rechter machte daraus eines Abends ein Rätsel: „Schulmeister Zhao lenkt einen Eselkarren und reißt ein Frauenklo um, das ergibt den Titel eines chinesischen Films. Wer ihn errät, bekommt zwei Bonbons“. Es fand jedoch keiner die Lösung, gemeint war der Revolutionsfilm: „Erhebt euch, Schwestern!“ Einmal hackte sich Cong Weixi mit der Sichel in die Hand, als er Grünfutter für die Schweine mähen sollte, er mußte ins Krankenhaus. Als er sich wieder beim „Boß“ zurück meldete, teilte dieser ihn zur Nachtwache am Maisfeld ein, wo immer wieder grüne Kolben gestohlen wurden. Cong Weixi weigert sich, er brauche Ruhe, und  beschimpft dann seinen „Boß“: „Du gehst zu weit!“ Dieser schreit zurück: „Du bist es, der zu weit geht. Auch wenn dein Finger eingegipst ist,kannst du immerhin noch gehen. Hier müssen die Ressourcen voll ausgeschöpft werden“. Cong Weixi gab schließlich nach. Als nächstes wurde er auf den Umerziehungsstandort „Gut Chadian“ verlegt, wo man ihn wieder der Feldbrigade zuteilt: „Kanäle anlegen, Reis ernten oder Gaoliang-Hirse schlagen“. Hier macht sich aber bald die damals in ganz China herrschende Hungersnot besonders bemerkbar: „Im Kampf ums Überleben fielen diese in die unterste Schicht der Gesellschaft gestoßenen Menschen vor Hunger in primitive Lebensweisen zurück“. Sie fingen Insekten und aßen Dreck. „In unserer Brigade mit einer Stärke von etwa 100 Mann litt ungefähr jeder zweite an Hungerödemen…Mir fehlte der Mut zum Sterben, das einzige was ich vermochte, war, so gut wie möglich den inneren Anstand zu wahren“. Dazu gehörte dann, daß er es ablehnte, als stellvertretender  „Schichtführer“ bei seinen Leute nach der Arbeit im Gemüsegarten und auf den Getreidenfeldern eine Leibesvisitation vorzunehmen. Er kommt ungeschoren davon, der Schichtführer, ebenfalls ein „Mitgefangener“, entschuldigt sich sogar später bei ihm, Cong Weixi merkt dazu an, „daß der Makel der Intellektuellen, nämlich ihre Feigheit, immer dann zutage tritt, wenn sie sich vor das Unheil zwischen Leben und Tod gestellt sehen“.

Das ist hier der Entwurf für ein neues Glas, das nimmt man als Trennwand zwischen den Eßtischen in den europäischen China-Restaurants.

Auch die 1931 geborene Literaturdozentin Yue Daiyun wurde 1957 als Rechte zur Arbeit auf dem Land verurteilt. Ihr Mann, Mitglied der philosophischen Abteilung der Pekinger Universität, den man ebenfalls zur Umerziehung verdonnert hatte, versuchte sogleich Yue Daiyun zu einer „positiven Einstellung“ gegenüber der Landarbeit zu bewegen. Er schleppte erst einmal Bücher über Schweinezucht, Gemüseanbau und ländliche Unterhaltung an. Yue Daiyun lernte sogar Harmonikaspielen, „denn ich dachte, da es auf dem Land wenig gab, was den Alltag der Bauern erheiterte, würden sie vielleicht gerne Musik hören“. Sie kam in die Volkskommune von Chaitang. Das erste, was sie in diesem Bergdorf sah, waren große Gemälde und Gedichte, die man an die Häuserwände gemalt hatte. Alles sah sehr freundlich aus. „Meine Verzagtheit begann zu weichen, denn ich sah, daß die von der Universität aufs Land geschickten Leute in diesem Dorf bereits gute Arbeit geleistet hatten – und dachte, daß ich es vielleicht doch schaffen würde, unter den Bauern hier einen neuen Lebenssinn zu finden“. Die Kommune baute Gemüse, Weizen und Hirse an, ihr Einkommen bezog sie vor allem aus dem Verkauf von Walnüssen und Aprikosenkernen zur Ölgewinnung. In Chaitang waren fünf gefährliche Rechtsabweichler, Yue Daiyun war die einzige Frau. Am Morgen geht sie als erstes zum Kommunebrunnen: „Den nicht ganz einfachen Umgang mit Tragestangen hatte ich bereits während der Landreform in Kiangi gelernt“. Dann wird sie zum Steineschleppen abkommandiert. Die Steine dienen zum Stauen eines Bergbachs. Abends ist sie totmüde, aber es findet noch eine Pflichtversammlung in der Grundschule statt: Dorf werden den Bauern Zeitungen vorgelesen. Diese sind jedoch ebenfalls müde – sie rauchen, nähen, reden oder dösen ein. Nach einiger Zeit wird Yue Daiyun bei einem alten Ehepaar einquartiert, denen sie im Haushalt hilft: „Alte Tante behandelte mich von Anfang an wie eine Tochter. Sie sagte, sie habe selbst nie Kinder gehabt und mich hätte ihr der Himmel geschickt“.  Abends erzählte sie ihr von früher. „Meine Wertschätzung der Intellektuellen sank in diesen friedlichen Tagen zusehends. Ich erwog sogar, mein künftiges Leben in so einem kleinen Dorf und nicht an der Universität zu verbringen…Dank der Warmherzigkeit dieses Ehepaars bekam ich sogar eine andere Einstellung zu meiner Arbeit; ich betrachtete sie nicht länger als Mühsal und Strafe, sondern als Mitwirkung an den Aufgaben des Dorfes“.

Nebenbei bringt sie einer jungen Bäuerin noch Lesen und Schreiben bei. Umgekehrt  arbeitete sie ab 1959 mit einem jungen und starken, und deswegen im Dorf sehr beliebten Rechtsabweichler namens Lao Shi zusammen, der ihr dabei viele amüsante Geschichten erzählte, um sie aufzuheitern. „Er riet mir immer, nicht so viel zu denken, sondern mehr wie die Bauern zu sein…’Auch der höchste Funktionär‘, sinnierte Lao Shi, ‚kann keinen schöneren Sonnenuntergang erleben als ein Bauer‘.“ Im Herbst des Jahres verschlechterte sich auch in Chaitang die Ernährungslage, dort noch verstärkt durch verschiedene falsche Beschlüsse der Kader. „Mehr als ein halbes Jahr kämpften wir alle nur ums Überleben“. Schließlich drohten sogar die Schweine zu verhungern, man verteilte sie deswegen auf die Haushalte, wo sie sich aus den Latrinen ernähren konnten. Die Autorin wurde von ihrem Gastgeber, Alter Onkel, immer wieder mit Nüssen versorgt – und blieb gesund: „Noch nie war mir solche Großherzigkeit begegnet. Wenn jeder alles hat, bedeutet eine derartige Gabe nichts, aber unter den damligen Umständen fühlte man sich mit einer Handvoll Wallnüssen unaussprechlich reich beschenkt…Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ein Intellektueller auch so selbstlos gehandelt hätte. Alter Onkel selbst lehnte es ab, auch nur eine Nuß zu essen…Manchmal war ich fast heiter, so schön fand ich das ungewohnte Gefühl der Freiheit und die Nähe zur Natur“. Als sie auf Urlaub zurück nach Hause durfte, spürte sie dort eine derartige Distanz zu ihrer Familie, daß „der letzte Rest von Wiedersehensfreude verflog…Ich spürte, daß das Leben unter den Bauern mich bleibend verändert hatte…Ich erwog sogar, vorzeitig nach Chaitang zurückzukehren“. Im Frühjahr half sie Altem Onkel bei der Aussaat der Hirse…Weil die Äcker so klein waren, daß ein Esel nicht wenden konnte, schirrte ich mich mit einem Schulterriemen an das alte klobige Gerät, das in einem Arbeitsgang die Furchen pflügte, den Samen säte und ihn mit Erde bedeckte. Manchmal legte ich damit an einem Tag 24 Kilometer zurück. Die Arbeit war anstrengend, aber befriedigend“.

