Der Bär flattert in nordwestlicher Richtung.
Dieses Märchen handelt von einem, der auszog, das Französische zu lernen. Allerdings hat in meiner Geschichte der Vater nur den einen ungeratenen Sohn: Die Rede ist von Peter Kuper, genannt Hamlet, der inzwischen durch sein Buch zu einem Frankfurter Original avancierte. Als junger Mann war er eine Weile mit Helga Matura zusammen, der zweitberühmtesten Hure vom Autostrich – nicht als ihr Zuhälter, eher als Diener, denn sie zahlte ihm nur ein Taschengeld. Der Matura-Mörder wurde nie gefaßt. Kein Wunder, wenn man bedenkt, daß sie auch die Kokotte eines saudischen Prinzen war, der ihr den Cadillac schenkte, mit dem sie ihre Runden drehte. Aber ich will hier keinen neuen Handstreich gegen die Opec verüben, sondern nur von Hamlet berichten, der mir bei meinen Streifzügen durchs Nachtleben aufgefallen war.
Als komische Szenefigur geisterte er durch die Frankfurter Halbwelt, ein dünnes langes Elend: »Ich bin einsdreiundneunzig groß«, teilte er jedem ungefragt mit. Und weil er als Kind hellblondes Haar hatte, ließ er es jetzt bleichen. Also lange grellblonde Flusen unter einem schwarzen Hut, dicke blaue Gläser im Ray-Ban-Gestell – der Mann ist extrem kurzsichtig –, und wie Franco Nero als Django trug er einen langen Leinenflattermantel. Dieser dürre, gebeugte Mensch in pittoreskem Aufzug hatte außerdem einen merkwürdigen Gang. Später erfuhr ich von Hamlet, daß er sich diesen »Tigergang« angewöhnt habe, weil ihm als Knabe der wiegende Schritt der schwarzen G.I.s imponiert hatte. So tigert er auch heute noch als Neunundsechzigjähriger in Frankfurt herum. Damit nicht genug, dieser Ausbund regredierter Phantasie führte einen falbfarbenen Afghanenhund an der Leine. Kannst du dir vorstellen, was diese beiden Langhaarigen zusammen für ein seltsames Gespann waren?!
Zum ersten Mal sprach mich Hamlet im ›Dominique‹ an, einem Szenelokal in der kleinen Bockenheimer neben dem ›Jazzkeller‹. Während ich Prinzessin Meyer begrüßte, die mir ihren neuen Freund vorstellte, blies mir ein warmer Atem wie aus Pferdenüstern ins Ohr: »Kurz nach Anbruch der Morgendämmerung betrat Captain Hornblower das Achterdeck der ›Lydia‹ …« Es hatte etwas von einem Zauberspruch, ich war für eine Sekunde perplex, drehte den Kopf zur Seite, da schwebte über mir dieses Gesicht mit blauen Brillengläsern, umrahmt von grellblondem Haar, und die dicken Lippen sprachen: »Das ist von Cecil Scott Forester aus der ›Hornblower-Trilogie‹. Ich hab’ die Bücher fünfmal im Knast gelesen, deshalb kann ich die Stelle auswendig.« Er begann, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen: Hamlet hatte eine Automacke, war auf amerikanische Wagen fixiert, klaute die schon als Junge und saß dafür mit Unterbrechungen acht Jahre im Knast. Was er aber über seinen Vater berichtete, interessierte mich mehr.
August Kuper stammte aus Osnabrück, ging als Journalist nach Berlin, war im Widerstand, von 1942 bis 1943 in den Konzentrationslagern Neuengamme und Buchenwald eingesperrt, 1943 wurde er entlassen und kam zu einer Infanterieeinheit in Radebeul. Nach der Neugründung der SPD wurde er Funktionär in Frankfurt, leitete in der Partei die Sektion ›Sozialistische Aktion‹ und gab eine Zeitung mit gleichlautendem Titel heraus. Darin vertrat er einen strikten gesamtdeutschen Kurs, agitierte gegen die Wiederbewaffnung und den Nordatlantikpakt, verlangte die Zusammenarbeit der BRD mit der DDR. Für die Sozialdemokraten war er also ein gefährlicher Mann; deren Vorsitzender Kurt Schuhmacher mußte sich vom damaligen CDU-Innenminister Lehr vorwerfen lassen, daß seine Partei »kommunistisch durchsetzt« sei. Das stimmte, wenn auch die behaupteten dreißig Prozent kommunistischer SPD-Genossen übertrieben waren. August jedenfalls gehörte zu dieser Fraktion, weshalb die SPD ihn und die anderen Mitglieder der ›Sozialistischen Aktion‹ später ausschlossen. Schließlich wurde er sogar wegen Landfriedensbruch verhaftet, weil er eine Demonstration gegen die ›Verträge von Bonn und Paris‹ organisiert hatte. Und nun geschah das Unerhörte: »August Kuper errang die Freiheit«, titelte die ›Sozialistische Volkszeitung‹, eines der Organe der noch nicht illegalen KPD. Seine Flucht löste 1953 die erste bundesrepublikanische Ringfahndung aus.
