Da sich die Anfragen diverser Medien in REPTILIA-Redaktion und Natur und Tier – Verlag häufen, weil eines der Geschöpfe aus unserem speziellen Zuständigkeitsbereich gerade ganz ungewollt in der aktuellen Feuilleton-Diskussion sehr präsent ist, hier mal ein bisschen „Basiswissen Axolotl“, das ich so ähnlich schon mal ganz zu Beginn dieses Blogs im Juni 2006 gepostet hatte:
Schlangen haben ja traditionell in vielen Kulturen einen mindestens ambivalenten, oft auch schlicht einen beschissenen Ruf. Nehmen wir als Beispiel die mexikanische Staatsflagge. Auf ihr ist eine aus Schlangensicht ziemlich martialische Szene dargestellt: Ein Adler sitzt auf einer Opuntie, eine der Charakterkakteen Lateinamerikas, und hat eine Schlange im Schnabel, am Schwanz übrigens eindeutig als giftige Klapperschlange erkennbar. Dass es dieser nicht gut ergeht, ist offensichtlich. Was hat es damit auf sich?
In präkolumbianischer Zeit erlebte das mexikanische Hochland eine Einwanderungswelle von Norden. Die Atzteken, damals noch ein nomadisches Volk, drangen von Nordamerika aus weit nach Süden vor. Grund der Rastlosigkeit war ein Hinweis eines Gottes mit einem wenig seriös klingenden Namen: Huitzilopochtli.
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[Exkurs: Was von Huitzilopochtli zu halten ist
Ein bezaubernder Wikipedia-Artikel sagt dazu eigentlich alles: „Seine Schwester Coyolxauhqui tötete ihre gemeinsame Mutter Coatlicue, weil diese auf unehrenhafte Weise schwanger geworden war (von einem Ball Federn). Der Fötus, Huitzilopochtli, sprang aus ihrem Bauch und tötete Coyolxauhqui wie auch viele von den Geschwistern. Dann warf er ihren Kopf in den Himmel, wo dieser zum Mond wurde, damit seine Mutter dadurch getröstet werde, dass sie ihre Tochter jede Nacht am Himmel sehen konnte.“ Exkurs Ende]
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Der Sohn des Federballs hatte also verkündet, dass seine Schäfchen sich erst dort niederlassen sollten, wo sie einen Adler erblickten, der eine Schlange frisst. Denn wo Schlangen getötet werden, da ist ein guter Ort, fand Huitzilopochtli, der vermutlich aber irgendwie traumatisiert war (schwere Kindheit usw.). 200 Jahre lang stromerten die Atzteken über das mexikanische Tableau, bis sie auf einer Insel im Texcoco-See das beschriebene Ereignis sichteten. Wenn man bedenkt, dass Schlangen zur Hauptbeute vieler Adler gehören (nicht umsonst heißt einer sogar “Schlangenadler”), müsste man daraus folgern, dass sie keine besonders guten Naturbeobachter waren. Vielleicht hatten sie einfach andere Sorgen. Jedenfalls ließen sie sich auf besagter Insel nieder und gründeten dort ihre Hauptstadt Tenochtitlán. Als Cortez die Stadt erblickte, war er restlos fasziniert. Sie war zu der Zeit eine blühende Metropole mit einem einzigartigen Landwirtschaftssystem. Die Atzteken hatten die Gunst des Sees geschickt ausgenutzt, nicht nur als Schutz gegen Feinde, sondern auch als praktisches Bewässerungssystem für ihre Gärten und Anbauflächen, die sie auf Floß-Konstruktionen pflegten. So war eine florierende Garten- und Landwirtschaft trotz der eher wüstenhaften Umgebung möglich.
Die Spanier taten dann, was sie halt immer so gemacht haben: Sie zerstörten die Stadt und gründeten auf ihren Trümmern das heutige Mexico City, das sich bekanntlich zu einer der größten Städte der Welt entwickelt und den historischen Texcoco-See längst überwuchert hat; nur noch kleine Reste, vor allem im Vorort Xochimilco, sind heute noch vorhanden.