Nachdem man ihr 1960 die Mütze des Rechtsabweichlers abgenommen hatte, wurde sie beauftragt, die Geschichte des Dorfes Lingyuesi in der Volkskommune Chaitang zu schreiben. Dort bemerkte sie bald, dass Propaganda und Wirklichkeit weit auseinanderklafften: viele Felder lagen brach, weil alle arbeitsfähigen Leute auf Großprojekte geschickt worden waren. Yue Daiyun entschied sich, in ihrem Bericht das Schwergewicht auf die tragische Vergangenheit des Dorfes, es war ein Banditennest gewesen, zu legen, dennoch mußte sie auch ein Lob der offiziellen Politik einfließen lassen. Anschließend durfte sie wieder zurück in die Stadt – ihre zwei Jahre Umerziehung waren vorbei. Alte Tante brachte sie zum Lastwagen: „Für mich stand außer Frage, daß die positiven Aspekte dieser beiden Jahre auf dem Land die negativen überwogen…Ich hatte eine Wärme und ein Zusammengehörigkeitsgefühl erlebt, die es in meinem Dasein als städtische Intellektuelle vermutlich nie geben würde“.  Mit Beginn der Kulturrevolution schickte man sie zusammen mit 60 anderen Leuten der Pekinger Universität aufs Land, um an der so genannten „zweiten Landreform“ mitzuwirken. In der Produktionsbrigade, der man sie zugeteilt hatte, verblüffte Yue Daiyun vor allem der Wohlstand: „Das Leben hier war sehr viel bequemer als in Chaitang“. Sie war bei einer Bauernfamilie untergebracht, die der Hui- oder Muslimminderheit angehörte. „Sie tischten uns stets das Beste auf…aber betrachteten uns nie als Familienmitglieder, sondern als Autoritäten…Ich zog jeden Morgen mit den Frauen aufs Feld und leistete die gleiche anstrengende Arbeit wie sie“.

Vor allem entsetzt sie dann die Erkenntnis, „wie stark die Widersprüche zwischen Führern und Geführten geworden waren“. Einige der Kader gebärdeten sich wie Fabrikdirektoren. Und „oft nutzten sie ihre Position dazu aus, die Männer im Dorf zu piesacken und die Frauen zu beleidigen…Wir hatten Anweisung erhalten, keine der örtlichen Kader zu trauen, sondern anzunehmen, daß sie alle Anhänger des kapitalistischen Weges seien…In diesen ersten Wochen machten wir viele Fehler…Meine Hauptaufgabe bestand darin, mit den Dorffrauen zu arbeiten und ihre Standpunkte kennenzulernen…Meinen zweiten Sonderauftrag erhielt ich im Spätherbst 1965, als die Ernste der riesigen Kohlköpfe begann…Die gesamte Ernte muß innerhalb von drei Tagen eingebracht werden“. Dazu gab es ein spezielles Lohnsystem, das die Arbeitspunkte nach der Zahl der geschnittenen Kohlköpfe zuteilt – für 100 Köpfe ein Punkt. „Wegen dieses Anreizes“ gingen besonders die Frauen gerne aufs Feld und arbeiteten bis spät in die Nacht. Dann wurde jedoch dieser Stücklohn als eine Form kapitalistischer Ausbeutung kritisiert: „Wir verfügten darum eine gleichmäßige Verteilung der Arbeitspunkte, nämlich zehn pro Tag für Männer und acht für Frauen, obwohl letztere oft mehr arbeiteten“.Die Bauern wehrten sich dagegen – indem sie sehr langsam arbeiteten – bis die Kader das Stücklohnsystem wieder einführten. „Ich legte schließich einen sehr ausgewogenen Bericht darüber vor…Mein dritter Auftrag war der schwierigste. Ich sollte die Dorffrauen, die sich einmütig dagegen wehrten, daß ihre Männer Kader wurden, zum Einlenken überreden…Bei diesem Landaufenthalt hatte ich ständig Sehnsucht nach zu Hause. Ich fühlte mich nicht nur ausgeschlossen vom Leben der Bauern, sondern machte mir auch Sorgen über das, was in Peking während meiner Abwesenheit geschah“.

Um die Intellektuellen der Pekinger Universität umzuerziehen, wurde 1969 beschlossen, am Ufer des Poyang-Sees eine „Kaderschule 7. Mai“ zu gründen, wo sie „ein Projekt zur Umwandlung der Sommerschlammflächen des Sees in festes Land beginnen sollten“. Als Yue Daiyun dort hinkam, gab es nur vier Schuppen, in einem verbrachte sie ihre erste Nacht am See. Sie wurde als einzige Frau der Ziegelproduktionsmannschaft zugeteilt: „Ich verrichtete täglich die gleiche Arbeit, und trotz ihrer Monotonie befriedigte sie mich auf seltsame Weise… Bei der Arbeit dachte ich immer wieder über das Schicksal der Bauern nach. Wenn sie ein solches Leben führten, sagte ich mir, warum sollten wir Intellektuellen dann nicht auf ähnliche Weise leben können? Es war erholsam, einfache, niedrige Arbeit zu verrichten…Ich hielt viele Ziele der Kaderschule für richtig…

Manche Intellektuelle fühlten sich wirklich allen anderen in der Gesellschaft überlegen; und einige, besonders die Männer unter den Akademikern waren wirklich vollkommen hilflos – sie konnten nicht einmal Teewasser heiß machen, so sehr waren sie es gewöhnt, von anderen versorgt zu werden“. Um das zu ändern beschlossen die Kader, „den Intellektuellen eine weitere wichtige Lektion zu erteilen und sie mit den Realitäten des Lebens zu konfrontieren.Sie wählten die beiden gelehrtesten Männer aus unserer Gruppe dazu aus, von den Bauern im nächsten Dorf zu lernen, wie man Schweine  schlachtet. Der eine hatte in Cambridge Mathematik studiert, der andere in Moskau Physik“. Als sie wieder zurückkamen, erklärte uns der Mathematiker: „der immer gehorsam gegenüber dem Propagandatrupp war, er habe von den Bauern viel gelernt und es sei im Grunde ganz einfach, ein Schwein zu schlachten“. Er erklärte es seinen Kollegen: „Ich spürte, daß er sich mit seinen Worten Mut zu machen versuchte. Wir wollten alle beim Schlachten zuschauen…Ich machte in einem riesigen Kessel Wasser heiß – und sah, daß sich auf den Gesichtern der beiden Professoren Ernst, Nervosität und Abscheu angesichts der ihnen bevorstehenden Aufgabe abwechelten“. Da dem Mathematiker die Hand zitterte, konnte sich das angestochene Tier losreißen, es sprang umher und verspritzte überall Blut, die Menschen stoben vor Schreck auseinander.

Yue Daiyun half später beim Zerlegen des Tieres, am nächsten Tag beim Festmahl konnte sie jedoch keinen Bissen runterkriegen: „allein schon der Geruch des Fleisches verursachte mir Übelkeit“. Als nächstes mußte die Reisfelder vorbereitet und dann mit den  inzwischen fermentierten menschlichen Exkrementen gedüngt werden. Anschließend gingen sie barfuß übers Feld, um die Setzlinge einzupflanzen, dabei drangen bei vielen Parasitenlarven ein und sie erkrankten an Bilharziose oder Schneckenfieber. Yue Daiyun wurde beim Reispflanz-Wettbewerb dritte: „Ich erhielt zwei Handtücher und einen Emailbecher als Siegespreis“. Nach einem Jahr, im Herbst 1970, sollte die Uni die Lehre wieder aufnehmen, vorher fand am See noch eine Resümeeversammlung statt. Yue Daiyun, die den Aufenthalt auf dem Land genossen hatte, beendete ihre Ausführungen mit einem Gedicht:

„Vorne Melonen und Bohnen züchten/

Hinten Hühner und Schweine/

Am Eingang Pfefferschotenketten und Kürbisse auslegen/

Das ist fürwahr ein gutes Leben“

Statt in Peking sollten die ersten 100 Studenten, die ohne Aufnahmeprüfung, nur mit einer Empfehlung ihrer Betriebseinheit immatrikuliert worden waren, in der Kaderschule am See studieren, dafür hatte man zehn Dozenten abkommandiert – unter ihnen auch Yue Daiyun und ihr Mann. Sie wurden die „Fünf gleichen Lehrer“ genannt, weil sie die gleichen Dinge wie die Studenten tun sollten: mit ihnen essen, wohnen, arbeiten, studieren und gemeinsam das Denken reformieren. Aus der Kaderschule war inzwischen ein fast komfortabler Ableger der Peita auf dem Land geworden. Für die Ankunft der Studenten wurde eine Feier vorbereitet, die letzten 56 Kilometer vom Bahnhof in Nanchang bis zur Kaderschule sollten sie zusammen mit den Dozenten und einer Ärztin marschieren, unterwegs wurden sie in den Dörfern mit Gongs und Feuerwerkskörpern begrüßt: „Obwohl ich wußte, daß alles von den Behörden arrangiert worden war, genoß ich auf dem gemeinsamen Marsch in der folgenden Nacht die herzliche Atmosphäre…Wir sangen Lieder, meist vertonte Mao-Zitate, vor allem aber ein vertontes Mao-Gedicht, dass zur Kennmelodie unserer Kaderschule geworden war:

„Wir fürchten keine Unbequemlichkeit/

Wir fürchten nicht einmal den Tod/

Wir werden jede Mühsal meistern/

Wir werden stets zum Sieg marschieren“

Es sei noch nachgetragen, daß Yue Daiyun zusammen mit ihrem Mann Ende 1984 wieder ihre Lehrtätigkeit an der  Universität Peking aufnahm. Sie beteiligte sich dann am Neuaufbau der kommunistischen Partei, „allerdings war ich viel weniger erfolgsgewiß als 1949 und viel weniger sicher, einen nützlichen Beitrag leisten zu können“. Ihre zwei Kinder, die während der Kulturrevolution freiwillig aufs Land gegangen waren, lebten und arbeiteten inzwischen in New York, wo sie geheiratet hatten. So erklärt sich wahrscheinlich auch das Erscheinen der Lebensgeschichte ihrer Mutter zuerst in Amerika.

