vonGerhard Dilger 17.04.2009

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Marcos Romão, 56, Journalist, Soziologe und afrobrasilianischer Aktivist, ist die treibende Kraft hinter dem Hamburger Radio Mamaterra. Der taz schickt er zum 30. Geburtstag folgenden Gruß:

Vor 21 Jahren, als ich nach Deutschland kam, bestieg ich in Rio ein Flugzeug, das aus Frankfurt kam und über São Paulo nach Frankfurt zurückflog. Ich setzte mich neben einen Brasilianer mittleren Alters, der nach fünf Jahren gerade aus Deutschland zurückkam.

Er hatte eine taz in der Hand und sagte zu mir, hör mal, wenn du in Deutschland leben willst, achte auf zwei Dinge: Erstens, lass dich nicht von den depressiven Gesprächen der Leute beeindrucken. Zweitens, wenn du deprimiert bist, lies nie diese Zeitung namens taz, denn sonst steigst du gleich wieder ins Flugzeug. Es ist erschreckend, was die aus den Niederungen der deutschen Politik berichten!

Den ersten Rat habe ich befolgt: In diesen 21 Jahren habe ich mich durch die schlimmen Dinge, die ich in diesem Land erlebt habe, nie deprimieren lassen. Den zweiten Rat hab´ ich mir – dem Himmel sei Dank – nicht zu Herzen genommen.

Mit der taz in der Hand habe ich den Mauerfall gesehen – just in der Zeit, als ich aus Verzweiflung über die hiesige Politik drauf und dran war, nach Brasilien zurückzukehren. Und über die taz habe ich die Mauern in Brasilien, in Argentinien und anderswo fallen sehen. Die taz hat es nicht zugelassen, dass ich mich allein oder deprimiert gefühlt hätte in einem Land, wo die Leute nur Ferienbungalows in anderen Ländern kennen und meinen, die Grenzen ihres Landes fangen in den Schlafzimmern an.

Als in Solingen, ganz in der Nähe, wo ich arbeitete, ein Gebäude voller TürkInnen angezündet wurde, hatte ich wieder die taz im Kopf. Und wieder kam ich nicht dazu, in Depressionen zu verfallen, so groß war die Mobilisierung zur Solidarität, wie ich der taz entnehmen konnte.

Als ich bereits in Hamburg wohnte, wollte ich meine Koffer packen, als die verrückte rechtsextreme Koalition an die Regierung kam, „Richter Gnadenlos“ Schill die Minderheiten verfolgte, vor allem die AusländerInnen, die, so sagte er, hergekommen waren, um den Wohlstand der Deutschen zu „verfrühstücken“.

Nachdem mich „Richter Gnadenlos“ durch die Kürzung der Mittel für die MigrantInnen arbeitslos gemacht hatte, blieb mir das taz-Soliabo. Als die meisten Zeitungen der Stadt gegen Schwarze und Ausländer hetzten wie mich, war es mir Trost und Versicherung, dass es noch Stimmen in Deutschland gab, die vor Fremdenfeindlichket und Rassismus warnten. Die taz war da – und ich blieb.

Heute verwenden meine mittlerweile 14-jährigen Zwillingstöchter die taz für ihre Referate. Mein türkischer Freund bestellt die taz für seinen Kiosk und bringt die Hartz-IV-Leute dazu, sie zu kaufen. Er befolgt den Rat, den ich ihm gegen habe: Als Ausländer wirst du hier alt, ohne zu wissen, was um dich herum passiert – es sei denn, du liest die taz.

Die taz verdient meinen Dank, denn sie hat mir geholfen, spirituell hier geblieben zu sein und meinen kleinen Beitrag dafür zu leisten, dass dieses Land weniger traurig ist. Aber die taz ist auch schuld daran, dass ich lebenslänglich Deutschland bekommen habe.

In diesen Jahren habe ich gelernt, dass die taz und Deutschland wie der brasilianische Zuckerrohrschnaps sind, die cachaça – sie zeigen die harte Wahrheit, aber die Leute werden süchtig danach und lassen sie nicht mehr los. Umso besser, dass ich den Rat des unbekannten Passagiers nicht befolgt habe!

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https://blogs.taz.de/brasilianische_liebeserklaerung_an_die_taz/

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