vonSchröder & Kalender 17.10.2008

taz Blogs


Willkommen auf der Blogplattform der taz-Community!

Mehr über diesen Blog

***
Wir sehen nicht, wie der Bär flattert, wir sind in Frankfurt.
***

Es soll Leute geben, die manchmal zu Besuch nach Berlin kommen, denen gibt Annett Gröschner den Hinweis: »Nicht, dass Berlin nicht auch manchmal piefig, unerträglich und provinziell sein kann. Aber wenn schon Provinz, dann wenigstens die Hauptstadt.« Jedenfalls sollten alle, die etwas mehr über die Stadt erfahren wollen, ihr neues Buch ›Parzelle Paradies. Berliner Geschichten‹ lesen.

Wir haben darin viel Interessantes erfahren und uns ›wie Bolle amüsiert‹. So heißt übrigens Annetts Glosse über den in Niederschönhausen geborenen Jörg Schröder. Hier eine kleine Textprobe aus einer anderen Geschichte: »Am Savignyplatz fühle ich mich heute noch so, als sei gerade die Mauer aufgegangen und ich käme aus dem Osten zu Besuch. Zwar sieht es mittlerweile am Kollwitzplatz auch nicht anders aus, aber der erinnert mich immer an die Mahnungen meiner Mutter, wenn ich mir als Teenager die Finger rot lackierte – man muss vorher den Dreck unter den Nägeln entfernen. Der Kollwitzplatz ist ein bißchen so wie dreckige, aber rotlackierte Fingernägel, und meine einzige Hoffnung ist, dass niemand auf die Idee kommt, ihn ein für allemal rauszupulen.«

***

Die Professorin Elizabeth Heineman von der University Iowa City fragte Ende September 2008 in ihrem Referat ›Linke Bewegung und Sexwelle‹: »Wie kann dieser bekannte Verleger (Jörg Schröder) ein Linker sein und gleichzeitig pornographische Filme herausbringen?«

Wer weiß, vielleicht ist die Urszene dieser Konnotation das Regal auf der Treppe, wovon wir heute in unserer Kolumne in der jungen Welt erzählen:

An der Treppe

Underground auf der Königsallee

Bei der Schrobsdorff’schen Buchhandlung auf der Düsseldorfer Königsallee begann ich als »Jungbuchhändler« meine Karriere – im doppelten Wortsinn von »carrière«, das bedeutet im Französischen sowohl »Laufbahn« als auch »Steinbruch«. Erwin Bornemann, der erste Sortimenter, war Leutnant gewesen, ihm fehlte ein Finger, und er unterließ es nie, wenn er in aufgeräumter Stimmung war, darauf hinzuweisen, daß er fast vors Kriegsgericht gekommen wäre, weil es ja in der Tat pflichtvergessene Selbstverstümmler gegeben habe, die sich selbst einen »Heimatschuß« verpaßten. Bei ihm sei es natürlich ein echter Querschläger gewesen, nie hätte er sich zu solch einer Feigheit hinreißen lassen, bis zur letzten Patrone habe er irgendeine Festung, die mir entfallen ist, verteidigt. Ein Nazi, wie er im Buche steht, mit offenem Visier: »konservativ-revolutionär« nannte er seine Weltanschauung. Die Sterne an seinem Literaturhimmel waren Hans Grimms ›Volk ohne Raum‹, Erwin Guido Kolbenheyers ›Das dritte Reich des Paracelsus‹, Josef Pontens ›Wolga, Wolga‹, Edwin Erich Dwingers ›Die Armee hinter Stacheldraht‹ sowie die Bücher des höchstgeschätzten Will Vesper.

Wie brachte so ein Buchhändler es über sich, Literatur zu verkaufen, die nicht nazistisch verseucht war? Ohne Probleme. Er hatte sich auf das Ablesen des Ladenpreises getrimmt. Während Bornemann mit dem Kunden sprach, spürte man keine negativen Vibrationen. Das ist die Buchhändlerschizophrenie. Einen Brecht kaufen, das ging bei ihm, aber gnade Gott, du wolltest ihn als Lehrling unter seiner Fuchtel lesen. Er stotterte manchmal leicht, und wenn er erregt war, also irgendeine Form von kommunistischer oder pornographischer Unterwanderung vermutete, brachte er fast keinen Ton heraus. Wütend versuchte er Jürgen von Wille von der Treppe zu scheuchen: »Herr von Wewewille!«, seine Zähne klickerten nervös, »wowowollen Sie sich nicht mal dort um den Kukukunden kekekümmern!« Denn Herr von Wille stand auf der Treppe und las Brecht, er machte Eindruck auf mich. Ein junger, vom vielen Hocken über den Büchern rundschultriger Mann mit dicker Hornbrille, großem Mund und in die Stirn gekämmten Brecht-Flusen, er hielt sich am liebsten an dieser Treppe auf, die zum Orkus der Fachliteratur hinunterführte. Hier gab es nämlich zwei Regalbretter für linke Autoren und Pornographie, darauf waren Jürgen von Willes Lieblingsbücher untergebracht. Pornographie und Kommunismus gehörten bei Schrobsdorff zusammen – das war der Underground 1957.

