vonChristian Ihle 19.02.2010

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Jud Süss – Film ohne Gewissensuess

1. Der Film in einem Satz:

Man hat’s nicht leicht als Schauspieler.

2. Darum geht‘s:

Regisseur Oskar Roehler erzählt die Genese von „Jud Süß“, des berüchtigsten antisemitischen Nazipropagandafilms. Im Zentrum der Geschichte stehen zwei Männer: Jud-Süß-Hauptdarsteller Ferdinand Marian (dargestellt von Tobias Moretti) und NS-Propagandaminister Joseph Goebbels (Moritz Bleibtreu). Marian wehrt sich zunächst gegen das Angebot von Goebbels, Jud Süß zu spielen, gibt aber letzten Endes doch klein bei und erliegt dem Selbstbetrug, seinen Jud Süß so anzulegen, dass er nicht für Propagandazwecke missbraucht werden könnte. Das Gegenteil geschieht: der Film wird bei den Festspielen von Venedig aufgeführt, 20 Millionen Menschen gehen ins Kino und Marian begleitet den Film zu seinen Aufführungen an die Ostfront. Vom schlechten Gewissen geplagt wird Marian zum Alkoholiker und zerbricht an seiner Schuld.

Was man Oskar Roehler zu gute halten muss: er hat keine Angst und wagt sich sowohl bei seiner Stoffwahl als auch der Ausgestaltung oft auf dünnes Eis. Wenn Roehler in seinen intimeren, kleinen Filmen den Ton trifft, dann ist er verstörend gut wie kaum jemand sonst hierzulande („Der alte Affe Angst“, „Agnes und ihre Schwestern“). Wenn er die camp-Sau durchs Dorf treibt, wird es eine Gratwanderung. Bei seiner Nacherzählung des Lynch’schen „Wild At Heart“ namens „Lulu & Jimi“ beispielsweise gelingt es ihm spielerisch, das Overacting und die Überspitzung gezielt einzusetzen, um ein erfolgreiches Neon-Märchen zu erzählen. Doch die gleiche Herangehensweise führt bei einem Stoff wie „Jud Süss“ zum unweigerlichen Scheitern. Mit Ausnahme des noch am nuanciertesten spielenden Moretti als Marian gibt das ganze Ensemble den Zirkusaffen, allen voran Martina Gedeck (als Ehefrau von Marian) und Moritz Bleibtreu als Goebbels. Bleibtreu kopiert mit sicherlich viel Eifer den medialen Goebbels, der uns durch seine Reden immer noch präsent ist – aber wo Bruno Ganz beispielsweise „seinem“ Hitler noch eine andere Dimension hinzufügen konnte, die für eine gewisse Zeit das immanent clowneske der öffentlichen Hitlerauftritte bändigen konnte (bis sie dank Internet-Meme selbst wieder eine Vorlage zur ewigen Parodie wurde), bleibt Bleibtreus Goebbels ein holzschnitthaftes Portrait des Propagandaministers.

Roehler widersteht zurecht der Versuchung, ein großes, bedrückendes Drama aus „Jud Süss“ zu machen, sondern geht gezielt in Richtung des klassischen Melodrams, für das er sich auch künstlerische Freiheiten hinsichtlich der geschichtlichen Genauigkeit nimmt. Doch manche Storyelemente überschreiten mit soviel Verve die Schwelle zum camp, dass man sich nicht mehr in einem überlebensgroßen Melodram wiederfindet, sondern einer Satire – einmal gar einer Parodie auf Naziploitationfilme, wenn die Ehefrau des Obersturmbandführers den Jud Süß Marian auf einer Filmgala abschleppt, um mit ihm während eines Luftangriffs Sex zu haben. Im Dachgeschoß des Hotels. Vor offenem Fenster, illuminiert durch den Bombenhagel. Während sie vor Extase „Mach mir den Juden!“ schreit.

3. Der beste Moment:

Jedenfalls mit Sicherheit keine der Szenen, in denen Bleibtreu, Gedeck oder Stadlober sich gegenseitig übertrefen wollen, wer übertriebener grimassierend durch die Kulissen chargieren kann.

4. Diese Menschen mögen diesen Film:

Wer Douglas Sirk – Filme liebt und keine Probleme damit hat, wenn dabei Antisemitismus, der zweite Weltkrieg und das Filmbusiness verhandelt werden.

* Regie: Oskar Roehler
* imdb

Winter’s Bone

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=y-xangQaLTg[/youtube]
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1. Der Film in einem Satz:

Der ganz harte Stoff: White Trash, Crystal Meth, Tod, Verderben und Countrytraditionals.