Die hier werden von Taipeh direkt nach Hamburg verschickt, sie sind für „Sino-Deco“ in Bolin – äh, Berlin heißt das ja bei Ihnen..

In dem autobiographischen Roman „Das Klassentreffen“ des jungen Pekinger Schriftstellers  Hei Ma geht es um diese so genannte „verlorene Generation“ Chinas: Nach 16 Jahren treffen sich die Schüler und Schülerinnen der Klasse 95 wieder. Der eine ist inzwischen reicher Geschäftsmann geworden, die andere Fernsehjournalistin, von den zwei Wissenschaftlern lebt der eine als unterbezahlter Redakteur in Shenzen und der andere als angesehener Professor meistens im Ausland. Bei ihrem Wiedersehen kommen alte Animositäten und Eifersüchteleien wieder hoch, vor allem kommen sie aber immer wieder auf ihren alten Lehrer Fang zu sprechen, der sie während der Kulturrevolution zur Umerziehung aufs Land geschickt hatte und damit die Weichen für ihr Leben stellte. Daß wir ihm damals geglaubt haben, schimpft einer, „hat uns einen Scheiß genützt! Die Bauern haben uns an den Dorfrand in ein verdammtes Lager verfrachtet, ach was, verbannt haben sie uns. Keine Chance hatten wir, dem Vorsitzenden Mao zu folgen und uns mit den armen Bauern und den unteren Mittelbauern zusammenzuschließen“. Auch einem der ehemaligen Schüler wird vorgeworfen: „In jenem Jahr wurdest du ein fanatischer ‚Vom-Dorf-Lerner’…Du dachtest, daß ihr, einmal auf dem Land, sofort zu Stützen des Staates würdet, ob als Elektriker, Traktorfahrer oder Barfußärzte.“ Andererseits gab es aber plötzlich auch zehn Liebespaare in der Gruppe – „und die Landverschickung bekam in der Tat einen romantischen Anstrich,“ wie es an einer Stelle heißt.

Bei der Übersetzung der chinesischen „Narben-Literatur“ haben sich in Westdeutschland vor allem die Sinologen der Ruhr-Universität Bochum hervorgetan, denen dort mehrere Verlage assoziiert sind. Über den Roman „Die Pionierbäume“ des 1936 geborenen Schriftstellers Zhang Xianliang, der 18 Jahre auf dem Land umerzogen wurde, schreiben die Bochumer, dass sein Werk anzusiedeln sei – zwischen der Narben-Literatur, die sich auf die Bewältigung der Kulturrevolution beschränkte, und der neuen „Heimat-Literatur“, die darauf Mitte der Achtzigerjahre folgte und im wesentlichen „die Bauern und das Landleben“ thematisierte. „Wie wertvoll und unvorstellbar war es doch, in einem solch armen, rückständigen Dorf zu sein, das unerwarteterweise optimistisch und heiter war,“ schreibt der Ich-Erzähler, nachdem er aus dem Arbeitslager in ein Dorf überstellt worden war, wo der Brigadier ihn beim Mauern eines Ofens zugesehen und sogleich mit den Worten: „Teufel! Ihr Rechtsabweichler seid schon Könner!“ gelobt hatte. Bei der Feldarbeit merkte Zhang Xianliang irgendwann, daß seine vorher erschlafften Muskeln wieder neue Kraft bekamen, und das erinnerte ihn an frühere Diskussionen über politische Ökonomie, in denen von Kopf- und Handarbeit die Rede gewesen war, wobei man letzteres oft mit „Muskelarbeit“ übersetzt hatte. Und diese bedeutete: „dass wer Muskeln hat, ein Kapital besitzt und mit seiner Körperkraft den Weg durch die Welt macht. Meine physiologische Entdeckung versetzte mich in eine sentimentale Erregung, liess mich noch ungestümer und radikaler erkennen, dass ich mich in die Richtung eines ‚Muskelarbeiters‘ bewegte“.

Auf ähnliche Weise gelang es auch dem 1986 zum chinesischen Kulturminister ernannten Schriftsteller Wang Meng, seiner langen Umerziehungszeit etwas abzugewinnen, er weigerte sich am Ende sogar, seinen Verbannungsort zu verlassen. Den 1934 geborenen Wang Meng hatte man 1958 zum Rechtsabweichler erklärt und für vier Jahre aufs Land geschickt, 1965 wurde er in die Volkskommune Bayandai des Yil-Gebiets geschickt, um erneut körperlich zu arbeiten und „das Leben kennen zu lernen“. Er lernte dort reiten und uigurisch sprechen und wurde schließlich stellvertretender Leiter der zweiten Brigade. „Sechs Jahre lebte ich mit dem uigurischen Bauern Abdul Rahman und seiner Frau unter einem Dach. Wir waren wie eine Familie…Dank des Schutzes der uigurischen Bauern und der einheimischen Kader hatte ich während der Kulturrevolution unter keiner Art von Demütigung zu leiden“. 1973 in die Kulturabteilung der Regionalverwaltung von Ürümqui versetzt, begann er, einen Roman über das  Landleben in der Provinz Xinjiang zu schreiben: „Das Wichtigste in meinem Leben war meine Zeit dort. Es war für mich eine schöne und reiche Quelle. Es war Glück im Unglück“. Seitdem wurden viele seiner Werke, vor allem die Erzählungen, auch ins Deutsche übersetzt  – und in der BRD sowie in der DDR veröffentlicht.

Ebenfalls in der DDR erschien zuletzt – 1990 – auch noch ein Roman des oben bereits erwähnten Zhan Xianliang – mit dem Titel: „Die Hälfte des Himmels ist Frau“ , in dem der Ich-Erzähler, ein aufs Land verbannter Intellektueller, sich dort mit einer  leichtlebigen Bäuerin zusammen tut. Ihre Beziehung ist äußerst konfliktreich, was die Frau so ausdrückt: „Unsere Ehe ist dasselbe, als ob zwei Einzelbauern eine Genossenschaft gründen“. Am Schluß des Romans flüstert sie ihm zu: „Vergiß nicht, daß ich es war, die aus dir einen richtigen Mann gemacht hat…“

Von den aufs Land verschickten gebildeten Jugendlichen und Studenten haben später viele Erzählungen über z.B. die Probleme von Frauen in den Volkskommunen geschrieben. Während die einen u.a. die Zerschlagung des privaten Kochgeschirrs und die Einrichtung von Kantinen beklagen, wo man täglich für ein schlechtes Essen erst einmal lange in einer Schlange warten mußte, hat umgekehrt der Schriftsteller Li Zhun eine Bäuerin namens Li Shuangshuang beschrieben, die es leid war, immer zu Hause allein in der Küche zu arbeiten, während die Männer draußen zusammen auf dem Feld waren und laufend politische Versammlungen abhielten. Um daran teilnehmen zu können, schlug sie die Einrichtung einer Kantine vor, was ihr Mann ihr zunächst übel nahm. In der Auseinandersetzung mit ihm wuchs ihr Selbstbewußtsein. So führte ihr Kommune-Verbesserungsvorschlag auch zu einer Veränderung ihrer Ehe.

In der Erzählung „Ein Fest am Dashan“ von Ai Wu geht es um zwei vor 20 Jahren als Rechtsabweichler in die Berge verschickte Frauen aus der Stadt, die sich nach langer Zeit wieder treffen. Die eine ist Intellektuelle geblieben, die andere hat sich von den Bauern gründlich umerziehen lassen: „Wenn die Bauern keine Zeitung lesen, liest du dann auch keine?“ fragte ihre Freundin erstaunt. Ungerührt erwiderte Wu Lüyin: „Richtig, so habe ich es gelernt. Wenn sie auf den Acker gehen, binden sie ein kleines Handtuch um den Kopf, und ich tue es ihnen gleich. Sie rauchen und kauen Betel, und ich mache es nach. Wie sie nehme ich eine Wasserflasche voll Reisschnaps mit aufs Feld…und wie alle anderen sorge ich schon für mein Begräbnis, auch ich habe mir einen Sarg anfertigen lassen und in mein Zimmer gestellt“. Sie opfert sogar wieder Buddha – weil alle Bauern in ihrem Dorf das tun.

