vonlottmann 13.05.2011

taz Blogs

110 Autor*innen | 60 Blogs
Willkommen auf der Blogplattform der taz

Mehr über diesen Blog

Wir alle haben es gelesen oder sogar im Fernsehen mitverfolgt: die Blamage des SPIEGEL Redakteurs bei der Verleihnung des Henri Nannen Preises Anfang der Woche. Er hatte eine Reportage mit dem Titel ‘Im Stellwerk’ geschrieben und dafür den ersten Preis für mutigen Journalismus gewonnen. Diese Reportage hatte ich selbst gern gemocht, damals, als sie erschien. Sie handelte von der geheimen Modelleisenbahn im Keller eines bayerischen Top-Politikers. Wie der nun prämierte Journalist das beschreibt, war wunderbar (und ich gebe zu: so gut hätte ich auch einmal schreiben können mögen): Da steht der Politiker, ein echtes Schwergewicht, am Stellpult seiner Anlage und läßt die Züge fahren, läßt sie umleiten, greift in die Fahrpläne ein, dirigiert gleichermaßen Dampflokomotiven, den Rheingold Express, modernste ICE Züge mit Neigetechnik. Auf den beleuchteten Bahnhöfen ertönen Anweisungen aus kleinen Lautsprechern. Im Güterverkehrbereich werden Mini-Container transportiert. Die achtachsigen Loks aus der Zwischenkriegszeit stoßen echten Wasserdampf aus und stehlen damit dem ‘Krokodil’ die Schau, der legendären E-Lok der Schweizer Bundesbahnen. Und vieles mehr, ich könnte es unmöglich alles so präzise aufschreiben, so journalistisch leuchten lassen wie dieser Pfister (ich glaube, so war der Name des Reporters). Über fünfeinhalb Heftseiten erstreckte sich diese phantastische Eisenbahnbeschreibung, und ich las damals von Seite zu Seite mit wachsender Erregung die tolle Story. DAS war endlich Journalismus, wie er sein sollte! Zudem, ich gebe es zu, hatte ich mir als Kind genau so eine Märklin Riesenanlage gewünscht, und damals, das weiß ich noch (als wäre es erst gestern gewesen), gedacht: wenn ich einmal groß bin und erfolgreich oder vermögend, dann kaufe ich mir so eine tolle Bahn und stelle sie in den Keller oder auf den Dachboden. Diese Reportage war also wie ein nachgeholtes Erlebnis, oder, wie man so sagt, eine ‘Erfahrung, die man kaufen kann’!
Und nun: Es kam heraus, daß der Reporter nie in dem Keller gewesen war. Alles Gonzo-Schreibe, wie bei mir selbst.
Ich will endlich auch so einen Preis haben und ihn dann aberkannt bekommen, wie es sich gehört!

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/blamage_fuer_den_spiegel_/

aktuell auf taz.de

kommentare