vonHelmut Höge 14.06.2009

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Neulich stritten wir uns an der Theke von „Tante Horst“ über „Freiräume“. Petra hielt noch immer die Parole vom letzten Jahr hoch -„Mehr Freiräume“, während wir anderen eher für weniger „Freiräume“ waren, weil sie den Amüsierpöbel aus halb Europa anziehen. Zuerst verdienen diese ganzen „Freiraum“-Betreiber – in Kreuzberg und Friedrichshain – noch an ihnen, aber darüber werden sie erst Thekenschlampen und dann ergraute Zapfer, während der ununterbrochene Strom der Gäste gleich jung und dumm bleibt. Auf diese Weise entstehen aus einem „Netz“ von Freiräumen ganze Kneipenviertel (wie schon in der Schlesischen-, der Bergmann- und der Oranien-Straße. So traditionsreich wie hier der einstige Freiraum „S.O.36“ auch ist – er wurde einst als „Kunst“ von Kippenberger eingerichtet oder vielmehr ausgerichtet, war zwischenzeitlich sogar mal eine Art ABM-Projekt, als die KPD-RZ dort noch ihre Parteitage stattfinden ließ und pflegt immerhin noch Ipeks „Gayhane“-Nächte…seit geraumer Zeit zieht diese Einrichtung jedoch vor allem die „Partypeople“ von nah und fern an – mit Bands, die gleich in ganzen Tourbussen vorgefahren kommen. Daneben und anschließend klumpen sich die juvenilen Massen mit Becksflaschen in der Hand neuerdings auch noch vor Khans „Lucia“ und rund ums „Bateau Ivre“ am Heinrichplatz…. Ich war noch voll von diesem „Streit“ – als ich für die Siegener Studentenzeitung „Fool on the Hill“ einen Text zum Thema „autonome freiräume“ schreiben sollte: siehe unten.

Nach den „Freiräumen“ stritten wir uns aber erst mal über „Baumscheiben“. Die vom DB-Hausmeister Marenke gegründete Zeitschrift „Kiez & Kneipe“ (aus Kreuzberg 61) hatte dazu bereits vor einiger Zeit eine Pro- und Contra-Diskussion gestartet. In Berlin begann diese seltsame Freiraum-Besetzer-Bewegung harmlos damit, dass immer mehr Mieter, vom Umweltschutz angetan (in Kellogg’s Cornflakes-Packungen gab es dafür sogar „Umweltsheriff“-Sterne) angefangen hatten, die Straßenbäume vor ihren Häusern, im Sommer z.B., zu gießen. Einige sprachen auch mit ihren Bäumen – und unterhielten sich abends in ihren Gartenkneipen unter Linden bzw. Kastanien darüber, Was die Bäume sagen. Dabei ärgerten sie sich gelegentlich über die Verschmutzung der Baumscheiben mit kaputten Flaschen, Plastik und allzu viel Hundescheiße. Es erschienen jede Menge teure Photobände über einzelne Bäume. – und es entstanden die ersten „Baumschützer“-BIs. In Berlin fingen daraufhin einige Mieter, angeblich zuerst in Reinickendorf, an, die Baumscheiben vor ihrer Haustür mit kleinen Zäunchen zu umgeben und zu bepflanzen. Bald taten es ihnen andere in anderen Bezirken nach, darunter viele Gewerbetreibende, die sich damit gewissermaßen einen kleinen Vorgarten für ihre Gäste auf dem Bürgersteig schufen, den sie sowieso schon mit Tischen und Stühlen quasi-privatisiert hatten.

In Kreuzberg 61 gab es bald die ersten alternativen Trägergesellschaften , die mit vom Arbeitsamt bezahltem (ABM/MAE-) Personal diese ausufernde Baumscheiben-Inbetriebnahme von unten gewissermaßen staatlich ausweiten und zugleich steuern wollten. Gesagt – gefördert – getan. Dazu ließen sie Schilder für die bereits bepflanzten Baumscheiben herstellen und aufstellen, auf denen sie darum baten, die kleine Grünanlage um den jeweiligen Baum herum zu schützen (oder wie man heute gerne sagt: zu respektieren). Und das mit Unterschrift vom Bezirksamt oder gleich vom Senat. Mit diesen Scheißschildern, die sich nun nach überallhin ausbreiten, wird eine slowmobartige Eigenmächtigkeit quasi im Handstreich legalisiert.

Interessant bleiben natürlich trotzdem die Unterschiede bei der Gastaltung und Nutzung der Baumscheiben durch die Mieter: mal ganz spießig mit geschorenem Rasen und irgendwelchen Stiefmütterchen ind Reih und Glied, mal mit nützlichem Gemüseanbau und mal mit einer gemütlichen Sitzbank drumherum. Die KPD/RZ war nebenbeibemerkt die erste Gruppe, die eine – vom Bezirk auf den Heinrichplatz abgestellte Baumscheibe (ohne Baum) mit einer Sitzbank versah. Bald fingen auch die Künstler an, sich der Baumscheiben vor ihren Ladengalerien bzw. – ateliers anzunehmen – natürlich ebenfalls erst Mal ökologisch inspiriert, aber schon bald platzierten sie auch immer mehr Eigen-„Objekte“ darein. Die Blumenläden in den „Problembezirken“ freuten sich ob des ständig steigenden Umsatzes. Einige spezialisierten sich geradezu auf Baumscheibengrün. Die Architektin Antonia Herrscher fing an, schon fast systematisch die von den Bürgern gestalteten Baumscheiben zu photographieren. Früher oder später mußte es zu einem ersten Berliner Baumscheiben-Photoband kommen – sowie auch zu einem Bezirkswettbewerb „Unsere Baumscheibe soll schöner werden!“ Im Vorfeld kam es in vielen Kneipen zu erhitzten Pro- und Contra-Diskussionen.

Wenn der Schrebergarten die Landwirtschaft des in die Stadt verschlagenen kleinen Mannes ist, dann ist die Baumscheibe der Schrebergarten des ganz kleinen Mannes, meinte Cornelia Köster verächtlich – und auch die o.e. „Kiez & Kneipe“-Ausgabe war voller Verachtung für diesen neuen urbanen Ökotrend, der bereits pandemische Ausmaße angenommen hat. Der in dieser Kreuzberger Zeitung die Contra-Position vertretende Autor war allerdings zuvor im Suff nachts über den Zaun einer Baumscheibe in der Solmsstraße gestolpert – und zwischen die Blumen und Rabatten gefallen, woraufhin er von den Mietern, die diese Baumscheibe angelegt und seinen Sturz mit angesehen hatten, auch noch beschimpft worden war. Cornelia verstieg sich später  sogar zu dem Satz „In einer Straße mit lauter bepflanzten und eingezäunten Baumscheiben möchte ich nicht wohnen.“ Das war aber nun doch übertrieben, fand ich, der eine zeitlang die Dachgärten sowie die Hinterhof-Biotope der meist grünalternativen Mieter in S.O.36 photographiert hatte. In einigen Abschnitten der Oranienstraße sah es, wenn man sich auf einem dieser Dachgärten umkuckte – und dabei in allen Ecken und Nischen sowie Höfen weitere Gärten entdeckte, schon fast aus wie in den Tropen. Natürlich wurden auch diese Biotope nächtens gerne vom juvenilen Amüsierpöbel in Beschlag genommen. Vor allem war es jedoch die ebenso üppige wie teure Bepflanzung dieser Dachgärten und Hinterhöfe denen gegenüber ich die Baumscheiben vorne vor den Türen als geradezu bescheiden empfand. Zudem war dieses Grün im Gegensatz zu jenem öffentlich, d.h. für alle da.

Kurzum: die Baumscheiben vor den Häusern kamen mir vor wie eine vorsichtige, aber nachhaltige Realisierung der blöden, weil englischen Autonomenparole „Reclaim the Street“. Die derzeitig gültige heißt übrigens „Did you ever squatted an airport? – und bezieht sich auf die demnächst anstehende Besetzung des Flughafens Tempelhof, den seine komische CDU-Pseudobürgerinitiativler, die ihn weiter als Flughafen (für Privatjetbesitzer) betreiben wollten, bereits in „Airport“ umbenannt hatten. Solche Squatter-Parolen auf Plakaten in Englisch zu verbreiten, zeigt bereits, wie sehr die Linke inzwischen mit dem per Easyjet anreisenden Amüsierpöbel identisch geworden ist.

Man müßte vielleicht jede einzelne Baumscheibe für sich diskutieren, ich nehme an, Antonia Herrscher kommt irgendwann dazu in ihrem blog. In Neukölln fand sie mehrere Baumscheiben, bei denen die Mieter statt eines Genehmigungsschildes vom Bezirk ein eigenes aufgestellt bzw. an den Baum in der Mitte gehängt hatten: „Nicht kaputtmachen!“ oder „Hunde bitte fernhalten!“, aber auch: „Wer das liest ist doof!“ und „Vorsicht beim Einparken!“ sowie „Straßenbegleitgrün (under construction)“. Außerdem bemerkte sie, dass Füchse und Marder, aber auch Spatzen und Amseln, sowie Mäuse und Ratten, diese Baumscheiben dort als sichere Oasen in den Straßenwüsten benutzen – sie hetzen wie Nomaden oder genauer gesagt: Inselhopper von einer zur anderen. Auf der einen Seite die Straße rauf und auf der anderen wieder runter.

Kann man vielleicht sagen: Während die Baumscheibenbesetzer sich nach draußen vor die Tür bewegen, igeln die Hausbesetzer sich ein, sie ziehen sich von der Straße zurück – bauen sich Hochbetten, Sauna, Veranstaltungsräume und Baumhäuser (im Garten). Der Baum ist nun mal immobil – von altersher sozusagen, aber dass die Autonomen sich freiwillig derart immobilisieren…

Baumscheibe in der Fürbringerstraße, hier haben die türkischen Mieter Gemüse gepflanzt. Photo: Antonia Herrscher

Die Mieter des nächstliegenden Hauses haben an den Zaun ihrer Baumscheibe in Kreuzberg sogar noch einen Picknicktisch angebaut. Photo: Antonia Herrscher

Die Hamburger haben dieses Berliner Baumscheibenprinzip noch nicht richtig kapiert. Das liegt natürlich daran, dass die hansestädtischen Hausmeister extrem pollerabstinent waren und immer noch sind – und deswegen die Stadtverwaltung dort wie blöde pollert. Dieses Bild zeigt, wie Hausbesitzer im Karoviertel zwei Baumscheiben anlegen – lassen: von einer Gartenbaufirma. An die zwei mal vier Ecken pflanzten deren drei Mitarbeiter erst einmal vier dicke Holzpoller. Und die zwei Bäume je einen in der Mitte der Scheibe – pflanzten sie auch gleich mit, denn der Auftraggeber wollte ja partout zwei Baumscheiben und keine bloßen Blumenbeete vor der Tür haben.

