Samstag, zweiter Tag der Konferenz: Der lange Mann aus dem Publikum ist erregt. Seine Hand am Mikrophon zittert. „Ich habe jetzt zwei Referate gehört und werde wohl noch einen drittes aushalten. Ich will aber wissen, welchen Sinn, welchen Nutzen, welche Botschaft diese Reden haben. Ich bin Unternehmer, Steuerzahler, Vertreter der Zivilgesellschaft“.
Hartmut Rosa, der dritte Referent, wendet sich zum dem Unternehmer. „Ich habe eine Botschaft und brauche Sie dazu.“ Marx habe als einer der ersten und einzigartig die heutige Moderne im „Manifest“ analysiert. Das beginne mit Klassenkampf. Er nehme das aber als Sinnbild für die ungeheure Dynamik des Kapitalismus. Bei Marx sei die Moderne ein gewaltiger Erfolg der Menschheit in allen denkbaren Dimensionen, der es erlaube, nicht mehr vor allem um das nackte Überleben zu kämpfen. Der Mensch habe das erreicht – als Antreiber und als Arbeiter. Im Gegensatz zu anderen Analytikern habe Marx aber behauptet, dass dieser Überlebenskampf nicht aufhören werde. Im Kapital weise er nach, dass Antreiber und Arbeiter, Jäger und Gejagte, in EINE Steigerungsspirale geraten seien. Die Verwertung sei das Subjekt geworden und treibe alle ihre „Objekte“ über ihre alle Grenzen.
„Wir sollten deshalb aufhören, dem Kapitalagenten zu bestätigen, dass er Gewinner ist. Dieser Klassenkampf schafft Feindbilder und hält uns womöglich davon ab, über ein gutes Leben und einen Ausstieg aus dieser Beschleunigungsspirale nachzudenken, und die Entfremdung hindert uns daran, aus dem Klassenkampf auszusteigen, um die Beschleunigungsspirale zu stoppen.“ Sie blockiere alle, die sogenannten Gewinner oder die Unterschichten. Ein viel besseres Leben als dieser Wettlauf nach allen Seiten sei möglich. Das sei die Botschaft.
Alle müssten aussteigen
Der Beifall ist stark und durchgängig. Rosa spricht brillant, völlig frei, engagiert und problemoffen. Zum ersten Mal seit Konferenzbeginn melden sich die Frauen zu Wort. Der Unternehmer entschuldigt sich. Eine Frau erklärt, dass diese Spirale aber doch kein Spiel sei und die Ausstiegschancen unterschiedlich bei einem Unternehmensberater, der Golf spiele und einer Frau an der Netto- Kasse. Der Unternehmer wohnt auf einem Golfplatz und spielt Golf. Er lacht. Eine zweite Frau setzt nach, dass es wohl doch Sinn mache, Jäger und Gejagte zu unterscheiden und genauer zu differenzieren, wer wie wann raus kommen könne und auf wessen Kosten. Da müssten schon alle aussteigen, sondern rückten andere sofort nach. Dann warten alle auf alle. Ob er, Rosa, die sogenannte Gewinner überzeugen wolle. Rosa nickt. Ein Stahlkäfig, was sich so einfach anhört. Die Niederlage der Arbeiterbewegung in den 90ern sei ein Grund. Aber es gibt dennoch den Ausweg in diesen Reichtumsgesellschaften. Wenn er ein Drittel der Manager gewänne, das wäre doch schon was. Gelingt der Ausweg nicht, kommt die Krise. Die „klärt“ das dann. Das wäre ohne Einfluss der deutlich schlechtere Weg.
Ich denke, wie zwingend der Ausstiegsgedanke ist und wie schwer zu fassen unter tausend Sichten und Argumenten. Da könnte Theorie helfen. Marx. Da geht es um Kategorien für die Öffnung komplizierter und verstrickter Wirklichkeit. Im Vormittag ging es um die Öffnung von Kategorien. Die Wirklichkeit fehlte. Hartmut Rosa sitzt, bis der Saal geschlossen wird. Vor ihm stehen etwa 20 Leute. Der gerade spricht, fragt nach Arbeit. Er habe vielleicht eine Zeiterfassung, ist die Antwort. Die Zeit ist um.