vonMargarete Stokowski 21.03.2019

Buchmesseblog

taz-Autor*innen bloggten live von den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt. Ein Schmöckerladen für Buchliebhaber*innen.

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Gestern Abend wurde die Buchmesse eröffnet, im Gewandhaus. Ganz am Anfang finde ich mich zwischen drei Feuilletonisten wieder, ich mag sie alle, aber sie reden über Gleitsichtbrillen und Arbeitsplatzbrillen und ich muss zwanzig Jahre warten bis ich da mitreden kann, aber bin ja geduldig.

Im Gewandhaus steht an der Wand: RES SEVERA VERUM GAUDIUM. Kollege U. mutmaßt, das heiße, die ernste Sache ist eine wahre Freude, Kollege Google sagt, es heißt, wahre Freude ist eine ernste Sache.

Jedenfalls: Die erste wahre Freude ist die Musik des Gewandhausorchesters, sie spielen unter anderem die Moldau von Smetana, und ich bin leicht besessen davon, die Frau an der Triangel anzugucken, weil sie das ganze Stück auf so eine schöne Art von schräg hinten dominiert mit diesem kleinen Gerät. Hab nachgeguckt, die Frau hieß Xizi Wang. Ehrenvollste Triangel ever!

Während Monika Grütters eine dieser Reden hält, die bei solchen Anlässen gehalten werden, fällt mir zum ersten Mal auf, dass das Logo der Leipziger Buchmesse ein brennendes Auge ist, das in ein Buch starrt.

Warum? Keine Zeit, das zu klären. Die Eröffnung der Buchmesse ist gleichzeitig auch der Festakt zur Verleihung des Leipziger Preises zur Europäischen Verständigung, an Masha Gessen. Ihr Buch „Die Zukunft ist Geschichte“ hat den Untertitel „Wie Russland die Freiheit gewann und verlor“. Laudator Gerd Koenen nennt es ein „nicht eben optimistisches Buch“, und das ist vielleicht fast noch ein bisschen untertrieben. Gessen ist 1967 in Moskau geboren, dann 1981 nach Amerika ausgewandert und 1994 nach Russland zurückgekehrt. Sie adoptierte ein Kind und bekam dann noch zwei und verließ das Land dann wieder 2013 wegen der homophoben Gesetzgebung in Russland.

Gerd Koenen: „Der Hauptbefürworter dieser neuen Gesetzgebung, der Petersburger Abgeordnete Milonow, nannte dabei, ich zitiere. ‚die Adoption und Aufzucht russischer Kinder in pervertierten Familien wie der von Masha Gessen‘ als Paradebeispiel einer dringend zu unterbindenden Praxis.“

Gessen selbst sagt in ihrer Dankesrede, „Die Zukunft ist Geschichte“ zu schreiben sei konkreter, persönlicher und schmerzhafter gewesen als die meisten ihrer anderen Projekte: „Ich wollte ein Buch darüber schreiben, warum meine Träume nicht in Erfüllung gegangen waren.“ Diese Suche verbindet sie mit Geschichten anderer Menschen in Russland und der Verdrängung der Geisteswissenschaften in der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft, die nicht nur die persönliche Freiheit einschränkte, sondern auch dazu führte, dass Menschen gehindert wurden, „auf ihre Geschichte zuzugreifen“, etwa aus Angst, darüber zu sprechen, wer von ihren Bekannten oder Verwandten verhaftet oder ermordet wurde: „Niemand hatte eine Vergangenheit.“

Später liege ich noch die halbe Nacht wach und kann nicht schlafen, lese stattdessen Texte von Masha Gessen. Mein Kollege Jan Fleischhauer hat neulich erst in seiner Kolumne geschrieben: „Ich habe nie nachvollziehen können, warum ausgerechnet die Toilettenfrage bei der geschlechtlichen Selbstdefinition so wichtig geworden ist. Mir fallen tausend Dinge ein, die bedeutender wären (…).“

Gessen schreibt in einem Text unter anderem über die Toilettenfrage. Sie geht in einem Café aufs Klo und hört dabei zwei Frauen reden: Da sei ein Mann aufs Frauenklo gegangen – “Yeah, he just marched right in. I was standing here waiting and I saw him go in.” Damit ist offensichtlich sie gemeint. „It was my fifty-second birthday. I have been dealing with bathroom exits and entrances for nearly half a century. My gender presentation has been at variance with my biological sex for most of my life.“

Sie schreibt, wie sie einen Flug verpasst, weil das Flughafenpersonal sich nicht entscheiden kann, ob ein Mann oder eine Frau sie abtasten soll. Wie der Flughafenscanner Alarm schlägt, weil er nur „Frau“ oder „Mann“ als Einstellung kennt und sie nicht zuordnen kann. Wie die Polizei denkt, sie sei ein Teenagerjunge, der den Führerschein einer Frau benutzt.

Es gibt eine offen gewalttätige Seite der Diskriminierung, die Leute schnell verstehen können. Und es gibt die andere Seite, die oft denen verborgen bleibt, die nicht betroffen sind: Dass etwa die binäre Einteilung in Geschlechter und andere Formen der Diskriminierung immer auch brutale Ablenkung vom Leben sind. Dass sie Platz im Gehirn derer wegnehmen, die gern auch einfach ihr Leben leben würden wie andere.

Es gibt ein Zitat von Toni Morrison, die über Rassismus sagt: “The function, the very serious function of racism is distraction. It keeps you from doing your work. It keeps you explaining, over and over again, your reason for being.”

Auf Buchmessen gibt es oft die etwas schwer zusammenzubringende Gleichzeitigkeit von Feierlichkeit und Floskeln, „das Buch als Kulturgut“, „die Freiheit des Wortes“ – und den Inhalten, die sich in dieses kulturbetriebliche Standardvorgehen nie ganz fügen, wenn sie Verletzlichkeit, Schmerz, Gewalt, Traumata beschreiben. Die Preisverleihung an Masha Gessen war so ein Fall. Eine wahre Freude, dass sie den Preis bekommen hat, und gleichzeitig eine ernste, sehr ernste Sache.

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https://blogs.taz.de/buchmesse/2019/03/21/ernste-freude/

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