Der Hausmeister dieses kleinen Gewerbegebietes im Hamburger Schanzenviertel wollte – ökologisch gestimmt von den ganzen Lohas im Kiez drumherum – ebenfalls eine Baumscheibe anlegen. Aber erstens platzierte er sein „Straßenbegleitgrün“ nicht auf dem Bürgersteig sondern auf der Straße und zweitens vergaß er den Baum in der Mitte der Scheibe.

Und der Hausmeister dieses katholischen Schul- und Gemeindezentrums in Hamburg hat das Berliner „Prinzip Baumscheibe“ sowieso völlig falsch verstanden: Er nahm mehrere Bäume, fällte sie und ließ sie längs in Scheiben à 3 Meter 50 sägen. Anschließend nagelte er jeweils drei Scheiben zusammen und strich sie weiß an. Auf diese Weise erhielt er fünf Horizontalpoller aus Massivholz. Diese dübelte er an die Kante des Bürgersteigs auf dem Gelände, das an den Parkplatz grenzt. Nun können die Autos dort rückwärts nach Gehör einparken.

Und das ist eine glatte Unverschämtheit: Dieses Kneipenkollektiv im Schanzenviertel war zu faul und zu geizig, einen Baum vor ihrer Tür an der Straße zu pflanzen und dann die Baumscheibe drumherum zu begrünen. Selbst einen von der Stadt vergessenen Poller einfach dort einzusetzen, dafür waren sie sich zu schade oder zu öko, deswegen rollten sie bloß einen (Natur-)Findling aus der Lüneburger Heide dort hin – und da liegt er nun. Um das Ganze pseudoironisch, -kritisch oder sonstwie komisch aussehen zu lassen, nannten sie ihre Kneipe dann „Berliner Betrüger“ – und der ganze hansestädtische Amüsierpöbel dort freut sich darüber.

Noch lustloser war nur diese Kneipe um die Ecke, die einfach ohne jeden Kommentar oder ein Augenzwinkern einen dicken Stein vor ihre Tür rollte: „Schanze“ nennt sie ihn – phantasieloserweise.

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Autonome Freiräume

„Die meisten Leute können nicht squatten, sie lassen sich schon von einem Stuhl korrumpieren.“ (Santu Mofokeng, Künstler aus Soweto)

„Von kommunistischer Hand zentral gesteuert finden in diesen Tagen über ganz Deutschland verteilt, Hausbesetzungen statt,“ heißt es in einem Flugblatt, das der RCDS 1981 in Kreuzberg verteilte. Auch die Springerstiefel-Presse gefiel sich in dieser antikommunistischen „Hetze“, nur ging es diesmal nicht gegen internationalistische Studenten, sondern gegen eher „kiez-„, d.h. freiraumversessene“ Hausbesetzer/Punks. Aber auch hierbei: Nicht nur in Deutschland, auch in England, in Italien und in anderen Ländern motivierte „Moskau“ die Jugendlichen, Häuser zu besetzen – selbst in der Schweiz: Für kurze Zeit führte Zürich sogar die diesbezügliche „Randale-Hitliste“ an, die von „taz“ und „pflasterstrand“ eine zeitlang geführt wurde. Damals bestand die komplette Berliner Lokalredaktion aus „Hausbesetzern“. Sie zählten im Gegensatz zur Inlands-Redaktion allerdings zu den „Verhandlern“. Und der heutige Spiegelredakteur Michael Sontheimer wohnte nicht einmal in einem besetzten Haus.

Als der „vermummte“ (Wikipedia schreibt, der „deutsche) Hausbesetzer“ Klaus-Jürgen Rattay am 22.September 1981 in Schöneberg bei einer polizeilichen Räumungsaktion von einem BVG-Bus überfahren wurde, radikalisierte sich die „Bewegung“, die in Berlin genaugenommen mit der „Kudamm-Randale“ 1980 begonnen hatte. Rattay geriet ihr dabei zu einer Art Märtyrer. „Der Stein bestimmt das Bewußtsein!“ Einmal verwüsteten die Autonomen auch die taz-Lokalredaktion, die ein ganzes Journal zu diesem brennenden „Thema“ zusammengestellt hatte – mit einem Steinewerfer auf dem Cover, den sie einem Wandbild des besetzten Zentrums „KuKuCK“ am Anhalter Bahnhof entnahm. Die FAZ sprach analog in bezug auf diese ganzen Immobilien-Kämpfe vom Geschäft des „in Steinen angelegten Geldes“. In Westberlin lebte die halbe Frontstadt davon. Deswegen lag Berlin dann doch – trotz oder gerade wegen der harten CDU-„Lummer-Linie“ – schnell in puncto Hausbesetzungen vorne.

Im Sommer 2008 besuchte ich ein beschauliches Tal im Baskenland – und erfuhr dort als erstes vom Lokalredakteur, dass es im Tal die ersten zwei Hausbesetzungen gegeben habe, aber nicht zum Wohnen, sondern als Kultur- bzw. Jugendzentrum. In Bremen hatten wir 1976 eine leerstehende „Faber-Castell-Fabrik“ als ein solches Zentrum besetzt gehabt. Aber das war ein großer Fehler gewesen: Die Stadt war nur allzu froh, dass sich 50 und mehr linke Idioten dieses innerstädtischen Schandflecks annahmen – und ihn kostenlos aufhübschten. Eigentlich brauchte damals in Bremen kein Schwein solch ein „Kultur- bzw. Jugendzentrum“ – und die dort wohnenden und unentwegt Wände einreißenden Genossen verdrückten sich denn auch bald zurück in ihre gemütlichen Wohngemeinschaften. Anders in Zürich – dort ging es seit den „Opernkrawallen“ Ende Mai 1980 um das Autonome Jugendzentrum – AJZ und die „Rote Fabrik“. „Züri brennt!“ drohten sie – und heute ist das Fabrik-„Kollektiv“ eine konventionelle Veranstaltungsmaschine mit Seeblick und Angestellten, denen die Entstehungsgeschichte „ihres“ Dienstleistungsunternehmens ziemlich am Arsch vorbei geht.

In Bremen ging es mit dem dortigen Juwel der Hausbesetzerbewegung, der Faber-Fabrik, dann so zu Ende, dass 80 Kartons mit blauen Faber-Kugelschreibern, die bei der Besetzung im Keller gefunden worden waren, nach nebenan in das ebenfalls von allen Besetzerinnen verlassene „Frauenzentrum“ geschafft wurden, wo nur noch der Gründer des anarchistischen Bremer „Impuls-Verlages“ – Jimmy, mit seinem Schäferhund Maro, noch ausharrte. Der harte Besetzer-Kern, Männer wie Frauen, erwog unterdes, ob man statt der gerade hinter sich gebrachten BluBo-, sprich: Immobilien-Lösung nicht doch eine „nomadische Kriegsmaschine“ hätte bilden sollen – wie sie damals bereits mit den Wohnwagenleuten (den Rollheimern) und den französischen Theoretikern, Gestalt annahm. Zu diesem Zweck rüstete man erst einmal eine Expedition ins hinterste Anatolien aus – unter der Führung des einst von dort nach Bremen geflüchteten maoistischen Lehrers Suleymann. Dieser bestand aber darauf, dass die Karawane in seine Heimat alle Faber-Castell-Kartons mitnehmen müsse – und konnte sich auch mit diesem „Wahnsinn“ durchsetzen. Schon gleich hinter der Grenze startete er eine gigantische Alphabetisierungskampagne auf Privatbasis, indem er überall Kugelschreiber verteilte. Und das erwies sich dann als ein wahrer Segen – vor allem für die hinter Suleymann Herfahrenden: Immer wenn die Verbindung zwischen den Autos riß, brauchten sie bloß nach Passanten Ausschau zu halten, die mit einem blauen Kugelschreiber in der Hemdtasche herumliefen, schon wußten sie, dass sie noch auf dem richtigen Weg waren.

Die Hausbesetzerbewegung bestand nicht aus obdachlosen Jugendlichen. Es ging den meisten Beteiligten um die Schaffung eines gemeinsamen Lebensraumes. So sah das – zynisch – auch der damalige Berliner Kripoleiter Schenk: „Es ist doch prima, wenn die jungen Leute sich handwerklich in sinnvoller Weise betätigen: Da lernen die was – und kommen nicht auf dumme Gedanken“. Die Nichtverhandler begriffen denn auch die ganze Hausrenoviererei als eine üble Form der „Entpolitisierung“ – sie drängten darauf, die Bewegung weiter zu radikalisieren und auszuweiten. Ihr Sprachrohr war u.a. die Zeitschrift „radikal“, die einst vom jetzigen Genmais-Bekämpfer Benny Härlin mitgegründet worden war, der aber dann zu den „Verhandlern“ zählte und als taz-Lokalredakteur deswegen auch von den autonomen Militanten immer wieder angemacht wurde. So dass es mehr als eine Ironie der Geschichte war, dass die Polizei dann ausgerechnet ihn – in seiner Eigenschaft als alter „radikal“-Veinsvorsitzender – in Haft nahm. Die Grünen (AL) stellten ihn jedoch flugs als Europa-Kandiaten auf und als er die Wahl gewann, war er für die Westberliner Justiz immun.