2. Darum geht‘s:

Die 17jährige Ree ist das einzige funktionstüchtige Element der Dolly-Familie. Die Mutter in Katatonie verfallen, der Onkel ein tätowierter Drogensüchtiger und der Vater Crystal-Meth-Brauer, der gerade mal dank Kaution auf freiem Fuß ist. Daddy Jessup ist aber dennoch nicht bei seiner Familie und hier liegt auch der White-Trash-Hase begraben, denn wenn Papa nicht innerhalb von sieben Tagen vor Gericht auftaucht, ist das für die Kaution verpfändete „Haus“ (mehr eine Holzbaracke) und das dazugehörige Land weg. Wohin soll dann die junge Ree mit ihren zwei kleinen Geschwisterchen, um die sie sich aufopfernd kümmert? Deshalb nimmt Ree die Geschicke ihrer Familie einmal mehr selbst in die Hand und versucht ihren Vater zu finden. Sie stößt dabei aber auf eine Mauer des Schweigens und merkt, dass weder gemeinsame Klassenzugehörigkeit noch Geschlecht oder Familienbande weiterhilft, ihren Vater zu finden.

Natürlich liest sich diese Zusammenfassung wie ein schweres bedrückendes Drama und – das wollen wir auch überhaupt nicht verhehlen – zu lachen und schenkelklopfen gibt es hier nichts, rein gar nichts. Aber im Gegensatz zum dramaturgisch missraten mäandernden „Submarino“ von Thomas Vinterberg hat Regisseurin Debra Granik „Winter’s Bone“ trotz des bedrückenden Themas jederzeit im Griff und erzeugt einen Sog, der bis zur letzten Sekunde des Films anhält. Minute um Minute entwickelt sich „Winter’s Bone“ dabei mehr zu einem Thriller, weil wir gemeinsam mit Ree ihren Vater suchen. Wir wissen nicht mehr als sie, spüren ihre Verzweiflung – und ihren unbedingten Kampfeswillen. Jennifer Lawrence als Ree ist sensationell. Keine einzige Szene des Films findet ohne sie statt.

Auf beeindruckende Weise spiegelt „Winter’s Bone“ den weiteren Verfall einer abgehängten Klasse. Das ist kein White-Trash-Sein im coolen Vice-Sinne, das ist ernüchternd realistisch dargestelltes Elend, das in einem Land mit der Entwicklungsstufe der Vereinigten Staaten einfach nicht mehr vorkommen dürfte. Dass diese Klasse sich nur noch mit Verbrechen über Wasser hält, ist wahrscheinlich keine Neuigkeit, aber der zusätzliche Verfall an Vertrauen und familiären Zusammenhalt, der durch den grassierenden Missbrauch von Crystal Meth verschärft wird, beraubt die Väter-Generation ihrer Leben oder ihrer Freiheit und die Kinder-Generation ihrer Hoffnungen auf eine auch nur spärlich glückliche Zukunft.

„Winter’s Bone“ gewann den Hauptpreis in Sundance und das zu recht. Im gesamten Wettbewerb der Berlinale lief kein besserer Film als Graniks in der Nebenreihe „Forum“ verstecktes, brutalrealistisches Thrillerdrama. Wichtig, bedrückend, spannend.

3. Der beste Moment:

Als Ree ihre Suche beginnt, erstmals auf eine Mauer aus Schweigen stößt und langsam merkt, dass alles noch viel schlimmer werden wird als sie geahnt hatte.

4. Diese Menschen mögen diesen Film:

Wer bedrückende Dramen gerne mit einer stringenten Thrillerhandlung verbunden sieht.

* Regie: Debra Granik
* USA
* imdb

Boxhagener Platz

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=OfoHcpgCJMs[/youtube]
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1. Der Film in einem Satz:

Auch in der DDR war man ein bisschen unangepasst.

2. Darum geht‘s:

Oma Otti laufen die Männer hinterher. Der aktuelle liegt noch auf dem Sterbebett, da wollen schon der Fisch-Winkler und der alte Spartakist Karl der guten Otti an die Wäsche. Enkel Holger lernt von seiner Oma etwas übers Leben und die Verdauung, vom Opa in spe Karl dagegen was über gute (gibt’s leider keine mehr) und schlechte Kommunisten (sind an der Macht). Papa ist VoPo, Mama will am liebsten in den Westen. Dysfunktionale Familien sind also nichts aus den Nullerjahren, die hatte man auch schon in der DDR der 60er.

„Boxhagener Platz“ entscheidet sich nie so recht, ob es jetzt eine coming-of-age-Geschichte über Holger oder ein spätes-Glück-ist-immer-möglich-Märchen für die Großelterngeneration sein möchte. Oder doch ein sanfter Revolutionsfilm? Oder gar ein betulicher Krimi mit klassischem whodunnit? Am Ende ist Boxhagener Platz nichts von alledem, leider auch keine Geschichte über Familienzusammenhalt bzw. -zerfall in Zeiten politischer Unterdrückung – zudem noch derart langsam und behäbig erzählt, dass keinerlei Schwung aufkommen mag. Ein Fernsehfilm, wahrlich nicht mehr.

3. Der beste Moment:

Die Beerdigung des aktuellen Mannes, die die Oma selbst in die Hand nimmt, nachdem ihr die Elogen des Pfarrers auf den Verstorbenen dann doch zu lang und übertrieben werden.

4. Diese Menschen mögen diesen Film:

Wer schon 1918 im Spartakus-Bund war und gerne seine Geschichten unhektisch wie damals, in der guten alten Zeit, erzählt bekommen möchte.

* Regie: Matti Geschonneck
* imdb

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