Natürlich werden auch die Wiener dem Täter seine Taten niemals verzeihen; darüber hinaus aber hegen wir einen besonderen Groll gegen ihn, weil er mit seiner irrationalen Rechtfertigung des Massenmordes den Namen unserer Stadt in den Schmutz gezogen hat.
Der geständige Mörder Anders Behring Breiviks nennt den von ihm herbei fantasierten Think Thank seines wilden Kreuzzugs-Nationalismus: Vienna School of Thought, zu Deutsch: Wiener Schule des Denkens.
Benennung sind Elementarereignisse, denen man höchstens durch Markenschutz vorbeugen kann. In diesem Fall nützt nicht einmal mehr das; ein gleichnamiges Managerseminar in Wien steht völlig zu Unrecht vor einem Erklärungsnotstand. Die Zugriffe auf die Homepage des Instituts, das mit dem Wiener Technikum und der angesehenen Johannes Kepler Universität Linz kooperiert, wollen kein Ende nehmen.
Beleidigend ist der Ausdruck »Vienna School of Thought« für ein ideologisches Machwerk voller Weltmachtsfantasien, weil diese Stadt lange einen Geisteskontinent dargestellt hat, besonders in der Zeit zwischen 1848 und 1938, und keine ihrer anziehenden und anregenden Denk- und Stilrichtungen etwas mit der mit der menschenverachtenden Lehre des norwegischen Täters zu tun.
Breivik versteht seine »Vienna School« ausdrücklich als intellektuelle Reaktion auf die Frankfurter Schule der Philosophie, die aus dem Institut für Sozialforschung der 1920er- und 1930er-Jahre hervorging und sich der Ausbreitung der Kritischen Theorie auf alle Gebiete der Wissensermittlung verschrieben hat.
Breiviks Gegenprojekt soll nun den nationalkonservativen Denkern als Plattform in Europa dienen. Die Akademie, die dieser diabolische Kopf sich vorstellt, vertritt einen prononciert antidschihadistischen und antiislamischen Standpunkt, sie unterstützt den Überlebenskampf Israels und soll die westliche Zivilisation mit konservativem Selbstbewusstsein stärken, solange sie noch nicht endgültig demographisch von der moslemischen Welt überrannt wird.
Der Name »Vienna School of Thought« bezieht sich hier, wie der Titel von Breiviks Bekennerschrift selbst, auf die Abwehr der Osmanen bei der Zweiten Belagerung von Wien 1683. Wie schon beim österreichischen Briefbomber Franz Fuchs steht Graf Ernst Rüdiger von Starhemberg, der Verteidiger der belagerten Stadt, ganz oben auf der Bewunderungsliste seines norwegischen Epigonen.
Der Autor Breivik hypostasiert aus seinen Terrorakten einen Zweig der »Neuen Europäischen Rechten«, der ausdrücklich als »Hybrid aus verschiedenen Sub-Ideologien« gedacht wird – mit Positionen von gemäßigt bis heillos extrem.
Breivik kennzeichnet seine Denkschule durch die Zuschreibungen: national, europäisch pan-national, kreuzfahrerisch, christlich, kulturkonservativ, monokulturalistisch, patriachal und Israelfreundlich. Seine Contra-Liste ist erheblich länger und erklärt die Terror-Denkschule ausdrücklich zum Gegner von: Marxismus, Globalisierung, Internationalismus, Dschihadismus, Islamisierung, Imperialismus, Feminismus, Pazifismus, EU, Matriachat, Rassismus, Faschismus, Nazismus und Totalitarismus.
Während die »Vienna School« – die weder mit dem Geistesleben der Donaustadt, noch mit einem kollektiven Erkenntnis-Prozess etwas zu tun hat – gegen die individualistischen Liberalismus grundsätzlich nichts einzuwenden habe, so Breivik, sei die Ökonomie ein Gegenstand, der von ihr ausdrücklich nicht behandelt werde, weil sich ihre Anhänger darüber noch nicht einig seien.
Auch über andere Fragen der Gegenwart seien die Konzile der Terror-Denkschule noch zu keinem abschließenden Resultat gekommen: die Revolutionsfrage; den exzessiven Einfluss der US-Kultur auf den Westen; die Stationierung der US-Truppen in Europa; die Einschränkung der Medienfreiheit; die Deportation von Muslimen; die Haltung zum israelischen und zum russischen Staat; das in der Ferne liegende eurosibirische Projekt; die Teilung Südafrikas; die Frage, ob man Indien oder China mehr unterstützen soll; die Frage, ob Muslime aus Thailand, den Philippinen und Sri Lanka vertrieben werden sollen; weiters, ob Teile Anatoliens der Türkei entrissen werden sollen; ob Afrika als christlicher Kontinent aufblühen wird; ob man die Volksgruppe der Roma und Zigeuner in Anatolien neu ansiedeln könnte; und schließlich, wie den verfolgten Christen im Libanon, in Assyrien und Ägypten zu helfen sei – das alles seien in seiner Wiener Denkschule noch heiß umstrittene Fragen.
Nun wird man sich im Ausland leicht vorstellen können, dass dieser politische Humbug in der Stadt von Kraus, Freuds und Wittgenstein, in einer Stadt, die Martin Buber, Elias Canetti und Ingeborg Bachmann beherbergt hat, in einer Stadt, in der heute Elfriede Jelinek, Walter Seitter, Peter Gorsen, Hermann Nitsch und viele andere kluge Köpfe wirken, auf helle Empörung stößt.
Tatsächlich haben unsere Vorfahren ja weltbewegende Geistesschulen aller Art hervorgebracht: gleich drei Schulen der Wiener Medizin, eine Denkschule der Nationalökonomie, zwei Schulen der Musik, den Austromarxismus und den Wiener Kreis (die beide im 20. Jahrhundert nicht freiwillig von der Bildfläche getreten sind), und schließlich die Psychoanalytische Bewegung: sie war mit ihren zahlreichen Spaltungen und Verästelungen die wohl erfolgreichste Neuauflage einer alten Denkschulen der griechisch-römischen Antike.
An all das erinnert man sich in der ganzen Welt mit Stolz. Und auf diese hohe Kultur der intellektuellen Auseinandersetzung, der Kreativität und des Fortschritts soll nun dank Breivik der groteske Schatten einer fremdenfeindlichen Hasswelle fallen? – Nein, die menschenverachtende Kosmologie dieses Mannes verbessert nicht einen einzigen Zukunftsgedanken!
Das erwähnte Weiterbildungsseminar für Manager ist durch den unerwünschten plötzlichen Ruhm in der Öffentlichkeit so nahe an rechtsextremes Gedankengut gerückt, dass sich die Institutsleitung letzte Woche zu einer förmlichen Distanzierung gezwungen sah.
Die Tageszeitung Die Presse nannte übrigens, was doch eine handfeste Namensgleichheit ist, verstohlen eine »Namensähnlichkeit«, um dem unentwegt Guten im Menschen eine Verkörperung im Raum zu geben.
© Wolfgang Koch 2011