Die französische Strukturalistin Julia Kristeva erwähnt in ihrem Reisebericht „Die Chinesin“ als bekanntestes Beispiel für eine erfolgreich umerzogene Intellektuelle Bai Tschi-hsiän. Wie diese 1973 der Vokszeitung in einem Brief erklärte, „verspürte sie gleich nach ihrem ersten Kontakt mit den Bauern in sich einen Ansatz zur Umwandlung“. Später beschloß sie, auf dem Land zu bleiben und den Bauern Hua Dschen-yüan zu heiraten. „Sein besonderer Verdienst besteht darin, kranke Pferde zu pflegen, und dies vor allem auch in der Nacht, wenn die anderen Männer im Dorf nur auf ihre persönliche Ruhe bedacht sind. Er ist jemand, ‚der nicht viel Worte macht und seine Arbeit tut‘, schreibt Bai Tschi-hsiän“. Umgekehrt traf die Autorin in der Volkskommune „Marco Polo“ bei Peking junge Bäuerinnen, die durch ihren Kontakt mit den aufs Land verschickten jungen Leuten politisiert wurden und angefangen hatten, sich künstlerisch zu betätigen. In der Volkskommune „Bronzebrunnen“ von Hu-hsiän interviewte sie eine solche Künstlerin – namens Li Feng-lan. Über ihre Bilder schreibt Julia Kristeva: „Sie vermitteln den Eindruck, als ob ein alter taoistischer Maler geträumt habe, van Gogh zu sein, bevor er in einer Landkommune aufwachte“.

1972 ging Jack Cheng, ein Auslandschinese aus Trinidad, dessen Vater einst ein enger Mitarbeiter Sun Yat-Sens gewesen war, für ein Jahr in eine Landkommune im Norden der Provinz Honan, genauer: in deren Dorf „Glückseligkeit“. Er arbeitete als Journalist für die chinesische Regierung und begleitete eine Gruppe älterer Intellektueller, die sich umerziehen sollten – Cheng nennt sie „unsere lahme Veteranentruppe“. In der Kommune befanden sich noch viele andere aufs  Land Verschickte. Cheng, der später in New York ein offiziöses Buch über die Kulturrevolution schrieb, bemerkt im Dorf „Glückseligkeit“, dass sich viele Intellektuelle beim Lernen von den Bauern geradezu überanstrengten: „Eigenartigerweise war es (z.B.) so, daß es weniger die Bauern waren, die geflickte Kleidung trugen, sondern daß gerade die Kader aus der Stadt mit großen Flicken herumliefen, zum Teil waren es auch Studierende der ‚Kaderschule 7.Mai’…Eines Tage kam mir auf der Straße ein in Lumpen gehüllter, ungepflegter Bursche entgegen. ‚Ein Bettler!‘ war mein erster Gedanke. es war jedoch ein Künstler aus Peking, der in der Kommune beschäftigt war, eine Ausstellung über ‚Alte und neue  Zustände‘ vorzubereiten…Tatsächlich stammten alle Leute, die im Dorf in schäbigen Sachen herumliefen, von auswärts.“

Der Schriftsteller und Dissident Wang Ruowang befaßte sich 1980 in einer Reportage mit einem der gescheiterten Großprojekte  aus der Zeit der Kulturrevolution – dem so genannten „Proletarischer Durchbruchskanal“, der unvollendet blieb und von den Bauern allgemein nur „der Unglückskanal“ genannt wurde. Es geht dem Autor dabei u.a. darum, wie die Verantwortlichen noch in den späten Siebzigerjahren zu verhindern suchten, dass darüber in den Zeitungen berichtet wurde.

Auch in der Mikropolitik klafften die Propaganda und das wirkliche Leben  immer mehr auseinander. Deswegen bemühten sich die Schriftsteller nach der Kulturrevolution, um einen neuen skeptischen Realismus. 1985 wurden Zhang Xinxin und Sang X mit einer Reihe von Interviews berühmt, die sie mit ganze normalen Leuten überall in China führten. U.a. sprachen sie auch mit einem durch die neue marktwirtschaftlich orientierte Politik von Deng Tsia-ping reich und selbstbewußt gewordenen jungen Bauernehepaar, das sie in einem teuren Restaurant in der Stadt trafen. „Deng hat das Vertrauen von uns Bauern,“ erzählt die Frau ihnen, aber vorher war es hart: „Damals durfte jede Familie nur zwei Hühner halten, wenn sie mehr hatte, dann bestand die Gefahr, daß sich spontan Kapitalismus entwickelt. Daher nannten die Bauern diese Viecher ‚revolutionäre Hühner‘.“

In einem anderen Band – mit Interviews chinesischer Frauen, die die in Peking lebende Journalistin Helga Bertram 1985 führte, beklagt sich eine 45jährige Parteisekretärin namens Zhang Guolan, die auf dem Land lebt, darüber, dass die Frauen noch immer nicht so viele Möglichkeiten wie die Männer haben, Erfahrungen zu sammeln. „Frauen können z.B. nicht in Kneipen gehen. Ja, da brauchst du gar nicht zu lachen, ich glaube wirklich, daß das ein Nachteil ist. Früher hab ich auch gedacht, da wird ja nur getrunken, was soll das. Aber inzwischen denke ich, in der Kneipe kann man auch viele neue Menschen kennenlernen, und wenn du neue Menschen kennenlernst, kannst du selbstverständlich was Neues  hören und lernen, heute von diesem, morgen von jenem. Und wenn man bedenkt, wie viele Verhandlungen heute am Restauranttisch stattfinden…“

Eine 38jährige späte Studentin namens Chen Hong meint: „Ich bin eine von denen, die durch die Kulturrevolution ins Stolpern gekommen sind“. Sie war damals in einem Dorf an der Grenze zu Burma gelandet. „Am Anfang waren wir alle so idealistisch, wir haben sogar die Sprache der Bauern gelernt, um Propaganda für Mao machen zu können. Aber allmählich wurde das anders. Ich glaube, mich hat die Menschlichkeit der Bauern nachdenklich gemacht. Die waren so gut, die haben uns zu essen gegeben, sie waren wirklich naive und liebe Leute. Wir haben dann oft diskutiert. Wir haben überlegt: Das Leben ist so anders, als wir es uns vorgestellt hatten, wir müssen prüfen, was richtig ist. Wir hatten in Kunming viele Bücher gestohlen, die haben wir da zusammen gelesen. Alles haben wir gelesen: Mao, Marx, Lenin, aber auch andere, viele andere. Und schließlich haben wir festgestellt, daß wir in der Kulturrevolution große Fehler gemacht haben. Und wir haben erkannt, daß wir benutzt worden sind, einfach benutzt“.

Auch der Schriftsteller Gao Xingjian traf 1983 auf seiner ausgedehnten Reise durch China zum Berg Lingshan eine Reihe von Leuten, die die Kulturrevolution aus der Bahn geworfen hatte. Ein Arzt, den man bereits Ende der Fünfzigerjahre als rechtes Element aufs Land geschickt hatte, erzählte ihm, daß er in der Volkskommune geblieben – als Arzt im neuerbauten Kommunekrankenhaus. Er heiratete eine Bäuerin, mit der er drei Kinder hatte. „Wer hätte gedacht, daß er an Gott glauben würde. Als er hörte, daß ein vatikanischer Kardinal nach Guangzhou kommen würde, fuhr er sogar extra dort hin. Er traf ihn zwar nicht, aber dadurch geriet er später in Verdacht, illegale Kontakte zu Ausländern zu haben. Er verlor seine Arbeitsstelle im Krankenhaus. Ihm blieben wenig Möglichkeiten: Er studierte auf eigene Faust traditionelle Medizin und schlug sich als umherziehender Heiler  durchs Leben (ein überqualifizierter Barfußarzt). Eines Tages wendete er sich Buddha zu: Er trennte sich von seiner Familie und wurde Mönch“.

Der chinesische Dampfer da nimmt auf dem Rückweg nach Guangzhou unter anderem tonnenweise Früchtetee-Beutel von hier mit, das ist da gerade ein „Hype“. Kuck nicht hin, da will uns gerade jemand photographieren.

