»If guns are outlawed, only outlaws will have guns«, raunt man in den Wohnzimmern der USA. Diese Redenart inspirierte die Autorin Eva Ziessler auf der rechtsgerichteten Website für ein liberales Waffenrecht in Deutschland zu folgendem, ihrerseits inspirierenden Kommentar:
»Die Entwaffnung friedlicher Bürger durch den Staat ist es nämlich, die uns in umfassender Weise wehrlos gegenüber solchen Tätern macht und es ihnen erlaubt, wie in Norwegen, ungestört und ungehindert eineinhalb Stunden lang ein Gemetzel unter 700 vollkommen verteidigungsunfähigen Menschen anzurichten«.
Eva Ziessler plädiert in ihrer Wortmeldung dringend für die gesetzliche Aufhebung des Waffenverbots für erwachsene Bürger. Nur so könne die Zahl der Toten bei Taten, wie der von Anders Behring Breivik in Utøya gesetzen, in relativ engen Grenzen gehalten werden.
Die gute, alte »Abschreckung« steht hier zur Debatte. Da ist etwas dran! Nur der Punkt ist nicht der Mangel an Schusswaffen, wie ein Forumsteilnehmer gegen Ziessler richtig einwandte, »sondern die absolute Unkenntnis in der Bevölkerung über elementare waffenlose Selbstverteidigungstechniken, sowie nichtvorhandene Stressfestigkeit bei der Anwendung solcher Techniken in Gefahrensituationen«.
Muskelproletarier waren unter den Opfern im Ferienlager von Utøya offenbar keine. Hätten zehn entschlossene Jungs zu den wohl sicher vorhandenen Steinen, Campingmessern und Grillgabel gegriffen, oder hätte eine noch größere Gruppe den Attentäter mutig und opferbereit umringt, um ihm die Waffe wegzunehmen, statt wegzulaufen und sich in den Rücken schießen zu lassen, es hätte keinen Massenmord gegeben.
Aber es kam anders. Dem Himmel ist bekanntlich so wenig zu trauen wie den Nerven. Auf der Insel im Tyrifjord wiederholte sich das Geschehen von New York vor zehn Jahren, wo die Täter nur Teppichmesser hatten und die Gruppe der Flugpassagiere trotzdem nicht in der Lage war, sich gemeinsam zu verteidigen.
Ich habe als staatlich geprüfter Wehrdienstverweigerer natürlich das allergrößte Verständnis für Fluchtreflex und Feigheit, für die unerschütterlichste aller Wahrheiten: dass einem das eigenen Hemd stets am nächsten ist. Und wir können ja ohnehin nicht mehr ändern, was am traurigen 22. Juli in Norwegen geschehen ist.
Die Leichen sind erkaltet, und der Mörder schlägt sich öffentlich via Anwalt an die Brust, er möchte in Wikipedia lesen, er möchte in Uniform vor das »Kriegsgericht« des Mulikulturalismus hintreten und mit verbalen »Begründungen« seiner Vendetta auf die Mordopfer noch einmal hintreten.
Wofür ich allerdings fast genauso wenig Verständnis habe, das sind Überlebende, die sich jetzt selbstgefällig in Szene setzen. Der Ökonom Ali Esbati zum Beispiel, ehemaliger Vorsitzender der schwedischen Ung Vänster (Junge Linke), gab der linksliberalen Tageszeitung Der Standard eine Woche nach dem Geschehen ein ausführliches Interview.
Der 34jährige ist, wie das Foto zeigt, von kräftiger Statur und saß gerade beim Essen in der Cafeteria der Ferieninsel, als er vor dem Todesschützen gewarnt wurde – also zumindest in Reichweite von Messer und Gabel. Ali Esbati rief die Polizei an und verstecke sich 90 Minuten lang erfolgreich, u. a. im seichten Wasser hinter Felsen, bis die Einsatzkräfte tatsächlich vom Festland her eintrafen und Breivik gefangen nahmen.
Einmal, berichtet dieser Überlebende des Massakers, soll der Killer nur 15 Meter von ihm entfernt gewesen sein. Schon gut, sage ich, flüchten ist absolut menschlich; das Vor-Angst-Schlottern sitzt uns in den Genen. Aber nur sechs Tage später möchte Ali Esbati mit uns dringend über die »Prioritäten der Sicherheitsdienste« in Norwegen diskutieren und die Welt darüber belehren, dass die Rahmenbedingung des Verbrechens »die Entschärfung des politischen Konflikts entlang der sozioökonomischen Achse« war, spricht: einer nach rechts driftenden norwegischen Sozialdemokratie.
Zitat: »Wenn ich als Wähler in Bezug auf Wirtschaftspolitik, Reform des Wohlfahrtsstaates oder Terrorismusbekämpfung keine Unterschiede mehr zwischen den Sozialdemokraten und den Konservativen erkennen kann, führt das zu Desinteresse oder dazu, dass andere Themen politisch entscheidend werden«.
Kaum der realen Kopfschußgefahr entronnen, geht bei dem Mann das Politgeschwätz mit unverminderter Heftigkeit weiter. Statt aus Pietät mit den getöteten GenossInnen zu schweigen und das beschämende eigene Widerstandsversagen zu reflektieren: die dumme alte Phrasendrescherei mit neuer Energie. Unappetitlich, nenne ich das, moralisch unwürdig, und eine Niederlage in der Niederlage.
© Wolfgang Koch 2011