2. von links: August Kuper, 1950 bei einer Antifa-Demo in Frankfurt a. M.
Kuper gelang es, den Justizbeamten, der ihn im Kasseler Knast abholte, um den Gefangenen dem Frankfurter Richter vorzuführen, während der Zugfahrt zu überreden, ihn in sein Haus nach Seckbach zu begleiten: »Ich muß noch einige Akten einsehen, außerdem habe ich meine Frau und meinen Jungen lange nicht gesehen. Das fällt doch gar nicht auf, wenn Sie mich etwas später in der Hammelsgasse abliefern.« Der Beamte ließ sich erweichen, bekam aber auch fünfhundert Mark von dem Geld, das August in einem ausgehöhlten Buch versteckt hatte – die DM war 1953 viermal soviel wert als heute. Eine gemeinsame Stunde gewährte der Maschores dem Ehepaar im Seckbacher Wohnzimmer, dann wurde es ihm mulmig. Als er nachsah, waren beide getürmt, offenbar eine mit den Genossen wohlvorbereitete Flucht. Die ›Frankfurter Rundschau‹ schrieb: »Trotz sofort eingeleiteter Suchaktionen starker Polizeikräfte und Alarmierung sämtlicher Polizeistationen des Bundesgebietes ist es nicht gelungen, August Kuper erneut zu verhaften. Offenbar gelang es ihm, das Territoium der DDR zu erreichen.« So war es! Dort wurde er Leiter des Zeitungswissenschaftlichen Instituts. Seine Frau Elisabeth Valentina kehrte einen Tag später nach Seckbach zurück, sie wollte nicht im Osten leben. Ihr geschah nichts, doch der Justizwachtmeister, der Kuper zur Flucht verholfen hatte, wurde zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt.
»Mensch, das sind ja tolle Geschichten!« sagte ich zu Hamlet, »vielleicht machen wir einen Film über deinen Vater«, und gab ihm meine Adresse. Seitdem ließ er mich nicht mehr aus den Fängen, rief mich häufig an oder kam in der Günthersburgallee vorbei. Ich besuchte ihn auch mal in seiner Seckbacher Villa, da war alles noch so, wie seine Mutter es vor ihrem Tode verlassen hatte: die Biedermeiermöbel, die Spinnweben in den Trockenblumen – ein Gespensterhaus wie in ›Psycho‹. Peter hatte die Villa seiner Mutter, Elisabeth Valentina Kuper geb. Seufferlein, geerbt und die untere Etage vermietet. Dazu vermachte sie ihm fünfunddreißigtausend in bar, außerdem ihre Anteile am lukrativen Gasthof der Großeltern in Rothenburg nebst ein paar Äckern sowie IOS-Zertifikate. Seine Mutter hatte die gesamte Rente, die sie nach dem Tode des August Kuper bekam, in Papiere des Bernie Cornfeld gesteckt, den der »schöne Erich« Mende als Deutschlandrepräsentant vertrat. Und obwohl zweihundertfünfzig Millionen Dollar des IOS-Vermögens dem Mafioso Robert L. Vesco in die Hände gefallen waren, muß doch mehr Anlagevermögen dagewesen sein, als nach Cornfelds Bankrott vermutet wurde, denn die ehemaligen IOS-Anteilseigner bekamen noch jahrelang Ausschüttungen, so auch Elisabeths Erbe.
Bis kurz vor Weihnachten ruderten wir in den alten Zeiten herum, in einem Meer von Fotos, die wir ins Deutsche Literaturarchiv eingeliefert haben. Wir bringen nun eine Auswahl von ungefähr 50 Fotos, die zu ›Schröder erzählt‹-Geschichten passen und werden sie in nächster Zeit in unser tazblog stellen.
(Fotos: privat / DLA / BK / JS)