Verwendete Literatur
in der Reihenfolge ihrer Erwähnung:

1. Jia Pingwa: „Die Nichtstuer“, 1992, in Auszügen auf Deutsch übersetzt von Jia Zhiping, Berlin 2002

2. Dai Sijie: „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“, München 2001

3. Anchee Min: „Rote Azalee – Ein Frauenleben in China“, Köln 2002, außerdem: „Land meines Herzens“, München 1996, und „Madame Mao“, Bern 2002

4. Xiao Hui Wang und Monika Endres-Stamm: „Töchter des halben Himmels – Sieben Frauen aus China“, Frankfurt am Main 2000

5. Wang Ping: „Fremder Teufel“, Göttingen 1997

6. Jan Wong: „Abschied von China – Mein langer Marsch von Mao bis heute“, München 1997

7. Ting-xing Ye: „Bitterer Wind – Eine jujnge Chinesin kämpft um ihre Würde und Freiheit“, Düsseldorf 1998

8. Lulu Wang: „Das Seerosenspiel – Eine Jugend in China“, München 1997

8. C und J. Broyelle sowie E.Tschirhat: „Zweite Rückkehr aus China – Ein neuer Bericht über den chinesischen Alltag“,  Berlin 1977; vor diesem ernüchterten Arbeitsbericht war bereits  ein maoistisch-euphorischer Reisebericht von Claudi Broyelle erschienen: „Die Hälfte des Himmels – Frauenemanzipation und Kindererziehung in China“, Berlin 1972

9. Jan Myrdal: „Bericht aus einem chinesischen Dorf“, München 1966; sowie: „Die Revolution geht weiter“, München 1974 und: „China nach Mao tse Tung – Dritter Bericht aus einem chinesischen Dorf“, Berlin 1978

10. Charles Reeve und Xi Xuanwu: „Die Hölle auf Erden – Bürokratie, Zwangsarbeit und Business in China“, Hamburg 2001

11. Xiao Hui Wang und Monika endres-Stamm: a.a.O

12. Zhou Chu: „Ach, was für ein Leben – Schicksal eines chinesischen Intellektuellen“, Berlin 1992

13. Cong Weixi: „Rückfall ins Chaos – Aufzeichnungen aus einem Arbeitslager zur Zeit der ‚Anti-Rechts-Kampagne'“, Bochum 2000

14. Yue Daiyun: „Als hundert Blumen blühten – Die Odyssee einer modernen Chinesin vom Langen Marsch bis heute“, Bern 1986

15. Hei Ma: „Das Klassentreffen – Oder tausend Meilen Mühsal“, Frankfurt 1999

16. Zhang Xianliang: „Die Pionierbäume“, Chinathemen Band 51, Bochum 1990

17. Wang Meng: „Ein Schmetterlingstraum“, 9 Erzählungen, Weimar 1988, sowie: „Die gemusterte Jacke aus violetter Seide“, 9 Erzählungen, Peking 1990

18. Zhang Xianliang: „Die Hälfte des Himmels ist Frau“, Berlin (Ost) 1990

19: Li Zhun: „Die Geschichte von Li Shuangshuang“ in: „Hundert Blumen – Moderne chinesische Erzählungen“, zwei Bände, Frankfurt am Main 1980

20: Ai Wu: „Ein Fest am Dashan“ in: „Erkundungen – 16 chinesische Erzähler“, Berlin (Ost) 1984

21. Julia Kristeva: „Die Chinesin – Die Rolle der Frau in China“, München 1976

22. Jack Chen: „Das Jahr im Dorf Glückseligkeit“, Düsseldorf 1974, und: „Chinas Rote Garden – Jack Chen erlebt die Kulturrevolution“, Stuttgart 1977

23. Wang Ruowang: „Der Unglückskanal“ in: „Die Auflösung der Abteilung für Haarspalterei – Texte moderner chinesischer Autoren“, Reinbek bei Hamburg 1991

24. Zhang Xinxin und Sang Ye: „Eine Welt voller Farben“, 22 Porträts, Berlin (Ost) 1987, in Köln erschien 1987 eine auf 36 Porträts erweiterte Ausgabe – unter dem Titel „Pekingmenschen“

25. Helga Bertram: „Der lange Marsch zum Himmelreich – chinesische Frauen erzählen“, Frankfurt am Main 1987

26. Gao Xingjian: „Der Berg der Seele“, Frankfurt am Main 2001

Hier sind zum Beispiel einige der Schnecken- ich bin sozusagen auf die spezialisiert, während meine Kollegin fast ausschließlich Entwürfe mit Schmetterlingen anfertigt.

Weitere Texte zur Kulturrevolution finden sich in den blog-einträgen:

http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/10/12/chinesische_wissensproduktion/

http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/08/24/chinesische_bauernkulturrevolutionjia_pingwa/

Schmutzige Wäsche waschen 1-16: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/09/25/schmutzige-wasche-waschen/

http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/09/27/kulturrevolution-2/

Über das Fegen in China und anderswo: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2007/05/21/putzfrauen-in-den-schmutz-zerren/

Rezension eines neueren chinesischen Romans (von Wei Wutai):

Mongolische Wölfe und chinesische Schafe

Jüngst veröffentlichte der Bertelsmann-Verlag den ersten chinesischen Bestseller auf Deutsch: “Wolf Totem”. Er thematisiert die Lebensweise der Nomaden in der Inneren Mongolei – bzw. ihr Verhältnis zur Natur. Die chinesischen Kulturfunktionäre – und -beobachter sprechen von einem Marktwunder, weil sie sich nicht erklären können, wie ein solch langatmiger Roman bereits in wenigen Monaten über 500.000 Mal verkauft werden konnte: Er handelt fast ausschließlich von einem Tier, beinhaltet keine Sex- oder Liebesszenen und wurde zudem noch von einem bisher völlig unbekannten Autor geschrieben. Die Rede ist von Jiang Rong und seinem Buch “Wolf Totem”, in dem es um die Philosophie und Moral des “Wölfisch-Werdens” geht. Sein Literatur- und Kunstverlag Yangtse inszenierte als Werbemaßnahme für das Buch einen heftigen Streit unter Kritikern, TV-Prominenten und erfolgreichen Geschäftsleuten – über den Hauptgedanken des Autors: “Für die heutigen Chinesen ist es notwendig, vom Geist des Wolfes zu lernen!” Inzwischen findet man im Google unter den chinesischen Wörtern “Wolf Totem” und “Jiang Rong” 90.000 Eintragungen, was es bisher noch nie gab.

Die Hauptfigur des Romans ist Chen Zhen, ein junger Mann, der während der Kulturrevolution (1966-76) Peking verlassen hatte und sich im Autonomen Gebiet der Inneren Mongolei niederließ. Dort wurde er mit dem ihm bis dahin fremden “Ethos der Steppe” konfrontiert. So etwas Ähnliches gab es schon einmal – jedoch unter anderem Vorzeichen: Bei dem von 1986 bis zur Niederschlagung der Demokratiebewegung zum Kulturminister ernannten Schriftsteller Wang Meng, den man 1958 als Rechtsabweichler zur Umerziehung aufs Land geschickt hatte, wobei er 16 Jahre im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang verbrachte – das ihm dabei zur zweiten Heimat wurde. Die uigurischen Bauern hatten ihn nicht nur sehr freundlich aufgenommen, insbesondere Abdul Rahman und seine Frau in der Kommune Bayandai, bei denen Wang Meng und seine Familie wohnte, sondern auch während der Kulturrevolution vor allen Demütigungen geschützt. Mehr noch: Die dortigen Kader verschafften ihm sogar eine Anstellung als Redakteur und Übersetzer in der uigurischen Vereinigung der Kulturschaffenden. Der Schriftsteller revanchierte sich später mit mehreren schönen Erzählungen über das menschenfreundliche Leben in der uigurischen Steppe.

Der Autor Jiang Rong nun bzw. sein Held Chen Zhen findet in der mongolischen Steppe heraus, dass die Wölfe dort in einer seltsamen Verbindung zu den Menschen stehen. Nur wenn man diese verstehe, so meint er, komme man auch der geheimnisvollen Region und ihren nomadischen Bewohnern auf die Spur. Die Steppe ist schon seit Urzeiten die Heimat der Wölfe, Chen bemüht sich um eine genaue Kenntnis ihres Lebensraumes, in dem man sie zuletzt fast ausrottete. “Im Buch gibt es Dutzende dramatischer Geschichten die von der Überlebensfähigkeit, Treue und Opferfähigkeit der Wölfe zeugen,” schreibt die “China Daily”. Der Autor habe sich daneben gründlich mit der alten Nomadenkultur und ihrem Wolfs-Totemkult beschäftigt.

Die mongolischen Viehzüchter sehen im Wolf einen Adoptivsohn von Tengri, dem Himmel – der höchsten Macht im Kosmos. Die Tiere verkörpern für sie alle Fähigkeiten, die man für den harten Überlebenskampf in der Steppe brauche – auch der Mensch. In ihrer Gewitzheit, ihrem Mut und ihrer Geduld sind sie unschlagbar, ebenso aber auch in ihrer Aggressivität, Unbarmherzigkeit und Widerstandsfähigkeit. Gleichzeitig verletzten sie jedoch niemals die Spielregeln, d.h. sie töten nur, wenn sie hungrig sind, und zerstören nicht das natürliche Gleichgewicht in der Steppe, dazu sind sie jeder Zeit bereit, sich für ihr Rudel zu opfern. Wie Chen Zhen an einer Stelle sagt, “rufen sie Furcht, aber auch Respekt bei ihren Gegnern hervor”.

Viele Leser sind vor allem angetan von der traurigen Eloge auf das verschwundene einfache Leben in der Steppe und ihren edlen Bewohnern, den Wölfen, die seit unvordenklichen Zeiten schon die Mongolen spirituell beeinflusst haben. Laut Chen glauben die nomadisierenden Viehzüchter, dass das Raubtier notwendig ist, um das “Ökosystem der Steppe auszubalanzieren”. Den Viehzüchter Bilige läßt der Autor sagen: “Tengri schickte uns den Wolf, der dafür sorgt, dass die Grasflächen nicht überweidet werden”. Aber keiner, der sich an den (chinesischen) Ausrottungsaktionen gegen den Schädling Wolf beteiligte, habe auch nur geahnt, wie richtig diese “Warnung” war, schreibt die China Daily, “denn als der Wolf verschwand, war die Verwüstung dieses Lebensraumes fast besiegelt”.

