vonlottmann 29.03.2011

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Die Welt nimmt Anteil am Schicksal von
Knut, dem Eisbären, der sich am Wochenende
im Berliner Zoo von einem Felsen aus ins tiefe
Wasser stürzte, kurz aufzuckte und dann elend
verstarb. Dumme Medien rätseln über seinen
frühen Tod, doch nur die Berliner wissen, warum
er sich im Alter von vier Jahren das Leben
nahm: Knut war eine Seele von Mensch, ein
echter Berliner, mutterseelenallein, zunehmend
apathisch, nie hat man ihn lachen sehen,
ihn, den seine Mutter nach der Geburt böse
verstieß, weil sie sich selbst verwirklichen und
durch die lange Stillzeit ihre Figur nicht aus
der Fasson bringen wollte. Tag und Nacht
musste der Pfleger Thomas Dörflein sich um
das Findelkind kümmern, und als Knut ihn
endlich in sein Herz geschlossen hatte, da verstarb
Herr Dörflein, und Knut war wieder allein,
ohne Vater und ohne Mutter, von Tosca,
Nancy und Katjuscha ins Abseits gemobbt,
drei zugereisten Eisbärinnen aus Westdeutschland,
keine waschechten Berliner, natürlich
nicht. Wer Augen hatte, zu sehen, der konnte
es sehen: Knut war der große Einsame im
Reich der Tiere, animalische Trauer umspielte
seine Züge, er war das Leiden der Kreatur an
der verfehlten Schöpfung, verloren in der unwirtlichen
Weite Berlins, dieser Eiswüste im
Osten, arm, aber nicht sexy, eine Stadt, so unfertig,
unschön und unregierbar, dass Sibirien
uns wie eine Wärmezone dünkt, ein preußisches
Schattenreich, wo Menschen nur kommen,
um zu gehen, zum Beispiel der Easy-Jet-
Set, Zaungast des Elends in einer Stadt, deren
Monsterbahnhof unschuldige Menschen verschluckt,
um sie als totenbleiche Gespenster
wieder auszuspucken, deren Straßen ins Nirgendwo
führen, aber garantiert in eine Baustelle,
die tiefer ist als Plutos Hades, eine Stadt
mit einer Bürokratie, gegen die Kafkas Beamte
Musterexemplare der Menschenliebe sind, wo
Ursula Sarrazin Lehrerin bleiben darf und
Schulen aussehen wie Baracken im Kosovo
nach serbischem Beschuss – kein Mensch der
Welt wird hier glücklich, erst recht nicht der
empfindsame Knut, der Gesamtberliner mit
dem gebrochenen Herzen, wie er in der Werbung
nicht vorkommen darf, Knut, nach außen
eine Touristenattraktion, nach innen eine
Arktis der Leere, so traurig wie einst nur der
berühmte Clown Deburau, der in stummer
Verzweiflung am Ende einen Seelendoktor
aufsuchte und von ihm zu hören bekam: Sie
sind ein hoffnungsloser Fall, gehen Sie zum
Clown Deburau, nur der kann Sie retten, und
Deburau musste ihm mit erstickender Stimme
sagen: »Herr Doktor, ich bin es selbst!«

Als Berlin Mitte noch nicht gestorben war: Joachim Lottmann vor der Bar 103 in der Kastanienallee.

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