Nun wurde der peruanische Film über eine Frau, die zu sich selbst findet, zwischen 80.000 Toten und vergewaltigten Frauen im peruanischen Bürgerkrieg, mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Alle sind voll des Lobes. Was für eine Geschichte. Bürgerkrieg, der Dschungel Südamerikas, Blut, Waffen, Sperma, böse Männer, mutige Opfer, Frauen die einen Sarg mit der toten Mutter hinter sich herziehen: ‚traumhaft‘ schöne Bilder, boah, super, großes Kino. Ich selbst habe den Film leider nicht gesehen, weil ich aus Prinzip nur Filme sehe, in denen ich selber vorkomme. Oder jemand, den ich kenne. Oder jemand, den ich kennen könnte. Oder jemand, der jemanden kennt, den wenigstens meine Freundin gekannt hat oder kennenlernen könnte. Nur kennen wir und diese ganzen Genannten niemanden, der tötet, eine Waffe trägt, mit dieser in anderer Leute Köpfe schießt, Frauen vergewaltigt, verprügelt, demütigt und umbringt, ja nicht einmal eine Nachbarin, die ihre tote Mutter im Sarg hinter sich herzieht. So ist dieser realitätsvernebelnde Schmarrn genauso an mir vorbeigegangen wie die Siegerfilme der letzten 20 Berlinalen.
Aber anschließend wurde wieder fleißig gefeiert. Ein böser Zufall wollte es aber, daß meine Crew und ich zwischen zwei Partyterminen (um die zeitliche Lücke zu füllen und weil wir gerade in der Nähe der repräsentativen Stadtwohnung in der Schönhauser Allee waren) im neuen alten ‚White Trash‘ landeten. Wir dachten uns nichts dabei, schließlich war das ‚White Trash‘ noch vor zwei Jahren halbwegs passabel gewesen, und 2004 sogar die beste Bar der Stadt. Beim Reingehen empfing uns noch die gute (wenn auch inzwischen abgenudelte) harte, präzise weiße Metal Musik aus besseren Tagen. Aber das Publikum war nicht wiederzuerkennen. Überall soviele Haare plötzlich, also auch hier (wie überall jetzt in Mitte), alles so studentoid! Das Gegenteil von style. In nur wenigen Jahren ist dieser Laden also vom Glamour-, fifties suicide girl-, und Metrosex-Vorzeige-Kreativ-Aushängeschild zur Münsteraner Mensa-Kantine herabgesunken. Überall Ärmlichkeit, Fussel- und Ziegenbärte, Pickel, Brillen und selbstgestrickte Schlabberpullover. Und prompt wechselte nun auch die Musik auf schottische Volkslieder und Guns-and-Roses Altmännergeblöke, was soziologisch gesehen dasselbe bedeutet. Die Typen standen am Flipper oder am Tischfußballkasten und kickerten, während die Mädel in der Sinalco rührten. Irre, wie schnell der Niedergang eines Lokals, und damit eines Viertels, einer Stadt, eines Landes kommen kann, wenn der Kapitalismus zusammenkracht (s.a. ‚Finanzkrise‘ u. dergl. in früheren Einträgen). Die Bedienung ist nun plötzlich fett wie eine LPG-Melkerin; wo haben sie die so schnell herbekommen? Wo sind die langbeinigen Stuten von vorher geblieben, die schon mal einen rülpsenden Dickwanst aus Passau verprügelten, wenn der ihnen blödkam? Die nachts um drei aus schierer Lebensfreude Literküge voll Bier auf tanzende Gäste kippten? Jetzt dagegen: speckige Lederjackentypen am Tresen, käsige, ungesunde Müsligesichter am Tisch, Kapuzenpullover, Erst- und Zweitsemester die gerade nach Berlin gezogen sind, Touristen, Provinz. Wir stürzten entsetzt ins Freie. Mit zittrigen Fingern wählte von Winzenburg seinen Kontaktmann für die nächste Berlinaleparty an. Ja, jetzt konnten wir kommen, sagte der, es sei schon ok, nicht überragend, aber ok. Ob wir nichts Besseres wüßten, wo wir gerade seien, wie es da so sei?
Winzi klappte das Handy abrupt zu.
„Losfahrn! Los gehts! Auf der Stelle! Gasgeben, los, los!!“
Die Reifen mahlten auf dem Asphalt, daß es böse qualmte. Endlich wieder Berlinale, das letztemal…
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