Immer wieder weist der Autor auf die parallelen Schicksale der Wolfsrudel und der mongolischen Viehzüchter hin – “den Nachkommen Dschingis Khans, ihres einstigen militärischen Führers, dessen Herrschaftsbereich bis heute an Größe von niemandem übertroffen wurde”. Diese Botschaft hören die von den Chinesen heute in eine geradezu verschwindende Minderheit gedrängten Mongolen wohl. Tengger, der Sänger der Musikgruppe “Canglang Yuedu” (Wolf Band), bedankte sich öffentlich für die chinesische Wolfseloge: Das Buch habe mit seiner leise trauernden Klage tief verschüttete Erinnerungen wachgerufen.

Jiang Rongs Recherchen und Geschichten haben aber auch viele junge Chinesen begeistert: So meint z.B. der Computerspezialist Fu Jun, “wie der Autor die Wölfe beschreibt, aber auch die mongolischen Nomaden, das hat mich sehr berührt. Es sind harte Burschen, die bis zum letzten Blutstropfen kämpfen. Einige ihrer positiven Eigenschaften sind es wert, von uns übernommen zu werden, z.B. durch unsere Fußball-Mannschaften, damit sie ihre Gegner besiegen – statt besiegt zu werden.”

Jiang Rong meint, dass es die kleinbäuerliche chinesische Landwirtschaft war, die aus den Chinesen das gemacht habe, was er ein Schafs-Temperament nennt: “Sie sind unterwürfig, demütig und passiv, dazu verdammt, geschlagen und eingeschüchtert zu werden. Dem gegenüber haben die Mongolen der Steppe Selbstbewußtsein und großen Mut – so wie der Wolf!” Dem Autor gerät seine Nomaden-Romantik immer wieder zu einer faden Wolfs-Predigt. Wahr ist daran jedoch, dass die Spezifik und Dauer der chinesischen Reisbauernkultur eine fast schon eingefleischte Kollektivität hervorgebracht hat. Die prosperierende Handels- und Industriegesellschaft verlangt nun aber eher individuelles Denken und Handeln von jedem – so wie es die nomadischen Viehzüchter scheinbar vorgelebt haben. Für den Literaturkritiker Zhang Qianyi aus Hongkong ist das eine “allzu simple “Geschichtsauffassung”. In der chinesischen Geschäftswelt, “wo sich heutzutage die heftigste Jagdleidenschaft austobt,” wie die China Daily schreibt, stieß sie jedoch auf große Resonanz. Hier ist man der Meinung, dass der Wolf, so wie einst schon die mongolischen Viehzüchter von ihm lernten, nun auch Vorbild für den modernen Geschäftsmann sein sollte – mindestens im Hinblick auf seine Jagdtechniken: “Aus dem Buch von Jiang Rong erfahren wir, dass die Wölfe ausgezeichnete militärische Führer sind,” sagt z.B. Zhang Ruimin, Geschäftsführer der Haier-Group, einer in Shandong ansässigen Elektrofirma, “sie gehen nie unvorbereitet in einen Kampf und sie wissen, wie man sich anschleicht, einen Hinterhalt legt, belagert und jemanden abfängt. Und stets wählen sie den richtigen Zeitpunkt zum Angriff. Sie warten geduldig und vergeuden keine Kraft. Erst wenn ihre Beute in die Enge getrieben ist, schlagen sie zu – überraschend und ohne große Verluste. Aber ihre am meisten zu lobende Eigenschaft ist, das sie immer und in jedem Fall als Team kämpfen.”

Seit der Veröffentlichung von “Wolf Totem” im April 2004 sind in China bereits vier Ratgeberbücher erschienen, in denen es darum geht, wie man mit Hilfe von Wolfsstrategien beim Geschäftsmachen erfolgreich ist.

Unterdes hat der Autor Jiang Rong der Pekinger “Youth Daily” in seinem ersten Interview gestanden, dass er in Wirklichkeit Jiang Mao heißt, er ist 58 Jahre alt und Wirtschaftsprofessor an der Pekinger Universität. Während der Kulturrevolution – ab 1967, lebte er elf Jahre in der mongolischen Steppe. Und sein Romanheld, Chen Zhen, das sei er selbst. 25 Jahre lang habe er für das Buch recherchiert, das er dann in sechs Jahren niederschrieb. Der Kritiker Meng Fanhua meinte begeistert, es sei eine gute “Fiktion” und gleichzeitig eine “großartige anthropologische Monographie”. Andere, wie der Kolumnist Zhang Ruixi, bemängeln darin jedoch den Hang des Autors zum Pädagogisieren: “Das Buch wirkt stellenweise nicht wie eine Erzählung, sondern wie eine didaktisch aufbereitete Theorie”. Es ist die alte Theorie des kapitalistischen Wiederwölfischwerdens, auch Neodarwinismus genannt, die diesmal nur mit einigen mongolischen Ideen angereichert wurde.

Der hier vorne jetzt den Kopf aus dem Wasser hebt, den kenne ich, der ist der dreisteste von allen.

Eine chinesische Schriftstellerin in Berlin

Die 72-jährige Schriftstellerin Zhang Jie spielt in China eine ähnliche Rolle wie in der DDR Christa Wolf, und so ist auch ihr Umgang mit den Massenmedien: sehr zurückhaltend. Berühmt wurde sie durch ihren Roman „Schwere Flügel“ (1981), in dem es um die Kämpfe zwischen „Modernisierer“ und „Bedenkenträger“ in einem Industrieministerium geht. Ihr nachfolgendes Buch „Die Arche“ handelt von drei geschiedenen Frauen, die in einer Wohngemeinschaft zusammenleben. „Abschied von der Mutter“ (2000) thematisiert die Beziehung zu ihrer eigenen Mutter und deren Tod. Autobiografisch ist auch ihr letztes dreibändiges Werk „Das stumme Herz“ – über drei Generationen von Frauen.  Auf ihrer Lesung in Berlin wurde die hierzulande als Feministin geltende Autorin von ihrer Übersetzerin Eva Müller, einer Betreuerin, einer Dolmetscherin und einer Vorleserin flankiert. Trotzdem oder gerade wegen dieses sprachlichen Begleitschutztes fiel es schwer, ihr zu glauben. Das hängt mit dem Unterschied zwischen der chinesischen und der deutschen Schriftsprache zusammen, der unsere Sinologen oft veranlasst, das fremde Denken und Empfinden dem hiesigen Leser dadurch näher zu bringen, dass sie die Sprache in einen bekannten – literarisch ausgewiesenen – Jargon kleiden. So spricht in Mao Duns Schanghai-Roman „Zwielicht“ ein junger, schneidiger Kuomintang-Offizier im Salon genauso abgehackt wie die preußischen Offiziere bei Theodor Fontane. Und die blutjunge Pekinger Autorin Mianmian redet in ihrem Kurzroman „Lalala“ wie die Teenager in den angesagten Berliner Clubs …  Aber Missverständnisse sind dazu da, um ausgeräumt zu werden. Darum bemühte sich die Riege der Intelligenzlerinnen um Zhang Jie an diesem Abend nach besten Kräften. Trotzdem wirkt es immer seltsam, wenn die Hauptperson entweder stumm ist oder nicht zu verstehen, weil sie Chinesisch redet. Sie lächelt vornehm und lässt uns sozusagen aus dieser Ferne ausrichten: Zwischen dem Horizonte-Festival in Berlin 1989 und den jetzigen 3. Asien Pazifik Wochen habe sie viele Menschen verloren. Einige sind gestorben, Freundschaften sind zerbrochen, und auch ihre Gesundheit hat sie verlassen. Geblieben sei ihr die Literatur.  Woraufhin sie auf ihr letztes, „zweifellos bestes“ Werk zu sprechen kommt: „Das stumme Herz“, von dem in China bereits 70.000 Exemplare verkauft wurden und für das sie drei Literaturpreise bekommen habe. Von da aus liebäugelte sie kurz mit dem von der Kulturrevolution bekämpften Geniebegriff (mit ihrer „Begabung“), um sodann quasi auf das Gegenteil zu sprechen zu kommen: Dass die Literatur in der Krise sei, weil im Zuge der Globalisierung die Ideale („Helden, Bewegung, Turbulenzen, Leichen und Leidenschaften“) abhanden gekommen seien: „Es wird keine edlen Schriftsteller mehr geben, nur noch gute!“ Die Literatur drohe der Unterhaltung zu „verfallen“, aber es sei mit ihr nicht so wie bei einem Straßenmädchen: „Sie ist schwierig zu verstehen.“ Dazu konnten wir, die Zuhörer, nur stumm nicken.  Zhang Jie kuckte über ihre Brille hinweg in unsere erwartungsvollen Gesichter – und erinnerte sich prompt an Afrika: Es sei nämlich sehr bedauerlich, dass dieser Kontinent vor 2 Millionen Jahren vom Festland weggedriftet sei – und damit auch von China, wodurch ihr zum Beispiel die Gelegenheit genommen wurde, eine Äthiopierin zu sein. Die Männer sind demgegenüber kontinentübergreifend identisch, das heißt von Übel und eher „wie Tiere“. Da war sich das Publikum endlich nahezu einig, zumal Zhang Jie dazu eine Passage aus ihrer Familientrilogie vorgelesen hatte, in der die Tochter zusieht, wie der Vater die Mutter schlägt, mit heißen, nassen Wäschestücken.

