vonJakob Hein 13.03.2010

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Friends und Family – Sie kennen es von der TUI, Sie werden es lieben beim Auswärtigen Amt! Guido Westerwelle verreist mit Freunden und Familie, na und? Vielleicht ist sein Lebensgefährte zufällig der bester Sport-Event-Manager (was auch immer das sein soll) und sein Bruder ein ausgewiesener Wirtschaftsexperte für Asien. Das Problem geht doch weit über die persönlichen Kreise Westerwelles hinaus, auch wenn er im Zentrum der Debatte verbleibt. Das Problem der Günstlingswirtschaft in Deutschland ist heute noch am wenigsten an verwandtschaftlichen Beziehungen festzumachen, vielmehr droht der Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit einer neo-feudalen Schicht zuzuwuchern, ein Phänomen von weitaus größerer Bedeutung als der Bruder vom Schwager eines Cousins des Außenministers.

Von allen OECD-Staaten ist Deutschland das Land mit der geringsten sozialen Mobilität. Ob die Eltern der Mittel- oder Oberschicht angehören, entscheidet in Deutschland wie in keinem anderen westlichen Land über Schulabschluss, Aufstiegschancen, späteres Einkommen. In logischer Folge vollzieht sich die Entwicklung einer weitgehend abgekoppelten Unterschicht, ohne Abschluss, ohne Chancen. So entwickeln sich Parallelgesellschaften. Wer aus der dritten Generation des Wohlstands kommt, kann natürlich in jungen Jahren „Geld in die Hand nehmen“, um eine Geschäftsidee auszuprobieren. Wenn die Idee vollständig scheitert, muss eines der Ferienhäuser verkauft werden, in der Regel behilft man sich durch einen Kredit vom ehemaligen Banknachbarn, Golfpartner, Nachbarn. Bis zu zwei Millionen ist alles regelbar. Ein absolut nachvollziehbares wirtschaftliches Agieren, jedoch kein Modell für jemanden, dessen fünfköpfige Familie seit Jahren vergeblich darum kämpft, Schulden von fünftausend Euro zu überwinden.

Achtzig Prozent der heutigen Bundestagsabgeordneten stammen aus wohlhabenden Verhältnissen, zum Anfang der Bundesrepublik war das einmal vollkommen anders. Bei aller Verantwortung und auch bei Grundannahme von Redlichkeit für die Parlamentarier, kann es der überwiegenden Mehrheit der Volksvertreter nicht leicht fallen, die Probleme des so genannten Prekariats zu verstehen. Das zeigen die wenig einfühlenden, auf Einzelfälle gerichteten Anmerkungen zu den Empfängern staatlicher Transferleistungen. Und der Vorschlag, den Abstand zwischen einfacher Arbeit und Hartz-IV dadurch zu verringern, dass man letzteres noch absenkt, führt zu Einbußen für beide Gruppen. Denn schließlich verdienen die arbeitenden Geringverdiener ohnehin schon so wenig, dass sie ergänzende Hilfeleistungen regelhaft in Anspruch nehmen müssen. Und natürlich motiviere ich einen arbeitslosen Rechtsanwalt durch schärfere Regeln dazu, sich Arbeit zu suchen. Aber einen mittellosen Erwachsenen mit Migrations- dafür ohne Bildungshintergrund kann ich durch Verschärfungen nur quälen. Ihm fehlen die Modelle, seine Chance auf Integration hat man womöglich schon dadurch verpasst, dass man seiner Mutter Geld dafür bezahlte, dass sie ihren Sohn nicht in den Kindergarten gegeben hat.

So beschränken sich Freiheit und Chancengleichheit zunehmend auf eine Bevölkerungsminderheit. Für ein paar Tausend Euro kann man mit dem Ministerpräsidenten sprechen, mit größeren Summen einiges Aufsehen als Parteispender erregen. Wie aber kann man sich als Wachschützer im Drei-Schicht-Dienst mit ergänzender Sozialhilfe Gehör verschaffen? Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn zufällig der Mann am Nachbartisch der Beste für einen Job ist. Aber wenn die Mehrzahl der Menschen draußen stehen und noch nicht einmal an die Tür klopfen können, dann ist das ungerecht und langfristig gegen unsere Demokratie gerichtet.

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