Das Problem aber, um das es dabei eigentlich ging, hatte bereits der Sowjet-Pädagoge A.S. Makarenko umrissen, als er Mitte der Zwanzigerjahre über die von ihm gegründeten „Kinder-Kolonien, die ihre Motivationsbilanz auf das Handwerk aufbauen“, schrieb, dass die Jugendlichen als angehende Schuster, Tischler, Maurer etc. immer mehr „Elemente des Kleinbürgerlichen“ annahmen. Und diese stehen der Entwicklung eines revolutionären Kollektivs entgegen, wie er es anläßlich des Umzugs der Gorki-Kolonie in eine größere in der Nähe von Charkow sogar an sich selbst bemerkte – nachdem sie ihr knappes Hab und Gut zusammengepackt hatten und dabei eine Menge sauer erworbenes bzw. organisiertes „Eigentum“ zurück ließen: „All diese ungestrichenen Tische und Bänke allerkleinbürgerlichster Art, diese unzähligen Hocker, alten Räder, zerlesenen Bücher, dieser ganze Bodensatz knausriger Seßhaftigkeit und Wirtschaftlichkeit war eine Beleidigung für unseren heldenhaften Zug…und doch tat es einem leid, diese Dinge fortzuwerfen.“ Es mußte jedoch sein!

Die taz löste sich in der „chaotischen“ Hausbesetzerzeit langsam von der „Bewegung“ und bemühte sich, ideell und materiell „autonom“, d.h. „professionell zu werden. Ironischerweise half ihr dabei mehrmals der autonome „Nichtverhandler“ Armin Meyer, dessen Hausbesetzer-Sohn Mao später eine taz-Kolumne mitbestritt, obwohl auch er seit 1980/81 davon überzeugt war: „taz lügt!“

Inzwischen ist neben Armin Meyer noch ein gutes Dutzend Hausbesetzerkollektiv-Reste aus der Oranienstraße nach Niederfinow aufs Land gezogen – und das BKA gleich mit: die Beamte installierten ihre Überwachungskameras dort 2006 in einem leerstehenden Brunnenhäuschen. Aber nicht nur ihre Büttel, auch das Kapital selbst wurde flexibel: Ulrich Möller, Ex-Staatsanwalt in den Reihen der Moabiter Polit -Garde hatte 1988 als Besitzer des ‚Stuttgarter Hofes‘ am Anhalter Bahnhof direkt neben dem früheren KuKuCK, das er einst durchsuchen ließ, nichts mehr dagegen, dass künstlerische Besetzer die Ruine in Beschlag nahmen: „Die nicht zahlenden Gäste“ durften bleiben. Und aus der „Murales“-Idee – revolutionäre Wandgemälde – machte der beim größten Westberliner Baulöwen Klingbeil in die Lehre gegangene Architekt Reinhard Müller Blow-Up-Werbeplakate, die er seit 2001 über alle Baudenkmäler der Stadt hängt, um sie dahinter kostenlos zu renovieren: Seinen Gewinn schöpft er aus den üppigen Werbeeinnahmen. Als seinen  Geschäftsführer stellte er dafür einen Ex-Hausbesetzer ein. Auch das Kulturzentrum „Tacheles“ in der Oranienburgerstrasse war erfolgreich: Dank der vielen Berlin-Touristen wurden die Besetzer so reich, dass sie sich jetzt in hunderten von Prozessen gegenseitig verklagen. Ihr Kollektiv wandelte sich zu einer Bande von Geschäftsleuten. Nicht nur die Kollektive, auch die Hausbesetzungen sehen heute ganz anders aus: Dänen, Irländer, Engländer, Österreicher, schwäbische Erben, aggressive US-Fonds und kanadische Investorengruppen – sie alle kaufen billige Immobilien in Berlin, hübschen sie mit bulgarischen Handwerkern auf, erhöhen die Mieten, säubern die langjährig gewachsenen Mieter-„Zusammenhänge“ hinaus – und verkaufen die Häuser anschließend mit Gewinn. Angelegt war diese Sauerei schon bei den noch halbwegs illegalen Hausbesetzungen: Da bezog z.B. eine Gruppe ein Haus am Klausener Platz in Charlottenburg, sofort rief einer seinen Architektenvater zu Hause in Künzelsau an – und der prüfte daraufhin die Bausubstanz. Anschließend riet er den „Kids“, ein „geeigneteres Objekt“ zu besetzen. Das war 1981. Der Hamburger Historiker Arndt Neumann hat kürzlich die Geschichte von den „Alternativprojekten“ zum neoliberalen „Management“ veröffentlicht: „Kleine geile Firmen“ heißt sein Buch.

Bei den zwei derzeitigen Prestigeobjekten der Berliner Autonomen: dem geräumten und vom Bezirk im Künstlerhaus Bethanien einquartierten „Neu York“ und der „Köpi“ in der Köpenickerstraße, die trotz oder neben aller Radikalität bisher erfolgreich „verhandelten“, ist die Zukunft noch offen: Schmiert sich ein folgsames Räderwerk ein oder bereitet sich da eine Höllenmaschine vor? Erst einmal platzten jedoch gerade die Verhandlungen zwischen der Kreuzberger Bezirksverwaltung und den „Neu Yorkern“, letztere mobilisieren seitdem erneut die Öffentlichkeit rund um ihren Bethanien-Südflügel.

Viele große „Kulturprojekte“ der Westberliner Hippie- und Alternativ-Scene gerieten bereits nach dem Fall der Mauer in die politische und kulturelle Seniorität: UFA-Fabrik, Tempodrom, tageszeitung und Künstlerhaus Bethanien z.B., oder sie verkamen unter staatlicher Regie – wie das nun aufgehübschte „Haus der Kulturen der Welt“, wo statt der „DritteWelt-Sympathisantenscene“ heute ausgelutschte Beamte aus den Goethe-Inistituten und BRD-Botschaften „Multimedia-Events“ projektieren. Noch mitten in der Wende wurden jedoch neue „Freiräume“ aufgetan bzw. besetzt: Allen voran die „Mainzer Straße“, die jedoch der rotgrüne Senat unter dem Bürgermeister Walter Momper schnell räumen ließ. Dann die „Kulturbrauerei“ im Prenzlauer Berg, die längst zu einer öden Top-Event-Adresse kaputtrenoviert wurde (von einer FU-Feministin). Ferner die „Tacheles“ genannte Ruine an der Oranienburgerstraße. Dieses „Riesenprojekt“ wurde wie erwähnt derart gut angenommen, dass seine Betreiber schon nach kurzer Zeit völlig korrumpiert und vom Koks verblödet waren. Dafür machte eine andere kreative Hausruinen-Besetzung – bis heute – von sich reden: die „Köpi“.

Am 23. Februar 2008 freute sich ausgerechnet das Schweineblatt des Springerstiefelkonzerns BZ: „Besetzerhaus ‚Köpi‘ in Mitte feiert 18. Geburtstag“. Aus diesem Anlaß gibt die „Hausgemeinschaft von Berlins bekanntestem linken Wohnprojekt ein großes Fest“. Am selben Tag titelte der „Tagesspitzel“ des nicht minder rechten Holzbrinck-Konzerns: „Das ‚Köpi‘ wird volljährig“. Kurz zuvor hatte der Leiter des Spiegel-Hauptstadtbüros einen dreiseitigen Artikel über „das in der Hauptstadt und weit darüberhinaus bekannte und inzwischen wichtigste linke Wohnprojekt in der ehemaligen Hausbesetzer-Metropole“ veröffentlicht. Das Objekt besteht aus einem um die Jahrhundertwende gebauten Hinterhaus und zwei Seitenflügeln in „erbarmungswürdigem Zustand“ sowie aus einer großen Freifläche daneben – dem „Köpiwagenplatz“ mit Wohnwagen und Zelten. „Die Gemeinschaft funktioniert selbstverwaltet, ihre juristische Form ist ein Verein, die dort Wohnenden haben unbefristete Mietverträge, das sonntägliche Plenum im Versammlungsraum ‚Aquarium‘ ist die zentrale Instanz. Nur Bewohner dürfen teilnehmen sowie Delegierte der zahlreichen Kultur- und Kneipenprojekte, die in der Köpi Unterschlupf gefunden haben und das Areal beleben; Fremde haben keinen Zutritt, Handys sind nicht erlaubt – aus Angst vor Lauschern vom Staatsschutz.“ Dieser hatte zuvor im gegenüberliegenden neuen Gebäude der Hauptverwaltung der Gewerkschaft „ver.di“ einen Spähposten eingerichtet, um herauszubekommen, wieviel „gewaltbereite Jugendliche“ im „Kultprojekt“ leben („rund 70“ meint der Spiegel-Hauptstadtbüroleiter), um was für Leute es sich dabei namentlich handelt („Demian, Frank und Blase“ z.B.) und ob von da aus direkte Aktionen, etwa zum „Abfackeln von Luxuslimousinen“, ausgehen („allein 2007 wurden 111 Autos in Berlin angezündet – meist Firmenfahrzeuge von Siemens und der Bahn AG“).

Fakt ist: Es gibt im Haus laut Spiegel eine „Gruppe für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit“, eine für die „professionell gemachte Internet-Seite“ des Köpi“ sowie gleich mehrere „PR-Beauftragte“, ein Kneipen-Kollektiv, das im „Köpikino ‚Peliculoso'“ jeden Donnerstag kostenlos zwei gute Filme zeigt, die AGH-Kneipe mit angeschlossener „Volxküche“, das „asoziale Kulturzentrum“ (AKZ) im Keller, die Cocktailbar „Koma F“, diverse Partyräume, in denen fast täglich Konzerte statfinden, einen „mit Matrazen ausgelegten Kletterraum“, eine Metallwerkstatt, die Siebdruckwerkstatt „Kommandantur“, eine Sporthalle, in der der „Köpi Fight Club“ trainiert, eine Bar auf dem Hof, wo auch die Autos der Hausbewohner bzw. -benutzer parken und zu festlichen Anlässen ein Lagerfeuer angezündet wird. Der Spiegel-Hauptstadtbürochef will außerdem herausbekommen haben, dass „es in der Köpi mehrere Fraktionen gibt, die sich durch die Haltung zur Gewaltfrage unterscheiden“.