Auch einer unserer besten Kunden stand am liebsten dort, ein großer Mann mit krausen schwarzen Haaren, deshalb nannten wir ihn »Kräuselmeier«. Eigentlich hieß er Meier und war ein Bibliomane, der die Buchhandlung alle zwei Tage besuchte, viel kaufte, aber auch klaute. Alle Angestellten mußten Kräuselmeier unauffällig beschatten – unauffällig, weil er neben seinem Privatkonsum für die Lieferungen an den DGB zuständig war, in dessen Zentrale er arbeitete. Wenn er wieder etwas eingesteckt hatte, wurde er diskret darauf hingewiesen, daß er wohl vergessen habe, ein Buch zu bezahlen. Sogar Doktor Mayer, der Inhaber der Buchhandlung, der sich sonst aus Gründen der Thomas Mannschen Distinktion nicht auf solche Niederungen herabließ, lauerte oben in seiner Chefkanzel, wenn Kräuselmeier sich bei den Klassikern im Salon zu schaffen machte.

Kräuselmeier war auch ein Weiberheld, und es ist ja nichts Neues, daß die silberstrümpfige Buchhändlerin für Intellektuelle eine spezielle Anziehungskraft besitzt. Über eine dieser Jungbuchhändlerinnen erzählte Annemarie Scheffler Fürchterliches. Sie raunte mit lüstern herabgezogenen Mundwinkeln: »Inge hat eine Affäre mit Kräuselmeier, der ist richtiggehend pervers!« Von Frau Scheffler, einer vierzigjährigen hochbusigen und kurzhalsigen Dame aus der Zeitschriftenabteilung wußte ich wiederum, daß sie eine kurze und dramatische Affäre mit Erwin Bornemann durchlitten hatte. Annemarie Scheffler dampfte heftig, als sie mir unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit mitteilte: »Kräuselmeier hat schreckliche Sachen mit dem Lehrling Inge getrieben. Ganz pervers ist der!« Inge habe sich ihr anvertraut, weil Kräuselmeier sie nämlich sexuell abhängig machte – »mit Analverkehr!« Zum ersten Mal hörte ich außerliterarisch von dieser Sexualpraxis. »Inge«, gluckste Frau Scheffler, »hat versucht, von ihm wegzukommen, aber sie ist ihm hörig geworden.« Analverkehr! Es ist schon ein Unterschied, ob du so was an der Treppe in den Olympia-Press-Greenbacks liest, wo auch die ›Geschichte der O‹ erschienen war, oder von einer blonden Buchhändlerin hörst, die ihn tatsächlich praktizierte. Immer, wenn ich von nun an Kräuselmeier sah, mußte ich an Analverkehr denken. Der jungen Kollegin hat diese Hörigkeit nicht geschadet, weil sie nämlich gleich nach dieser unsäglichen Affäre einen Industriellen aus dem Ruhrgebiet heiratete.

***

Wir sind am 17. und 18. Oktober auf der Buchmesse in Frankfurt a. M. von 14 bis 16 Uhr am Stand des Martin Schmitz Verlags anzutreffen: Halle 3.1 B 165.


Foto Martin Eberle

Am 19. Oktober fahren wir weiter nach Erlangen, dort findet um 16 Uhr im ›Blauen Salon‹ ein Gespräch über Bernward Vesper und die 68er statt: ›Die Reise – Psychogramm einer Generation?‹ mit Jörg Schröder (Herausgeber und Verleger der ›Reise‹) und Andres Veiel  (Autor und Regisseur). Moderation Prof. Dr. Michael von Engelhardt.

(AG / EH / ME / BK / JS)

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/buecher_die_uns_gefallen_3/

aktuell auf taz.de

kommentare