Das Sterben der China-Restaurants

Mach, daß der Reichtum zu uns kommt“, steht auf der Schriftrolle des lachenden Buddhas. Mehr als ein frommer Wunsch: China-Restaurantbesitzer gehörten zu den ersten Investoren im Osten, – und es ist auch heute noch ein boomendes Gewerbe, das von Ost- wie Westdeutschen geschätzt wird. Allein in Berlin gibt es 700-800 Lokale. Sie haben so geheimnisvolle Namen wie „Tien Tan“ (Himmelstempel), „Jin Shan“ (Der goldene Berg), „Yang Shin“ (Hammelstadt), „Feng Hua“ (Gedeihendes China), „Kang Le“ (Fröhliche Gesundheit), „Son Do“ (Die neue Hauptstadt) oder schlicht „Bolin“ (Berlin).

Ihre fernöstliche Gestaltung – innen wie außen – kontrastiert aufs Schönste mit deutscher Backstein-, Platten-, Fachwerk- und Gründerzeit-Architektur.  Was an der Fassade anarchisch wirken mag, kam ursprünglich einmal auf Bestellung. In Europa gibt es fünf große China-Restaurantausstatter: in London, Paris, Amsterdam, Hamburg und Berlin, wo eine Firma namens „Sino-Deco“ ansässig ist. Dort bekommt der Gastronom China-Dächer (für 400-600 Mark), Drachensäulen (1.900-3.200 Mark), rote China-Tresensäulen, beleuchtbar (1.450 Mark), Löwen (50-2.500 Mark), Glas-Jade-Paravents (1.400 Mark), China- Fenster mit Glasschnitzereien (600 Mark), Drachen-Türgriffe (80 Mark), Pagodentorbogen „Pailu“ (auf Anfrage), Holzwandbilder Fee, Vogel oder Phönix (2.200 Mark), Palastlaternen mit Glasmalerei (190 Mark), Reisschalen mit Löffel (2,10 Mark), hölzerne Eßstäbchen (2.000 St. – 200 Mark). Alle Einrichtungsgegenstände werden aus der VR China, Taiwan oder Hongkong importiert. Die dortigen „Handwerksfabriken“ sind in der Lage, auch spezielle Wünsche zu erfüllen; die innenarchitektonischen Pläne werden in der „Sino-Deco“-Zweigstelle Taipeh gezeichnet.

Bei der Außenarchitektur sind den individuellen Vorstellungen der Restaurantbesitzer in Deutschland – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern – enge Grenzen gesetzt. Sieben Ämter müssen ihre Genehmigung erteilen, was bis zu einem Jahr dauern kann. „Viele meiner Kunden würden den Eingangsbereich gerne viel opulenter gestalten“, sagt Markus Fehr, Inhaber von „Sino-Deco“, ein 35jähriger Wirtschaftswissenschaftler und Sinologe. „Im Holländischen Viertel Potsdam durfte zum Beispiel das ,Chinatown‘ nur eine 30 Zentimeter hohe Messingschrift verwenden und die goldenen Löwen vor der Tür müssen nachts reingeholt werden.“ Im Einrichtungsstil der China-Restaurants macht sich derzeit ein Trendwechsel bemerkbar. Weg vom dunklen, überladenen Palaststil der Mandschu- und Ming-Dynastie mit viel ornamentierten Deckenplatten aus Mahagoni, Glasfiber und Lack. Die neue Mode gleicht einer Art Rückbesinnung auf den schlichteren, feineren „Teehaus-Stil“ der Sung- und Tang-Dynastie. Drache und Phönix sind „out“, Buche, Glas und Spiegel dagegen im Kommen. Das bedeutet nicht, auf Luxus zu verzichten, das Spandauer „Evergreen“ zum Beispiel eröffnet demnächst den ersten Chinesischen Garten der Stadt, mit Teich, Teehaus und neunwinkliger Brücke. Leider erlaubte das Planungsamt nur, die Gartenmauer zum Parkplatz 80 Zentimeter hoch zu bauen, was den Einbau eines runden Mond-Tores verunmöglicht, durch das einzutreten Glück bringt.

Angela Maung-Yin, eine in Berlin lebende Dolmetscherin aus Taiwan, erinnert sich, die romantische, zuweilen ins Pompöse rankende Ausstattung von China-Restaurants erst in Deutschland kennengelernt zu haben. „Ich glaube, daß dieser Geschmack sich am hier vorherrschenden China-Bild orientiert, und das ist von kitschigen Filmen geprägt.“ Ähnlich verschlungen erklärt uns Markus Fehr die Restaurant-Ästhetik: „Der sogenannte ,Hotel-Stil‘ kam aus Amerika und Europa nach Südostasien und China und beeinflußte dort den Bau luxuriöser Restaurants, die oft in Hotels sind. Von dort schwappte der Stil auf die Straße und kam sinisiert bei den Auslandschinesen hier wieder an. Typisch dafür sind zum Beispiel die Rezeptionstische und Glastrennwände mit Messing.“  Die Ausstattung eines China- Restaurants kostet durchschnittlich 150- bis 300.000 Mark, ohne Küchen- und Lüftungseinrichtungen. Eine Berliner Unternehmerin investierte gar 800.000 Mark. In der Regel benötigt man für eine Neueinrichtung ein Drittel Eigenkapital, den Rest gibt die Brauerei und eine Bank, die nicht selten eine chinesische Kreditgenossenschaft ist. Zwar wird das Restaurant zumeist als Familienbetrieb geführt, als Köche werden jedoch gerne qualifizierte Leute aus China, Hongkong oder Taiwan angestellt. Neben dem Lohn bekommen sie hier oft noch Kost und Logis. Dabei ist es ihnen möglich, bis zu 15.000 Mark jährlich zu sparen. Wenn sie nach acht Jahren eine Aufenthaltsberechtigung bekommen, können sie eine eigene Konzession beantragen. Bis dahin haben viele schon einen Teil ihrer Familie nachgeholt, und zur Eröffnung ihres Restaurants brauchen sie nun neue Köche aus China.

Vielleicht wegen ihres original-chinesischen Ambientes werden die Restaurantbesitzer im Ausland häufig mit einer anderen Art chinesischer Folklore in Verbindung gebracht: den „Triaden“. Die Berliner Polizei hat sogar eine kleine Soko dafür abgestellt. Über Spanien und Tschechien sind wiederholt Flüchtlinge aus der VR China hier als Schwarzarbeiter aufgetaucht. Wegen zu hoher Verschuldung haben einige Erpressungsversuche unternommen.  Auch wenn diese Fälle von der Soko nicht als „organisiertes Verbrechen“ eingestuft werden – bei den Restaurantbesitzern bewirkten sie eine große Verängstigung. Vor allem befürchten sie Entführungen. Asiatische Restaurantbesucher werden – wenn sie das erste Mal im Lokal sind – vom Besitzer anfänglich beargwöhnt. In Asien gehört es fast schon zur Normalität, daß reiche oder auch nur so aussehende Chinesen in ständiger Angst leben.  Das macht vielleicht die so häufige Anwesenheit der Vier Buddhas in den China-Restaurants verständlich, die „Langes Leben“, „Glück“, „Hohes Ansehen“ und „Reichtum“ symbolisieren.

In Deutschland gab es nie „Chinatowns“. Die Chinesen siedelten sich hierzulande dort an, wo es noch Platz für ein China-Restaurant gab, also stets mit maximalem Abstand zu anderen Chinesen. Folgerichtig waren sie, als die Mauer fiel, die ersten Westler, die Ostdeutschland mit ihren Restaurants überzogen – flächendeckend.  Und manchmal auch mit chinesischem Humor: So nannte zum Beispiel der Wirt in Bitterfeld sein Restaurant „Verbotene Stadt“. Bis dahin hatte es bloß ein China-Restaurant in der DDR gegeben: in der Friedrichstraße Ecke Leipziger, wo man den Tisch ein ganzes Jahr im Voraus bestellen musste.