Während eine Junge-Welt-Autorin quasi am eigenen Leib erfuhr, dass die „Köpi“-Betreiber im Gegensatz zu den Hausbesetzern der Achtzigerjahre von Handarbeit nichts mehr wissen wollen: „Die gestalten ihre Webpage mit Flashs und Pop-Ups und nehmen auch keine freie Software dafür, sondern Front Page 4.0 von Microsoft, aber ihre Toiletten sind völlig kaputt und versaut.“

Einig sind sich die Betreiber – „alte und neue Autonome“ (taz) – im „Konzept: ‚Köpi bleibt – und zwar so wie sie ist!“ – das „war und ist für uns nie verhandelbar!“. Als das städtische Objekt nach einem „Rückübertragungsverfahren“, dem Konkurs eines zwischenzeitlichen Eigentümers und zweier erfolgloser Zwangsversteigerungen schließlich auf Betreiben der Hauptgläubigerin Commerzbank im Mai 2007 doch noch einen neuen Eigentümer fand, wurde das „Konzept“ geringfügig erweitert: „Köpi bleibt Risikokapital!“

Der neue Besitzer war ein rechter, mit fiesen „Leibwächtern“ auftretender Ex-Fliesenleger aus dem brandneuen Zuhälter- und Mafiastaat Kosovo, dessen Firma in Pristina sinnigerweise „Plutonium 114“ hieß. Er erwies sich dann jedoch nur als ein „Strohmann“ des wegen zigfachen Betrugs demnächst angeklagten Berliner „Altbausanierers“ Dr. Siegfried Nehls, zu dessen Firmengeflecht u.a. eine „Vitalis Beteiligungsgesellschaft mbH“ gehört. Diese begründete den Erwerb des „Köpi“-Grundstücks mit „Hinblick auf ihre charmanten Nutzungsmöglichkeiten“. Die Ruine wollte sie abgerissen und an ihrer Stelle ein Komplex mit 150 Wohnungen errichten. Am 31. Mai 2008 sollte Nehls das Haus übergeben werden. Die „Köpi“-Leute planten einen „heißen Mai“, rund um den Räumungstermin eine „Aktionswoche“ nebst „Straßenfest“ und luden dazu schon mal „europaweit Gesinnungsgenossen“ ein. Aber dann konnten sie doch laut taz vom 11. März „aufatmen: Das alternative Wohn- und Kulturprojekt ist vorerst gerettet und wird nicht geräumt…Die auf den 31. Mai angesetzte Kündigung, gegen die die Bewohner Klage eingereicht hatten, nahm der Eigentümer laut Köpi-Anwalt Moritz Heusinger zurück.“

Auf der „Köpi“-Webpage liest sich das etwas anders: „Es ist uns in langwierigen und schwierigen Verhandlungen mit dem Eigentümer des Hauses gelungen, den Fortbestand der Köpi als Wohn- und Kulturprojekt zunächst einmal zu sichern. Ursprünglicher Ansatz in den Verhandlungen war die Idee, den gesamten Köpi-Komplex für eine lange Laufzeit komplett in Selbstverwaltung (z.B. in Form eines Erbpachtvertrages) zu übernehmen und die Köpi so dauerhaft dem kapitalistischen Verwertungskreislauf zu entziehen. Eine derartige Lösung scheiterte jedoch an der Hauptgläubigerin, die immer noch weitgehende Vetorechte besitzt (und diese, wie gehabt, gegen die Köpi nutzt). Also haben sich unsere Bemühungen im folgenden auf eine ausdrückliche Bestätigung bzw. Verlängerung der bestehenden Mietverträge konzentriert. Der Eigentümer der Köpi hat im Ergebnis pünklich zum 18. Köpi-Geburtstag die Mietverträge zu den bestehenden Konditionen für alle im Erdgeschoß liegenden Wohn- und Veranstaltungsräume um 30 Jahre verlängert. Die zum 31.Mai 2008 ausgesprochenen Kündigungen der Wohnmietverträge wurden zurückgenommen. Somit gibt es keinerlei ungeklärte Rechtsposition auf dem gesamten Hausgrundstück mehr: Alle Räumlichkeiten sowie Hof und Garten haben ausdrückliche wirksame Mietverträge. Diese Mietverträge erlauben uns einen Fortbestand der Köpi auf absehbare Zeit, ohne dass wir an unserem Konzept, bezahlbaren Wohn- und Kulturraum zu bieten, Abstriche machen mussten.“

Ob die Köpi nun, da die Gefahr erst einmal vorbei ist, den Weg allen „Tacheles“ geht, das ist hier die Frage. Eine weitere: Ob nicht immer und alle Hausbesetzungen – als linke Kultur- und Jugendprojekte – bloßer Etikettenschwindel sind, mit der sich einige junge Leute zu cleveren Immobilienbesitzern/Projektemachern aufschwingen, dabei immer verlogener und gemeiner werden, gleichzeitig jedoch nicht aufhören, Solidarität und Staatsknete einzuklagen? Kommt noch hinzu, dass es sich dabei seit der Wende, und im Gegensatz zu den ganzen Westberliner Hausbesetzungen davor, fast immer auch um Kommerz-Projekte handelt, d.h. um die Schaffung von Einkünften und Arbeitsplätzen. Und diese ebenso verbalradikalen wie geschäftstüchtigen jungen Leute verkaufen dazu ihre politisch-korrekten Waren und Dienstleistungen beileibe nicht zu Schleuderpreisen: vegane Bio-Lebensmittel von Lidl, Rock-,Pop-, Hiphop- und Punk-Konzerte, Lesungen, T-Shirts mit geilen Sprüchen, Partydrogen, CDs, Antifa- und Gender-Ausrüstungen, sowie alle möglichen anderen „scenetypischen Acessoires“.

Um jedes größere besetzte Haus scharren sich überdies seit einigen Jahren sofort einige halsabschneiderische „Hostels“, in denen sich an den Wochenenden die aus Athen, Madrid, Barcelona, London und Rom mit „Easy-Jet“ angedüste Jugend einquartiert. Berlin zieht mittlerweile den Amüsierpöbel aus halb Europa an – und die Stadtregierung sowie das lokale Kapital setzen alle Hoffnungen darauf, dass das noch steigerungsfähig ist. Fast hätte die CDU-Regierung vor einigen Jahren dafür schon die ausklingende „Love-Parade“ in eigene Regie genommen, die sich auch einmal aus der „Hausbesetzerscene“ entwickelt hatte, genauer gesagt: die aus dem Partykeller des Fischbüros in der Köpenickerstraße ans Tageslicht kroch – und sich dann schnell zu einem „Megaevent“ entwickelte, der aus absahnenden Westtechnoprofis und absaufenden Ostravern bestand und vom Berliner Senat wie blöd gefeatured wurde – bis dahin, dass die BVG kostenlos Präservative verteilte und die Wasserwerke kalte Duschen.

Aus dem anfänglichen kreativen Modeschub durch die massenhaft mittanzenden Schwulen wurde immer mehr ein Werbefeldzug für Großdiscos, Clubs und sogar bürgerliche Parteien. Dabei ging es zunehmend alkoholischer, pornografischer und aggressiver zu. Zum Glück hielt der Technotrend, wie alle Popmusikstile, nicht viel länger als 10 Jahre vor. An seine Stelle trat beizeiten bereits der sozialarbeiterisch eingebettete „Karneval der Kulturen“ – ebenfalls mit einer Parade und einer Prominententribüne wie weiland die 1.Mai-Umzüge in Ostberlin, wobei die Promis diesmal jedoch nur die besten Kostüme und Tänze prämieren. Neuerdings schließen sich dem Zug auch immer mehr Technoclub-Wagen an. Der Multikulti-Umzug durch Kreuzberg wurde anfänglich vor allem von Volkshochschulkursen gestaltet. Die VHS hatte in den Jahren davor bereits immer mehr exotische Tänze und Sportübungen in bunten Gewändern, bis hin zu Aerobic, angeboten. Mit der Akzeptanz und der Ausweitung der Multikulti-Umzüge (bis nach Bielefeld) trat jedoch auch hierbei eine Kommerzialisierung ein: Ein wachsende Zahl von Samba-, Bauchtanz- und Kung-Fu-Schulen sowie Dartclubs und Kneipenkollektive beteiligt sich nun an der Parade, nicht zu reden von den tausenden von Tapetentisch-Händlern, die Caipirinhas zu Phantasiepreisen am Straßenrand verkaufen. Auch der „Karneval der Kulturen“ ist aus einem „Hausprojekt“ raus ans Tageslicht getreten: aus der Neuköllner „Werkstatt der Kulturen“. Ihr Träger ist ein Verein, der seit 1993 die ehemalige Löwenbrauerei „bespielt“, mit den „Programm-Segmenten ‚Produktion, Labor und Vermietung'“ sowie mit der ab September 2008 „neupositionierten Verpachtung der Gastronomie“. Das WdK-Projekt – laut seiner Webpage „eine der Säulen der Berliner Kulturszene“ – wird seit Januar von einer Ethnologin, die gleichzeitig Theatermacherin ist und einem Menschenrechtler, der gleichzeitig Betriebswirt ist, geleitet: „Durch diesen Glücksgriff kann die interkulturelle Öffnung Berlins maßgeblich und professionell von der Neuköllner Werkstatt der Kulturen mitgestaltet werden“, teilte dazu der Senatsbeauftragte für Integration und Migration mit.

Ähnlich wie ihr „Karneval der Kulturen“ gerät auch die inzwischen schon traditionelle „1.Mai-Randale“ im benachbarten „Problembezirk S.O.36“ immer mehr zu einem „Topevent“, das seit 1989 erlebnishungrige Touristen von überall her anzieht. Sie wird von verschiedenen, sich ideologisch voneinander abgrenzenden Politinitiativen organisiert, sogar von den „Anti-Deutschen“ mit einer Israelflagge, außerdem von der Bezirksregierung mit rund einem Dutzend Bühnen inklusive Bands sowie 100 multikuturell rekrutierten 1-Euro-Ordnern flankiert und von ca. 600 fliegenden Händlern mit Essen und Trinken versorgt. Die Polizei, die daraus jedesmal eine länderübergreifende Übung macht, ist für die pünktliche Beendigung um 24 Uhr zuständig. Ihre Schlägertrupps sind wegen der nachlassenden Gewaltbereitschaft der „Haßkappen“ bzw. des „schwarzen Blocks“ in den letzten Jahren immer unzufriedener mit ihrem Einsatz rund um den „Kotti“ geworden. Der Bezirk ist nach wie vor schwer zu „händeln“, auch wenn sich inzwischen wie erwähnt allein zwölf „Wohnprojekte“ aus der Oranienstraße nach Niederfinow abgesetzt haben. Am 1.Mai 2009 kam es am „Kotti“ unter der dortigen „Galatabrücke“ zu einigen kleineren Scharmützeln – aus denen der Spiegel-Photograph noch in der selben Nacht (auf spiegel-online) eine derart heiße „Bullen-Haßkappen-Schlacht“ zauberte, dass die Politiker aller Couleur noch Wochen später über diesen „Gewaltausbruch“ debattierten.