Und hier kommt jetzt der Axolotl ins Spiel. Sein Name kommt aus dem Atztekischen und bedeutet „Wassermonster” – und so sieht er ja auch aus. Was die Art so besonders macht, ist ihre Entwicklung, oder vielmehr das partielle Fehlen eben dieser. Denn Axolotl sind „ewige Babys”, sie bleiben ihr Leben lang im Larvenstadium, verzichten also auf den dramatischen Schritt der Metamorphose, die ja z. B. aus Kaulquappen Frösche macht. Trotz sozusagen ausbleibender Pubertät können sie sich aber doch geschlechtlich vermehren und haben also auch Sex – wenn man das umständliche salamandertypische Prozedere zur Fortpflanzung denn so nennen möchte, das eher an schlechte Pornofilme erinnert. Denn Axolotl paaren sich nicht, vielmehr tanzen sie ein bisschen umeinander herum, bis das Männchen schließlich kommt und ein dickes Samenpaket auf dem Boden absetzt. Dann kommt das Weibchen angeschwommen, pfriemelt sich diese sogenannte Spermatophore in die Kloake, und gut isses mit dem Lurchsex. Und das alles, wie gesagt, im Larvenzustand. Neotenie heißt dieses seltene Phänomen, eine Spezialanpassung, die durchaus analog zu den schwimmenden Gärten von Tenochtitlán zu sehen ist. Noch lange bevor die Atzteken in die Gegend kamen, war das mexikanische Hochland ein feuchter, amphibienfreundlicher Ort. Dann aber änderte sich das Klima, es wurde immer trockener – schlechte Karten für Lurche. Die Vorgänger des Axolotl müssen es irgendwann eingesehen haben, dass es für einen Salamander keine gute Idee ist, nach der Metamorphose in eine knochentrockene Wüste zu kriechen. Also ließen sie es bleiben, und statt auszusterben, wie es in solchen Fällen eigentlich guter Brauch ist, schlugen sie der Evolution ein Schnippchen. Sie wurden einfach ohne Metamorphose geschlechtsreif, konnten daher im Wasser bleiben und sich fortpflanzen, obwohl sie auch als erwachsene Tiere noch alle Merkmale einer Larve, also eines noch nicht geschlechtsreifen Stadiums, zeigen. So behalten sie ihr Leben lang die Kiemen (die metamorphosierten Lurchen grundsätzlich fehlen), die nicht ganz unwesentlich zu ihrem bizarren Äußeren beitragen. Spektakulärerweise kann man die Metamorphose künstlich aber durch Hormongaben einleiten, und bis heute tobt ein engagierter Streit zwischen Zoologen, ob es auch zu Spontanmetamorphosen kommen kann. Jedenfalls kann aus so einem Axolotl immer noch der fertige Salamander werden, ein sogar ganz hübscher Querzahnmolch mit gelblichen Flecken. Das Pubertätsprogramm zum Erwachsenwerden schlummert also noch immer in den Genen der Tiere, obwohl sie es in der Natur nicht mehr einsetzen.
Leider hätten sie dazu heute ohnehin kaum noch Gelegenheit. Da der Texcoco-See heute fast nur noch aus staubigen Elendsvierteln von Mexiko-Stadt besteht, steht der Axolotl kurz vor seiner vollständigen Ausrottung in der Natur. Die Art selbst ist allerdings nicht gefährdet. Millionen der glitischigen Gesellen paddeln vor allem in den Versuchslabors der Forschungsinstitute, denn die außergewöhnliche Biologie der Art hat sie zu einem der wichtigsten Labortiere weltweit werden lassen. Und auch bei Hobbyhaltern stehen die Tiere hoch im Kurs, sodass sie in jeder besseren Zoohandlung zu erstehen sind. So werden sie wohl bald das traurige Schicksal ereilen, eine Art zu sein, die nur noch in Gefangenschaft überleben kann. Und das alles nur, weil Schlangen so einen verdammt schlechten Ruf haben.
[Alles Weitere zum Axolotl von Aquarienhaltung bis Kulturgeschichte in der Neuausgabe des Buches „Axolotl“ von Jochen Wistuba, Natur und Tier – Verlag; Foto: dpa]