Nach einer Woche breitester Diskussion in Massenmedien und Internetforen über das monströse politische Verbrechen in Oslo frage ich: Warum fordert eigentlich niemand die Todesstrafe für Anders Behring Breivik?
Nirgends, auch in den dümmsten Leserbriefspalten der Boulevardmedien nicht – in denen sonst für jeden Kinderschänder sofort nach dem Galgen gekrächzt wird –, erhebt sich der Ruf nach finaler Vergeltung für die Morde an jugendlichen Sozialdemokraten und Zufallsopfern der Bombe im Regierungsviertel von Oslo.
Das wirkt seltsam steril, abwesend, gefühlsfremd. – Es ist, als verbeuge sich die Masse der Kolumnisten und Kommentatoren höflich vor einem Mann, der für seine kalkulierten Morde an Landsleuten höhere Intentionen und ein Diktat des Gewissens ins Spiel bringt: den Eroberungsgeist der Kreuzritter, die Rettung der Nation, die Menschheitsveredelung der Freimaurer, den Gerechtigkeitswillen der Christenheit.
Das Fehlen der Forderung nach der Todesstrafe wirkt auf mich, als mache der kleine Mann in Europa einen Kotau vor dem Pseudoakademismus einer voluminösen Rechtfertigungsschrift, deren politisches Verständnis von Zusammenleben in einer modernen Gesellschaft nur als mörderisch bezeichnet werden kann.
Man verstehe mich nicht falsch! Auch ich rufe nicht nach dem Henker für Breivik –: doch ich konstatiere das auffällige Fehlen dieser, bei Postern und Leserbriefschreibern sonst so stark eingefleischten Forderung … als wollte die europäische Zivilisation diesem Mörder nicht auf gleichem Niveau begegnen, als wollten wir ihm das eliminatorische Gottesgericht auf der Ferieninsel nicht mit gleicher Münze heimzahlen, sondern die Schizophrenie seines Wirkens durch ein Schweigen über die Tiefe seiner Schuld beschwören.
Die europaweite öffentliche Diskussion, soweit sie die Strafe für das Massaker an den 76 Menschen betrifft, beschränkt sich auf die gesetzlich mögliche Höchststrafe in Norwegen (21 Jahre) und auf die allfälligen Chancen der Staatsanwaltschaft, Breivik entweder a] mehrfach anzuklagen oder b] den Tatbestand eines »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« juristisch ins Spiel zu bringen.
Diese Überlegungen wirken vernünftig, und sie sind es auch. Aber welches Schulmassaker in den letzten Jahren wurde nicht umgehend von einem emotionalen Wutrausch in den Medien beantwortet? Welche politisch motivierte Explosion einer Autobombe rief nicht wenigstens einen Racheschwur hervor?
Der sonst so verlässliche Ruf nach der Todesstrafe bei einem Kapitalverbrechen wirkt im Fall Breivik, als würden wir kollektiv anerkennen wollen, dass hier einer nicht blindwütig gehandelt hat, sondern logisch-rational, und dass diesen, seinen Beweggründen zumindest ein Körnchen Wahrheit innewohne, wenn auch die Methoden ganz und gar zu verwerfen seien.
Aber verbinden sich im Fall Breivik wirklich metaphysische und moralische Bedeutung? Nein. Das Bedürfnis nach einer logischen Herleitungen seines Handlungsmotivs entspringt nur der allgemeinen moralischen Trägheit der Zuschauer.
Breiviks Menschenjagd auf Jugendliche war keine Sekunde identisch mit dem, was er selbst glaubt; seine Rechtfertigungen sind intellektuelle Scheinerklärungen. Und wir, die Zuschauer, stellen den logischen oder nichtlogischen Charakter seines Handelns nicht aufgrund unserer Kenntnis seiner Tat, sondern aufgrund unserer eigenen Taten fest.
Was sich im fehlenden Ruf nach der Todesstrafe artikuliert, ist eine bemerkenswertes Selbsttäuschung unserer Zeit: nämlich dass politischer Terrorismus immer eine Exzentrik des Altruismus sei, eine Perversion der Menschenliebe; der an sich selbst irre gewordener Wunsch zur Gesellschafts- oder Weltverbesserung; das abwegige, ja bizarre Wirken einer im Grund doch gutmütigen Absicht.
© Wolfgang Koch 2011