Aufgrund seiner „bunten Mischung“ (taz und Faz) stand Kreuzberg zuletzt für ganz Westberlin. Mit dem „Fall der Mauer“ 1989 ging dessen Nachkriegsgeschichte zu Ende. Der Gründer des Literarischen Colloquiums am Wannsee, Walter Höllerer, hat aus diesem Zeitabschnitt einmal ein „Hüpfspiel“ gemacht: „Bildungsträchtig und patriachalisch ging es am Ende der fünfziger Jahre zu. Neugierig aufs breit gestreute Neue, leicht beweglich…,so ging man in die frühen Sechziger. Der Hang zum Statistischen verstärkte sich Mitte der sechziger Jahre…Gesellschaftsbezogen, turbulent und ‚anti-autoritär‘, so gingen die sechziger in die siebziger Jahre über. Ideologische Festnagelungen und ideologische Zerfaserungen, reißbrettplanerische Reformbemühungen mit endlosen Curriculum-Debatten, das gab den frühen siebziger Jahren den Ton. Dann kam der Umschlag, in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, aus überanstrengten soziologischen Themen ins Biologische, Botanische…Handfeste Selbst- und Mithilfe überwiegt die Theorie zu Beginn der achtziger Jahre; Ökologie, auf das City-Leben bezogen; eine Nähe zu Instandbesetzer-Überlegungen.“ Da haben wir bereits den Zusammenhang von Haus- und Baumscheiben-Besetzungen…

Über die bis zum Ende der Achtzigerjahre dominierenden Trends und ihre Träger schrieb der Kulturphilosoph Jean Baudrillard: „Die Menschenrechte, die Dissidenz, der Antirassismus, die Ökologie, das sind die weichen Ideologien, easy, post coitum historicum, zum Gebrauch für eine leichtlebige Generation, die weder harte Ideologien noch radikale Philosophien kennt. Die Ideologie einer auch politisch neosentimentalen Generation, die den Altruismus, die Geselligkeit, die internationale Caritas und das individuelle Tremolo wiederentdeckt. Herzlichkeit, Solidarität, kosmopolitische Bewegtheit, pathetisches Multimedia: lauter weiche Werte, die man im Nietzscheanischen, marxistisch-freudianistischen und Situationistischen Zeitalter verwarf. Diese neue Generation ist die der behüteten Kinder der Krise, während die vorangegangene die der verdammten Kinder der Geschichte war. Diese jungen, romantischen, herrischen und sentimentalen Leute finden gleichzeitig den Weg zur poetischen Pose des Herzens und zum Geschäft. Sie sind Zeitgenossen der neuen Unternehmer, sie sind wunderbare Medien-Idioten: transzendentaler Werbeidealismus. Dem Geld, den Modeströmungen, den Leistungskarrieren nahestehend, lauter von den harten Generationen verachtete Dinge. Weiche Immoralität, Sensibilität auf niedrigstem Niveau. Auch softer Ehrgeiz: eine Generation, der alles gelungen ist, die schon alles hat, die spielerisch Solidarität praktiziert, die nicht mehr die Stigmata der Klassenverwünschung an sich trägt. Das sind die europäischen Yuppies.“ (Nunmehr Lohas genannt)

Es kann deswegen sein, dass die ganzen ruinenhaft heruntergekommenen Punk- und Partyschuppen – neben der „Köpi“ gibt es noch eine ganze Reihe kleinerer – nur Camouflage sind, um den Mythos immer weiter zu transportieren. Bereits 1964 führte Ingeborg Bachmann in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises aus, dass und wie Kreuzberg langsam „im Kommen“ sei: „die feuchten Keller und die alten Sofas sind wieder gefragt, die Ofenrohre, die Ratten, der Blick auf den Hinterhof. Dazu muß man sich die Haare lang wachsen lassen, muß herumziehen, muß herumschreien, muß predigen, muß betrunken sein und die alten Leute verschrecken zwischen dem Halleschen Tor und dem Böhmischen Dorf. Man muß immer allein und zu vielen sein, mehrere mitziehen, von einem Glauben zum andern. Die neue Religion kommt aus Kreuzberg, die Evangelienbärte und die Befehle, die Revolte gegen die subventionierte Agonie. Es müssen alle aus dem gleichen Blechgeschirr essen, eine ganz dünne Berliner Brühe, dazu dunkles Brot, danach wird der schärfste Schnaps befohlen, und immer mehr Schnaps, für die längsten Nächte. Die Trödler verkaufen nicht mehr ganz so billig, weil der Bezirk im Kommen ist, die Kleine Weltlaterne zahlt sich schon aus, die Prediger und die Jünger lassen sich bestaunen am Abend und spucken den Neugierigen auf die Currywurst…An einem Haustor, irgendeinem, wird gerüttelt, ein Laternenpfahl umgestürzt, einigen Vorübergehenden über die Köpfe gehauen…Nach Mitternacht sind alle Bars überfüllt.“

Zehn Jahre später wurde daraus ein Schunkellied der Gebrüder Blattschuß: „Kreuzberger Nächte sind lang“. Die Europa-Korrespondentin des New Yorker schrieb dann – wieder zehn Jahre später: „Früher war Kreuzberg düster und schmutzig. Dann aber war es düster und schmutzig – und hatte Flair“. Die New Yorkerin berief sich dabei auf die Journalistin Renee Zucker, die jedoch weder in Kreuzberg gelebt noch sich in diesem Viertel herumgetrieben noch jemals so etwas gesagt hat, das aber nur am Rande. Und sowieso kam dann die Spiegel-Autorin Marie-Luise Scherer bei ihrer eigenen Kreuzberg-Recherche zu einem ganz ähnlichen Befund: „Eine Frau darf hier scharf aussehen, den Pelz einer geschützten Tierart tragen und Gold auf den Lidern, wenn ihr darüber nicht das irisierende Moment von Sperrmüll abhanden kommt“.

Aus solchen medialen Mätzchen (Recherchen) wurde spätestens nach den Straßenschlachten am 1.Mai 1987 – als das Viertel für einige Stunden „bullenfrei“ gekämpft war – der „Mythos Kreuzberg“, der nach Meinung seiner letzten Ethnographin Barbara Lang schließlich für ganz Westberlin stand – und sich dann ab 1990 langsam veränderte.

Davor passierte noch Folgendes: Das Tape mit der nächtlichen Trommelmusik vom 1. Mai 1987 – „Hönkel“ genannt – erwarb die Schaubühne – als Soundkulisse für ein Kudamm-Brecht-Stück. Einen Monat später riegelte umgekehrt die Polizei – anläßlich des Reagan-Besuchs – das ganze Viertel für einige Stunden hermetisch ab, was dann wiederum dem wenig später in der Grünenpartei aufgehenden „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ Anlaß für eine Reihe humoriger Gegenabsperrmaßnahmen war. Auch eine Fraktion der militanten Autonomen reagierte witzisch – indem sie die KPD/RZ (Kreuzberger Patriotische Demokraten/Realistisches Zentrum) gründete, die es dann sogar bis ins Bezirksparlament schaffte. Zuvor hatte man – inmitten der vielen Altbausanierungsvorhaben – das „Massenmedium Bauwagen“ entdeckt – indem man sie reihenweise umwarf und anzündete. 1989 legte der Innensenator fest, dass die polizeilichen Einsatzabläufe zukünftig zwar direkt gefilmt und übertragen werden durften, „aber nur in Form von Totalaufnahmen“. Am darauffolgenden 1.Mai ermahnte die Demoleitung erstmals selbst alle Bildberichterstatter, „sich auf die Totale zu beschränken“.

Zwischen dieser ganzen über 40 Jahre andauernden Kreuzberg-Randale und -Reklame steht die Eroberung des riesigen leerstehenden Bethanienkrankenhauses 1972 durch die Linke und ihre lokale Basis. Der „Kampf um Bethanien“ fiel in eine Zeit, in der sich Kreuzbergs Bevölkerung, die sich nach dem Bau der Mauer zunächst stark reduziert hatte, noch einmal wandelte: Einerseits wurden die seit dem Mauerbau 1961 leerstehenden großen Wohnungen in Wilmersdorf und Charlottenburg, die ihre Besitzer aus Angst vor den Kommunisten gen Westdeutschland verlassen hatten und stattdessem von immer mehr linken Studenten bewohnt worden waren, langsam wieder von ihren Besitzern mit Beschlag belegt, so daß die Scene sich gezwungenermaßen nach Schöneberg und Kreuzberg verlagerte. Andererseits zogen auch immer mehr türkische Gastarbeiter, die bis dahin in Wohnheimen untergekommen waren, in diese Bezirke. Während gleichzeitig die Bezirksverwaltungen dort immer mehr alte Wohnsubstanz aufgaben und für großflächige Neubebauungen, verbunden sogar mit einer Stadtautobahn, votierten. So wollte die „Baulöwin“ Sigrid Kressmann-Zschach z.B. an Stelle des leerstehenden Bethanien-Komplexes ein modernes Wohn- und Shoppingcenter errichten, die Denkmalschützer konnten den Abriß jedoch verhindern.

Aber schon tauchten neue Projektemacher auf – die auch sofort zur Tat schritten: Eine Gruppe, bestehend aus damals besonders unruhigen Lehrlingen und Heimkindern, rief während eines Teach-Ins im Audimax der TU, auf dem die Kreuzberger Band „Ton Steine Scherben“ („Macht kaputt, was euch kaputt macht“) spielten, zur Besetzung des leerstehenden Bethanien-Krankenhauses auf, d.h. erst einmal des Lehrschwesternhauses neben dem Hauptgebäude. Vier Tage zuvor war ein Mitglied der „Bewegung 2.Juni“, Georg von Rauch, von der Polizei ermordet worden, deswegen wurde das „Martha-Maria-Haus“ sogleich nach ihm benannt – es heißt bis heute so – und rühmt sich, wiewohl nur noch ein Gebäude, in dem man billig wohnen kann, das „älteste besetzte Haus“ überhaupt zu sein (daneben existiert auch noch immer das vor 35 Jahren besetzte „Tommy-Weisbecker-Haus“ am Anhalter-Bahnhof, ebenfalls nach einem von der Polizei erschossenen Terroristen benannt).