Die meisten Chinesen im Westen waren Dissidenten, Hongkong- und Nationalchinesen (also aus Taiwan) – Letztere zog es vor allem nach Westberlin.  In der Frontstadt empfand man ähnlich wie die Leute auf Taiwan: „Wir sind eine kleine Insel in einem Roten Meer“ – und leistete deswegen schnelle und unbürokratische Hilfe in Form von Dauervisa, wenn es sich um die Brüder und Schwestern aus dem (Fernen) Osten handelte.  Hinzu kamen mit der Zeit auch einige, die hier studierten – und dann blieben. Sie waren zwar „links politisiert“, leisteten aber trotzdem ihrer Community (5.500 Chinesen leben allein in Westberlin) gute Dienste, machten auch irgendwann Geschäfte mit Hongkong und Taiwan – oder eröffneten hier eben ein China-Restaurant.

1990 fing die taz-Autorin Dorothee Wenner an, all diese etwa 800 Restaurants zu fotografieren – von außen. Eingerichtet waren alle Restaurants durchgehend entweder im überladenen „Palast-Stil“ der Mandschu- und Ming-Dynastie oder im schlichteren „Teehaus-Stil“ der Sung- und Tang-Dynastie. Beide kamen dem überwiegend von Kitschfilmen geprägten China-Bild der Deutschen entgegen. Entstanden waren sie jedoch aus dem europäischen „Hotelstil“, der erst amerikanisiert wurde und dann mit den expansionistischen Bestrebungen der USA nach China gelangte – wo man ihn sinisierte.

Die Inhaberin des zweistöckigen China-Restaurants am U-Bahnhof Weinmeisterstraße kaufte zum Beispiel für über 500.000 Mark Einrichtungs- und Außenverkleidungs-Gadgets bei ihnen. Jetzt ist dort aber ein Tex-Mex-Laden drin. Aus einem großen China-Restaurant in der Torstraße machte die Künstlerin Laura Kikauka den „White Trash“-Club.  Mit den China-Restaurants geht es zu Ende! Das ist die Folge der großen Imagekorrektur, die China gerade durchmacht – und zu der diese Folklore-Restaurants nicht mehr passen. Wir, die Gäste, haben uns auch noch nicht dran gewöhnt, dass China bald den Ton angibt. Die Wirtschaftsstudenten an den Fachhochschulen scheinen es aber schon geschnallt zu haben: Immer mehr studieren nebenbei Chinesisch. Und neulich bekam ich bei einem Stehimbiss in der Konrad-Adenauer-Stiftung mit, wie ein rechter Historiker einen exmaoistischen Reifenhändler fragte: „Sie sind schon wieder auf dem Langen Marsch, hörte ich …?“ – „Ja,“ bestätigte der, „nach Schanghai haben wir jetzt auch noch in Kanton eine Filiale.“ So reden heute die Westberliner. Udo Waltz ist da in Peking schon fast die Nachhut!

Das Riesenreich lockt daneben aber auch zigtausend Kanalisationsdeckeldealer hervor, in fast allen Ländern: China zahlt Traumpreise für Altmetalle – Sero war der reinste Finderlohndrücker dagegen! Ein Moabiter Schrotthändler verlangte neulich schon fast verzweifelt auf einem Transparent an seinem Zaun: „Gullydeckel für China!“ Im Wedding und in Reinickendorf gibt es bereits Dutzende von Hartz-IV-Empfänger, die auf ihren langen Atem vertrauen und keine Pfandflaschen mehr zurückbringen – mit der Begründung: „Wart’s ab, in ein paar Jahren zahlt der Chinese uns dafür ein Vermögen.“  Für die China-Restaurants ist das aber alles nur schädlich! Die Chinesen sind auch die ersten, die ihre Fabriken auf Billiglohnschiffe gepackt haben: Ihre Frachter, die Tropenhölzer aus Brasilien rausholen, verarbeiten diese bereits während der Fahrt an Bord. Auf dem Festland sind derweil zigtausend chinesische Holzfäller dabei, die sibirischen Wälder zu Essstäbchen zu verarbeiten, wie der Spiegel schreibt.  Wir haben diese Sinisierung noch gar nicht richtig begriffen.

Als die Chinesen neulich verkündeten, sie würden nun selbst Magnetschwebebahnen bauen und damit das „Transrapid-Konsortium“ (unter anderem Siemens) aus dem Geschäft warf, maulte die Boulevardpresse: „Sie haben uns das gute deutsche Know-how geklaut.“  Umgekehrt wird ein Schuh draus: Als das Reich der Mitte schon die ersten Boulevardzeitungen verbot (unter Konfuzius – vor über 2.500 Jahren), hockte man hier noch auf Bäumen – und dachte nicht einmal in den kühnsten Träumen daran, den deutschen Wald zu Papier zu zerschreddern. Die Botschaft scheint langsam hier verstanden zu werden. Leider müssen die China-Restaurants das ausbaden.  Aber auch Dorothee Wenner hat das zu spüren bekommen: Sie wollte einer Kunstgalerie in Taipeh eine Ausstellung mit Dias von deutschen China-Restaurants nahe legen. Zu diesem Zweck schickte die Berliner Taiwanese Agency sie sogar auf Staatskosten in ein Fünfsternehotel der Kuomintang-Hauptstadt: Seit die Nationalchinesen auf Druck von Rotchina fast nirgendwo mehr Botschafter haben dürfen, meinen sie nämlich, mehr als alle anderen auf gutwillige ausländische Journalisten angewiesen zu sein.  Allein, die Taipeh-Galeristen sahen in den China-Restaurant-Dias bloß noch Nostalgie aufscheinen. Für sie ist jetzt Schanghai maßgebend! Es nützte nichts, dass Dorothee versprach, jedem Bild noch einen einfühlsamen Text über den Restaurantbesitzer beizufügen. Dazu hatte sie zuvor bereits mit einer befreundeten Dolmetscherin etliche Westberliner Restaurants besucht. Lange mit dem kantonesischen Germanisten Fang Yü diskutiert, der nach der Wende als erster Westberliner ein China-Restaurant im Osten, in Prenzlauer Berg, eröffnete. Dieses jedoch nicht mehr von Sino-Deco einrichten ließ, sondern von einer jungen Künstlerin aus Schanghai. Ohne es zu wollen, läutete er das Ende der übrigen deutschen China-Restaurants ein – mit seinem Lokal, das er prophetisch „Ostwind“ genannt hatte, denn in China sagt man über einen, der andere Mitbewerber alt aussehen lässt: „Der Ostwind bläht ihm die Segel.“

Auch Dorothee Wenner war zu dem Zeitpunkt noch ahnungslos – und hatte deswegen auch noch ein Interview mit dem Chef von Sino-Deco geführt, dessen Geschäft zu der Zeit, kurz nach der Wende, noch blühte. In Taipeh hatte sie dann auch noch die Keramik- und Möbelfabriken besichtigt, die seine Restauranteinrichtungen produzierten. Deutschland war einmal der größte Markt auf der Welt für diese China-Restaurant-Einrichtungswerkstätten.  Ja, man kann sagen, all diese derart ausgestatteten China-Restaurants von Sylt bis Oberbayern und ab 1990 von Suhl bis Rügen sind typisch deutsch. Das sehen auch die in der Hinsicht weitaus sensibler als Kulturanalysten reagierenden „Nationalstolzen“ (W. Schäuble) so, denen sie schon lange als Traditionslokale dienen, wobei ihr Stammplatz in der Regel die Drachenecke ist. Deswegen waren sie von der Gastseite aus auch die ersten, die den langsamen Untergang der China-Restaurants in Deutschland mitbekamen, indem zum Beispiel plötzlich nur noch junge spanische Touristen an den leeren Tischen Platz nahmen, Chop Suey bestellten und dabei die ganze Einrichtung mit ihren Handys abfotografierten. Das war ein deutliches Zeichen: Ihr Traditionslokal wurde zu einem Folkloremuseum.

In der deutschen Gastronomie begannen sich die Vietnamesen durchzusetzen. Allen voran Monsieur Vuong mit seiner gleichnamigen Suppenkultküche in Berlin Mitte. Eine Zeit lang versuchten die hiesigen Inder und Araber noch mit „Singapur“ und Fusionfood gegenzusteuern, aber das war bloß ein halbherziges Schanghaien. Während die Vietnamesen quasi aus dem hohlen Bauch heraus schöpften. Das verstand und versteht jeder! Zur gleichen Zeit wurden übrigens die italienischen Wirte von der türkischen und libanesischen Gastronomie aus den unteren Preisklassen verdrängt.  Und in den oberen bekamen sie Konkurrenz von den Clubscene-Lokalen, deren Stärke weniger im Kochen als im Formulieren der Speisekarte liegt. Fang Yü wollte da nicht mitmischen und verkaufte seinen „Ostwind“ – mit Gewinn, um sich dem Theater zu widmen. Während Dorothee Wenner auf ihren Dias sitzen blieb, obwohl die Zeit für eine abschließende Würdigung des deutschen China-Restaurant-Phänomens mehr als reif war.


Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/auf_china_zeigen_6/

aktuell auf taz.de

kommentare