Die aus dem SDS hervorgegangenen Basis-Initiativen, die auch eine „Randgruppenstrategie“ verfolgten, solidarisierten sich sogleich mit den jungen Hausbesetzern, schoben nächtens zur „Abwehr von Polizei und Faschos“ Wache und machten sich nützlich, indem sie aufräumten und fegten, während das Besetzerplenum ununterbrochen diskutierte – z.B. darüber, ob man nicht auch noch gleich das fünf mal so große Bethanien-Hauptgebäude besetzen sollte. Wenig später trat auch noch die maoistische Partei KPD/AO mit einem „Kampfkomitee Bethanien“ auf den Plan und machte sich für eine (proletarische) Kinderpoliklinik stark. Während erstere sich mit der Polizei auf dem Mariannenplatz immer wieder Scharmützel lieferten, gerieten letztere mit der Künstlerhausinitiative aneinander – und zwar so heftig, dass der Chef des Berliner Regionalkomitees der KPD/AO, Christian Heinrich, als Rädelsführer für ein Jahr ins Gefängnis kam. Das führte auch unter den Künstlern „zum Bruch alter Freundschaften“, wie die „Eiserne Lady“ (DAAD) der Westberliner Kulturszene Nele Hertling rückblickend meint.

Nachdem sich jedoch die verschiedenen Interessensgruppen – Rauchhaus, Künstlerhaus, Druckwerkstatt, Eltern-Kindergruppen, Kitas, Sozialamt, Musikschule, Kunstamt, etc. – in dem riesigen Gebäude-Ensemble langsam etabliert hatten, kam es sogar zu partiellen und temporären Vermischungen bzw. Kooperationen unter ihnen. Dazu trugen die langsamen Veränderungen im „Umfeld Bethanien“, wie später eine Ausstellung hieß, ebenso bei, wie die der Kunstszene selbst. Beide neigten zunehmend zum Pragmatisch-Experimentellen (s.o.). So zogen z.B. einige Künstler ins Rauchhaus, Rauchhausbewohner versteckten sich vor der Polizei im Künstlerhaus, und mit den Grünen entwickelte sich sogar (wieder) ein staatsintegratives Soziotop, das dazu alternatives Kleingewerbe und überhaupt marktwirtschaftliches Denken begünstigte. Erinnert sei an die „Neuen Wilden“ und ihre Galerie am Moritzplatz, über die der Maler Lüpertz abschließend urteilte: „Wir erst haben Berlin an den Weltkunstmarkt angeschlossen!“ Oder die Modemacherin Claudia Skoda, die 1979 meinte: „Kreuzberg ist unerhört vielfältig“, aber gleich nach dem Mauerfall als wendige „Lifestylistin“ dem „Tip“ gestand: „Nie wieder Kreuzberg!“ Sie zog dann nach der Wende ab nach Mitte, wo auch der CDU-Ekelprotz Klaus Landowsky sofort „die interessante Szene“ ausmachte, während in Kreuzberg seiner Meinung nach nur „Junkies, Gewalt und Ausländer zurück blieben“.

Bereits Ende der Siebzigerjahre hatte sich die „Politisierung“ der Studenten derart auf einige Aspekte des Alltags – nämlich der „behutsamen Stadterneuerung unter ökologischem Vorzeichen“ – reduziert, dass sie in Kreuzberg mit den Türken aneinander gerieten. In diesen sahen sie bald nur noch „Stoßtrupps der Hausbesitzer“ – zum endgültigen Herunterwohnen der letzten Altbausubstanz. 1980 schrieb die Scene-Zeitung Zitty: „In einem Türkenghetto entscheiden nur noch Justiz und Polizei…Türken raus? Warum nicht. Zumindest einige. Es sei denn, man will den Stadtteil sterben lassen“. Viele Türken ließen nach und nach ihre Familien nachkommen, was die Kreuzberger Bezirksregierung mehrmals mit „Zuzugssperren“ zu verhindern suchte. Das Künstlerhaus lud demgegenüber – um sich im Viertel nützlich zu machen – immer wieder türkische Künstler, Schriftsteller und Theatermacher ein.

Schon an der o.e. ersten Lesereihe („Feuertaufe“ später von Michael Haerdter, dem Gründungsdirektor des Künstlerhauses, genannt) nahm Aras Ören teil, der 1977 im Rotbuchverlag das kommunistische Poem „Was will Niyazi in der Naunynstrasse“ veröffentlichte. Bei der Übersetzung half ihm der Dichter Johannes Schenk, der bereits 1969 zusammen mit der Malerin Natascha Ungeheuer das „Kreuzberger Straßentheater“ gegründet hatte, das u.a. auch Probleme der türkischen Arbeitsemigranten thematisierte. Ebenfalls 1977 trat auf dem Mariannenplatz – organisiert vom Künstlerhaus – ein türkischer Arbeiterchor und eine Folkloregruppe des türkischen Akademiker- und Künstlervereins auf. Damals war dort noch das Betreten des Rasens streng verboten; eine Sozialarbeiterin aus dem Bethanien erinnert sich, dass es die Türken waren, die das Verbot zuerst übertraten: „Wir Deutsche haben es ihnen dann bloß nachgemacht“.

Die linken türkischen Organisationen hatten ihren proletarischen Anhängern im Ausland zunächst geraten, sich politisch auf ihre Rückkehr in die Heimat zu konzentrieren, nach einigen Jahren gingen aber auch sie von einer permanenten Diaspora aus, wo man u.a. für Arbeitnehmer- und Mieterrechte kämpfen muß. Bald gab es in fast allen größeren Westberliner Fabriken türkische Betriebsräte und die leerstehenden Souterrainräume im Viertel wurden von türkischen Arbeitervereinen genutzt. Und in der IG Metall hält sich bis heute die Meinung: „Die besten türkischen Betriebsräte waren früher alles kurdische Maoisten!“ Inzwischen gibt es allerdings kaum noch türkische Arbeiter: Viele Westberliner Betriebe wurden dicht gemacht und für die anderen gilt, was der Osram-Betriebsrat bereits kurz nach der Wende registrierte: „Wenn früher von zehn offenen Stellen neun mit Türken besetzt wurden, ist es heute nur noch eine, ansonsten nimmt man Ostdeutsche, die besser qualifiziert sind“. Inzwischen ist jeder zweite Türke arbeitslos. Dies zwingt sie mehr und mehr, sich selbständig zu machen: Inzwischen tragen sie schon fast die gesamte Kreuzberger Ökonomie; die strenggläubigen unter ihnen planen daneben eine Moschee nach der anderen und die eher lebensfrohen Aleviten übernahmen, nachdem die Evangelen ihnen die leere Kirche am Mariannenplatz doch nicht überlassen wollten, den düsteren Gebetssaal der Zeugen Jehovas in der Waldemarstrasse, der sich darüber sogleich aufhellte. Die Deutschen sind heute – zumindestens in S.O. 36 – beinahe nur noch (spekulierende) Nutznießer der einstigen Kämpfe und Genießer des daraus entstandenen „Flairs“ bzw. der Reste davon.

1981 besetzte eine Frauengruppe die ehemalige Schokoladenfabrik am Heinrichplatz (es war ungefähr die 170. Hausbesetzung): Neben einem türkischen Frauenbad (Hamam) entstand dort ein „Treffpunkt, Bildung und Beratung für Frauen und Mädchen aus der Türkei“, gleichzeitig beteiligten sich einige der Künstlerinnen aus der Schokofabrik an der Ausstellung „Unbeachtete Produktionsformen“ im Künstlerhaus Bethanien. Von dort aus wurde 1984 umgekehrt die Ausstellung „Ich lebe in Deutschland“ von „7 türkischen Künstlern aus Berlin“ nach Bonn geschickt.

Der in Ost- und Westberlin lebende Schriftsteller Klaus Schlesinger spazierte zu der Zeit einmal mit seiner Freundin Marie durch den Park vom Bethanien, dabei bemerkte sie: „Da ist es wie in der DDR, aber irrsinnig schön“. Nachdem sie an Kurt Mühlenhaupts Feuerwehrbrunnen vorbei hinterm Oranienplatz wieder „ins Restberlin“ eingetaucht sind, „ist klar: Kreuzberg ist wie eine Stadt in der Stadt“.

Hier tut sich in den Achtzigerjahren aber noch einmal eine Kluft auf – zwischen Künstlern und „Streetfightern“ (Autonomen): Letztere versuchen, teilweise erfolgreich, einige „Chickimicki-Lokale“ im „Problembezirk“ mit Scheiße „wegzukübeln“ und zerstören daneben mehrere Kunstobjekte und Ausstellungen. Für diese „Kiezmiliz“ sind jetzt nicht mehr die Türken die Speerspitze der spekulativen „Gentryfication“, sondern die Künstler. Während die Türken mit ihren „Kulturvereinen“ inzwischen nach oben – in Läden – gezogen sind, haben jedoch ironischerweise immer mehr Künstler ihre Installationssräume und Clubs in Kellern eingerichtet: Die Galerie Eisenbahnstrasse, das Endart-Depot, Urbandart und das Fischbüro seien hier genannt. Aus dem Keller der letzteren trat 1989 wie erwähnt die „Loveparade“ buchstäblich ans Tageslicht. Ein typischer Dialog am Fischbüro-Tresen ging so: „Machen wir noch eine Bierforschung oder gleich eine Nachhausegehforschung?“ „Ich muß jetzt erst mal ne Dönerforschung machen!“ Der Forschungsbegriff wurde damals von vielen Kreuzberger Künstlern derart gestretcht. Und fast alle ihre flüchtigen Ergebnisse fanden irgendwann Eingang in das Künstlerhaus, das gleichzeitig auch einen skurrilen Stamm von regelmäßig teilnehmenden Kunstbeobachtern heranzog.

Als „einen Glücksfall“ bezeichnete Michael Haerdter die Regiearbeit von Samuel Beckett mit dem US-Verbrecher und -Schauspieler Rick Cluchey an dem Stück „Krapp’s Last Tape“ 1977. Berühmt wurden daneben z.B. aber auch die Materialfunde des proletarischen Künstlers Raffael Rheinsberg, die Islandforschungen des „genialen Dilettanten“ Wolfgang Müller und die Kriegsforschungen des „DDR-Dramatikers“ Heiner Müller, der nicht nur fast schon zum Künstlerstamm des Bethanien gehörte, sondern zuletzt auch einen Steinwurf entfernt in der Muskauerstraße lebte, wo er von seiner türkischen Theaterkneipe „Le Soleil“ aus den Mariannenplatz und das schloßähnliche Portal des Künstlerhauses Bethanien im Blick hatte. Hier erinnerte er uns einmal an die „Kontinuität“ der Kämpfe um das Kranken/Künstlerhaus, das als „Hort der Reaction“ schon 1848 gestürmt werden sollte, nachdem man während des „Bürgerkampfes“ 45 schwerverletzte Barrikadenkämpfer dort – gegen ihren Willen – eingeliefert hatte, von denen dann elf – wahrscheinlich aufgrund mangelnder ärztlicher Pflege, „wenn nicht sogar aus böser Absicht“, starben. Wenig später wollte Theodor Fontane, der dort just an dem Tag, als auf dem Mariannenplatz heftige Kämpfe tobten, „unter Flintengeknatter“ seinen Dienst als Apotheker angetreten hatte, einige Linksradikale, speziell Ferdinand Freiliggrath, die zu einem klandestinen Treffen nach Berlin unterwegs waren, im Bethanien einquartieren. Sie weigerten sich jedoch, Fontane bemerkte dazu später: „Was ich mir dabei gedacht, ist mir noch nachträglich ganz unerfindlich“.

Seine Apotheke im Erdgeschoß existiert bis heute – als eine Art Labor-Denkmal; die „türkische Bibliothek“ gleich daneben wurde jedoch inzwischen aus Einsparungsgründen wieder geschlossen. Dafür bot man etlichen arbeitslosen Türkinnen auf ABM-Basis eine „Computerschulung“ an, wobei sie dann jedoch nur stumpfsinnig die ganzen (deutschen) Bücherbestände der Kreuzberger Bibliotheken abtippen mußten. Noch schlimmer erging es einer Türkin, die – ebenfalls auf ABM-Basis – die „Öffentlichkeitsarbeit“ eines „Quartiersmanagements“ machen sollte – und dann dort zum Kloputzen abgestellt wurde, wobei sie sich noch laufend die ausländerfeindlichen Bemerkungen ihrer festangestellten deutschen Kollegen anhören mußte. Auch die Geschichte der Stammkneipe von Heiner Müller in der Muskauerstrasse endete übel: Die seit 26 Jahren in Berlin lebende türkische Wirtsfamilie wurde, weil man ihren abwesenden Sohn terroristischer Umtriebe verdächtigte, derart brutal von einem Polizeisonderkommando überfallen, dass sie entsetzt das Lokal aufgaben und in die Türkei zurückzogen. Wie zum Hohn bekamen sie zum Abschied noch die deutsche Staatsbürgerschaft.

Jetzt hatte das mit Finanzierungsproblemen kämpfende „Künstlerhaus Bethanien“ gerade einen Investor gefunden, als das Bezirksamt eine Gruppe von Hausbesetzern aus der Yorkstraße, die ihr Objekt infolge einer Privatisierung verloren hatten, in den leerstehenden Bethanien-Krankenhaus-Südflügel vorübergehend einquartierte – und diese sich daran machten, dort sofort ein „soziokulturelles Zentrum“ auf Dauer einzurichten. Der Konflikt, der daraus mit dem Künstlerhaus und dem Kunstamt im Nordflügel entstand – und der sich dann quasi zwischen Kiez- und Hochkultur einpendelte, rief auf beiden Seiten Unterstützer auf den Plan. Die Bezirksregierung versuchte zu vermitteln – und zwar mit einem „Runden Tisch“. Diese Situation war und ist fast eine Wiederholung – der einstigen Besetzung des Krankenhauskomplexes. Währenddessen bringt eine von außen kommende Pseudobürgerinitiative mit viel Geld den gesamten Bethanien-Park in Schuß – es sieht ihnen dort alles zu sehr nach Kraut und Rüben und Achtzigerjahre-Sozialästhetik aus.

Die so hartnäckig gegen die „Gentryfication“ eines Bezirks nach dem anderen „kämpfenden“ Hotspots/Zentren der Hausbesetzer sind inzwischen fast selbst zur Speerspitze der Gentryfizierung geworden. Berlin hat überhaupt keine andere Chance, als mit ihnen den Wandel zu einer Dienstleistungsmetropole für Jungtouristen aus aller Welt zu wagen. Man kann hier jeden Wohnungsmakler fragen: In die gediegenen Bezirke – nach Charlottenburg, Wilmersdorf, Steglitz usw. – will kein Schwein mehr hinziehen, alles drängt in die hippen, angesagten Bezirke, wo die „autonomen Freiräume“ sich ballen und die Dichte an „wilden Sprüchen“ an den Hauswänden zunimmt. Zu den am meisten photographierten Objekten Berlins gehört nicht etwa die Brandenburger Torheit, die alberne Gedächtniskirche oder die todschicke Museumsinsel, sondern der Spruch an der Köpi-Brandmauer: „Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten“. Er wurde kürzlich durch einen Neubau nebenan, der jetzt eine „nvestitionsruine ist, überdeckt – und sogleich durch einen anderen Spruch eine Brandmauer weiter ersetzt, der das Hausbesetzer-Problem sozusagen auf den letzten Stand bringt: „Die Grenze verläuft nicht zwischen oben und unten, sondern zwischen dir und mir“.

Es gibt schon große, gewiefte Bauunternehmer, die sich quasi auf den Kauf von solchen besetzten Häusern spezialisiert haben – und darin dann mit den Betreibern einen Nutzungsmix aushandeln. Denn es hat sich herausgestellt, dass die Räumung eines besetzten Objektes und die anschließende Grundsanierung der Immobilie durch Architekten und andere Konzeptionäre diese bloß totentwickelt. Bestes Beispiel dafür ist die „Kulturbrauerei“ in Prenzlauer Berg: Jede revolutionäre Bewegung hat eine Halbwertzeit und die dauert wie eine Liebesbeziehung manchmal nur wenige Tage. Dann hat man noch jedesmal in der Geschichte vor der Alternative: „Stalin oder Trotzki?“ gestanden: Soll das bis dahin Erreichte gesichert, arrondiert und zäh verteidigt werden, wobei es sich bald von seinem Außen nicht mehr groß unterscheidet – oder muß die Revolution immer weiter getrieben werden – immer weiter?

Eindrücke von der letzten Randale im Juni 2008:

Mit freundlicher Unterstützung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, des Quartiersmanagements Berlin und des Quartiersmanagements Wrangelkiez war in der Nacht von Samstag auf Sonntag zur „1. Langen Nacht der Oranienstraße“ geladen worden. „Alle Anwohner“ sollten sich „in ihrer eigenen Art und Weise an dem Straßenfest beteiligen“. Dabei seien „Verkaufsstände“ ebenso willkommen wie „Tisch und Stühle auf der Straße“. Auf dem Fest war dann jedoch nicht viel los, böse Zungen behaupten gar, es fand gar nicht statt. Einem gleichzeitigen Aufruf, seinen Sperrmüll zum Samstag rauszustellen, kamen jedoch viele Kreuzberger „rund um die Oranienstraße“ gerne nach.

Noch Freitagnacht bauten einige Künstler aus dem derart bereitgestellten Material Installationen auf verschiedenen Verkehrsinseln. Dabei überzeugte insbesondere die Matratzen-Arbeit „StattBett“ einer Künstlerinnengruppe aus dem Umfeld des „Möbel Olfe“ – einer Szenekneipe. Und was dann am Morgen für die Kinder als Trampolin und Ritterburg herhielt, fand am Abend zu Barrikaden geschichtet Verwendung – etwa in der Naunyn- und Muskauer Straße.

Pünktlich zu Beginn des Oranienstraßenfestes um 21 Uhr rückte die Polizei mit schwerem Räumgerät an – darunter Lkw-Pritschen mit Greifbagger. Polizisten in Kampfuniformen schleppten Couchen, Elektronikschrott und Kacheltische über die Straße. Die Einsatzleitung ordnete Mülltrennung an: „Weil die BSR wahrscheinlich noch mit Spezialfahrzeugen kommt.“

Die Anwohner diskutierten derweil am Straßenrand in Grüppchen den Sinn und Zweck dieses ungewöhnlich bürgerfreundlichen Polizeieinsatzes im „Problembezirk“. Kenner der Szene glaubten an einen Zusammenhang zwischen den zwei Oranienstraßen-Aufrufen und der Räumung des kurz  besetzten Ver.di-Gebäudes am Michaelkirchplatz zum Auftakt der bundesweiten „Aktionstage für Freiräume“. Nach dessen Räumung waren 14 Autos in der Stadt „abgefackelt“ worden. Einige Beobachter sahen zudem eine Verbindung zum Farbattentat auf das KaDeWe. Dabei wurde die gesamte Schaufensterfront mit grüner Farbe aus Feuerlöschern besprüht. Passanten dachten, es handele sich um eine Werbeaktion. Erst als die Sprüher überstürzt aufbrachen, wurde ein Rentner misstrauisch und alarmierte die Polizei. Inzwischen wurde bekannt, dass der Streetart-Künstler Brad Downey, der von Lacoste eingeladen war, sich etwas zur Jubiläumsfeier der Modemarke zu überlegen, die Schaufensterfassade grün besprüht hat – als seine Form der Kommerzkritik.

Jedenfalls: Höhepunkt der „Freiraum-Aktionstage“ sollte am Samstagabend das gemeinsame Fest der acht Freiräume Köpi, Bethanien, Rauchhaus, New York 59, Wagenplatz Schwarzer Kanal, Wagenburg, X-Dorf und A28 werden. Auf dem Köpigelände feierten etwa 1.200 Leute. Dabei kam es erneut zur Barrikadenbildung – auf der Köpenicker Straße. Wieder rückte die Polizei an. Um 0 Uhr 11 setzte die Köpi via Indymedia eine Hilfsmail ab: „aktuell sind vor der köpi mehrere hundertschaften mit schwerem gerät (wasserwerfer/räumpanzer) aufgefahren, es gab schon einen ersten angriffsversuch auf das tor, der abgewehrt werden konnte. es wird dringend unterstützung gebraucht.“

In den Köpihof wurden Tränengasgranaten geworfen, woraufhin der Schwarze Block mit Steinen konterte. Eine Barrikade ging in Flammen auf. Schließlich standen und staunten in der Köpenicker Straße mehr neugierige Berlintouristen als Militante. Es gab einige Festnahmen und Verletzte. Am Ende wurde der ganze Straßenabschnitt vor der Köpi polizeilich geräumt.

Inmitten des tumultösen Geschehens, das in Wellen die Köpenicker Straße auf und ab wogte, standen wie ein Fels die drei Jungs von der Springerstiefelpresse in weißen Hemden. Um drei Uhr rückte die BSR an; flankiert von zwei Reihen müder Einsatzkräfte säuberten sie die Straße von Scherben und Steinen.

Um vier Uhr zwanzig standen noch immer etwa fünfzig Angetrunkene ebenso vielen Polizisten Aug in Aug gegenüber. Das morgendliche Vogelgezwitscher legte einen lieblichen Klangteppich über ihre letzten Beschimpfungen und Schubsereien.

Eine kleine Künstlergruppe aus Djakarta (Indonesien) zog sich als eine der letzten vom „Schlachtfeld“ zurück in ihr Hostel gleich um die Ecke – zwar unverletzt und müde, aber schwer enttäuscht: „Wir haben die 1.Mai-Krawalle in Berlin immer nur in kurzen Ausschnitten im Fernsehen gesehen – und bewundert, wie dort gekämpft wurde. Aber jetzt haben wir mit eigenen Augen gesehen, dass alles nur ein Spiel ist. Wenn bei uns Hubschrauber über eine Demo auftauchen, wird sofort scharf geschossen. Hier dagegen filmen die Bullen das Geschehen bloß von oben. Das Ganze ist doch nur ein blöder Fake!“

Ein paar Bemerkungen zum „Anarchokongreß09“:

Indem der Anarcho-Kongress nicht wie ursprünglich geplant in der TU stattfinden durfte, war sozusagen die anarchistische Ausgangsbedingung erfüllt: Sich selbst [neu] organisieren. Das geschah dann im New York/Bethanien am Mariannenplatz, wo die meisten Workshops draußen unter Bäumen in der Sonne stattfanden. Dabei ging es um Kritik an bestimmten Rauschdrogen, an Ersatzgeld-Funktionen und Sexpol-Konzeptionen (wie z.B. die von „Fuck for Forest“ und „ZEGG“), aber auch um Neonazis und Holocaustleugner („Who is who“), um laute, stille und gefakte „Hausbesetzungen“ sowie um eine digitale Solidarwirtschaft („Coop 2.0“) und den Anarchismus in Russland. Ein altes Sprichwort dort besagt: „Anarchie ist die Mutter der Ordnung“. Hier nennt man die Anarchisten jedoch gerne „Chaoten“. Auf dem Kongress wurden Ansprüche wie „Die Trennung von Experten und Laien aufheben“, formuliert, es wurde die Überwindung von „Natur“ und „Gesellschaft“ sowie von „Fakten“ und „Glauben“ beansprucht, es fielen Worte wie „Haßgefühle“ und „Sich nicht mit jedem identifizieren können“, und jemand erläuterte den Unterschied zwischen „Gegenseitiger Hilfe“ und bloßen Solidaritätsbekundungen. Am Rande wurden dazu weiterführende Bücher und Broschüren verkauft, Kartoffeln geschält und gekocht, ein „Spülstrassen“-Pfeil wies den Weg zum Selbstabwasch.

Die etwa 200 Teilnehmer kamen aus allen möglichen Gegenden und waren sehr jung, während die Workshop-Anbieter nicht selten grauhaarig waren. Die einen wie die anderen trugen vorwiegend schwarze Klamotten, nahmen Sojamilch zum Kaffee und bemühten sich um „politische Korrektheit“. Ein Workshop war dem Anarcho-„Lifestyle“ gewidmet. Das bezog sich jedoch bloß auf die amerikanischen Anarchozellen, die sich „Crimethinc“ nennen. Einige Teilnehmer zogen sich aus, um nackt demonstrieren zu gehen, andere riefen zu einer Hausbesetzung auf, aber das waren vorzeitige Schwarmbildungen, die nur eine Möglichkeit andeuteten. Die meisten wollten lieber in Gruppen auf dem Rasen sitzen (bleiben) und wenn schon nicht diskutieren, dann wenigstens zuhören.

Viele Anarchisten, die in Berlin leben, hatten es vorgezogen, über Ostern aufs Land zu fahren. Überhaupt war der Kongress eher eine Veranstaltung zur Einführung in den Anarchismus. Und die meisten Anarchisten sind inzwischen in kleinen Gruppen irgendwo eingesickert bzw. in irgendwelche Projekte (bis hin zur Partei „Die Linke“) verstrickt. Die derzeit in Arbeiterstreiks engagierte „Freie Anarchistische Union“ (FAU) hatte gerade mal einen kleinen Info-Stand abgestellt. Die Bakunin-Hütte in Thüringen mußte sich um ihre Belegung kümmern. Die bayrischen Anarchos bereiteten ihre nächste Feldbefreiung (von Genmais) vor. Die Freunde der klassenlosen Gesellschaft tagten in der Uckermark. Die Friedrichshainer Anarchos bespielten ihre eigenen Räume…usw..So kamen bloß die zusammen, die gerade Bock auf Berlin hatten – und das mit einer Bildungsveranstaltung verknüpfen wollten. Vorbereitet hatte diese die Anarchistische Föderation, die ansonsten das anarchistische Jahrbuch herausgibt und mit dem Anarcho-Laden am Rosenthaler Platz zusammenarbeitet, wo es in der Nachbarschaft noch einige andere einschlägige Treffs gibt.

Am zweiten Tag des Kongresses kontrollierte die Polizei einige schwarzgekleidete junge Menschen am Hintereingang des Bethanien – wohl um sich wenigstens versuchsweise einen Überblick über die Scene zu verschaffen. Aber das ist nicht so einfach. „Der Schlüssel zu anarchistischen Organisationsformen ist möglicherweise die davon ausgehende Lebensqualität,“ meinten die Betreiber der „Bibliothek der Freien“ im Haus der Demokratie, die auf dem Kongress einen Workshop zum Thema „Warum ist Anarchismus eine Alternative“ anboten. Wenn einem heute laut J.St.Lec selbst die freiwilligen Handlungen aufgezwungen werden, dann muß die anarchistische Idee, „dass niemand dein Leben besser bestimmen kann als du selbst,“ fast zwangsläufig immer attraktiver werden, meinen sie. Ich bin mir da nicht so sicher: Wenn heute alle selbstbestimmt das gleiche tun, kaufen, anziehen, hören, denken etc., kann man dann noch von „freiwillig“ sprechen?   Auch auf dem Anarchokongreß verhielten sich alle derart homogen – politisch korrekt, dass man eigentlich von einer selbstbestimmten Kongreßmitwirkung nicht reden konnte, es war mehr ein freundliches alternatives Pfadfindertreffen. Aber die Juso-Sommerlager in Schweden in den Siebzigerjahren waren da anarchistischer – die Bild-Zeitung konnte anschließend jedesmal über Wochen hetzen.

Letzte Meldungen:

Während es wohl so aussieht, dass das Künstlerhaus Bethanien im Nordflügel, das erst die „Freie Berliner Kunstausstellung“ im Erdgeschoß des Hauptgebäudes murrend bekämpfte und dann die Festsetzung des „New York“ im Südflügel aufs Heftigste, sich langsam aus dem Armenkrankenhaus zurückzieht, sie zahlen angeblich schon keine Miete mehr, hat sich das „New York im Bethanien“ scheints als Mietenzahler etabliert. Mit folgenden Gruppen, die diesen „Raum emanzipatorischer Projekte“ nutzen: Anarchistische Föderation Berlin, Anarchistisches InfoCafé, Ari-Doku-Gruppe, B.O.N.E., Carambolage, CIRCA (Rebel Clwon Army), DruzBar, Gipfelsoli, Initiative Zukunft Bethanien, IWPS, Kampagne gegen Zwangsumzüge, Kollektivbibliothek, LatinoKino,  Libertad Berlin, Mediaspree Versenken!, Mietshäusersyndikat Regionalgruppe Berlin (mit einem Festangestellten), Nomadisches AntiKriegsCafé, Reflect!, Respect!, Südflügelcafé, Solidarité, Spreepiratinnen, The Voice.

Die „Köpi“ hat ihre Politinfo-Seite im Internet – die „Köpi-Updates“ – schon seit April nicht mehr aktualisiert, den Kampf um Freiräume betreffend, dafür stehen auf der Veranstaltungsseite bereits vorweggreifend die „Gigs“ für die ganze Sommersaison – Bands aus Kopenhagen, England, Polen, Sarajewo, Frankreich, Ungarn, Paris und Portland. Das „Köpi“-Kinoprogramm steht bis Ende Juli fest. Ansonsten macht koepi-online einen etwas verlassenen Eindruck. Aber das muß natürlich nichts heißen. Erst recht nicht, dass die taz das letzte Mal Mitte Februar über die „Köpi“ berichtete. Da schrieb Jörg Sundermeier: „Das Wochenende dann gehört ab dem Freitagnachmittag der Köpi, die mit einem Hausfes ihren inzwischen neunzehnten Geburtstag feiert. Es gibt eine Ausstellung, Vokü und selbstverständlich Hiphop, Punk, Techno, Ska, Rock, Drum ’n‘ Bass, Bier, Sekt, Kotze und Müll. Schön.“

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