Der Holzjournalist und Politaktivist Christian Specht kam heute mit einer Unterschriftenliste zur Gründung einer „Bürgerbewegung“ an. „Das unterschreib ich nicht,“ sagte ich, der sich sonst an jeder seiner komischen Unterschriftensammlungen beteiligt, „da fehlt doch das Wichtigste – wofür oder wogegen. Da fehlt ein Hauptbahnhof,“ sagte ich. Enttäuscht zog er von dannen, mußte mir aber recht geben. Anscheinend hatte ihn der wachsende Stuttgarter Widerstand gegen das Großprojekt „Stuttgart 21“ so nervös gemacht, dass er hier auch unbedingt so etwas initiieren wollte.
Die Hysterie steht am Anfang jeder Wissenschaft, meinte Jacques Lacan einmal.
Der Bewegungsforscher Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin, hat inzwischen schon die Reaktion der Schwaben auf Großprojekte erforscht:
Wo sie sich noch in den Zwanziger- und Dreißigerjahren gehorsamst auf Eingaben an die Obrigkeit beschränkten, die höchstens eine polizeiliche Drangsalierung der Absender bewirkten, „schimpfen die Leute heute nicht mehr nur am Stammtisch, wenn sie etwas empört,“ meint er. „Die Sitzblockade ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.“ Neben dem idiotischen 7-Milliardenprojekt „Stuttgart 21“ formiert sich im „Ländle“ auch der Widerstand gegen einen Investor, der im Schwarzwald am Schluchsee das „größte Pumpspeicher-Kraftwerk Deutschlands“ bauen will. Nebenan in Oberbayern gibt es ebenfalls ein Großprojekt – die Olympischen Winterspiele 2018, das von den Betroffenen, in diesem Fall Bauern, bekämpft wird. Wo sie früher laut eigener Einschätzung nur allzu gierig ihre Wiesen und Almen dem Fortschritt opferten, sind sie jetzt zu sturen Umweltschützern geworden: In Oberammergau haben sie das Großmaul Willy Bogner, Skirennfahrer, Modemacher und Olympiaplaner, bereits mit der Androhung eines „Bürgerbegehrens“ ausgebremst, in Garmisch-Partenkirchen wird noch um die Abschmetterung der Olympiapläne gerungen.
In Norddeutschland wird derweil um die Verhinderung von zwei agrarisch-industriellen Großprojekten gekämpft: Einmal in Haßleben in der Uckermark, wo es um eine Schweinemastanlage für 35.000 Tiere geht und zum anderen in Wietze bei Celle: Dort will ein Investor, der nun laut eigenen Worten „die Welt“ nicht mehr versteht, „Europas größten Geflügelschlachthof“ errichten, in dem alle 7,5 Sekunden ein Tier getötet wird. Zur Auslastung müssen im Umkreis von 150 Kilometer 420 Aufzuchtbetriebe entstehen. Einer – bei Sprötze – wurde kürzlich abgefackelt. Man vermutet „militante Tierschützer“ hinter der Tat, solche besetzten auch den Bauplatz für den Schlachthof. Sie wurden am 11.8. von der Polizei vertrieben. Die Solidaritätsfront breitet sich dennoch aus. Weniger spektakulär und noch nicht von Sympathisantenmassen unterstützt sind die republikweiten Widerstände der Bürgerinitiativen gegen „Windparks“ von Großinvestoren. Und schon gar nicht bekannt ist, dass in Nordfriesland alle Windkraftanlagen im Besitz von friesischen Bauern sind: Sie haben bisher jeden Versuch, ausländischer (d.h. nichtfriesischer) Investoren, dort einzubrechen, abwehren können, wie eine Studie der Universität von Texas gerade rühmt. In Stuttgart versuchen die Bürger das Kapital u.a. mit „Montagsdemonstrationen“ fern zu halten. In Leipzig, wo man diese Protestform „erfand“, wollte man damit zuletzt das Kapital anlocken. Ähnliches wollten dann die Arbeitslosen im Osten, als sie damit nach Wiedervereinigung und Deindustrialisierung Investitionen für neue Arbeitsplätze forderten.
Mit der Sowjetunion und der DDR ging aber nicht nur die Arbeitsplatzgarantie flöten, sondern auch der Fortschrittsglaube und die „Gesellschaft“ überhaupt. Wir leben inzwischen in „nach-gesellschaftlichen Projektwelten“, es geht nicht mehr um Modernisierung, sondern um Ökologisierung (der Welt). Auch die Postmoderne haben wir mit der Wende hinter uns gelassen. Nun knüpft man noch einmal bei der Prämoderne an – als „Natur“ und „Kultur“, „Subjekt“ und „Objekt“, „Fakt“ und „Fetisch“ noch ungeschieden waren, um all diese „Dinge“ neu zu verhandeln. Im Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft müssen sich darüberhinaus alle geschlossenen Institutionen (Knäste, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten) „öffnen“. Der Zwang zum „Lifelong Learning“ zersetzt naturgemäß die Schulen als erstes. Beginnend witzigerweise mit den alten Eliteschulen, die so autoritär strukturiert waren, das die nun sogar rückwirkend Empörung hervorrufenden (sexuellen und gewalttätigen) „Übergriffe“ quasi zu ihrem „Erziehungsstil“ gehörten. Bis in die Achtzigerjahre war es im übrigen für das (west-)deutsche Führungspersonal Pflicht, zuvor als Offizier in der postfaschistischen Bundeswehr gedient zu haben. All dies zusammen mit dem Umbruch in der Arbeitswelt – es werden keine Männer-Arbeitsplätze mehr, sondern nur noch Frauen-Arbeitsplätze gebraucht, hat in den USA bereits in mehreren Studien, die die intellektuelle und soziale Superiorität der Frauen in fast allen Bereichen thematisierten, zu der Frage geführt: Ist diese Gesellschaft überhaupt noch für Männer geeignet? Und damit sind nicht nur „richtige Männer“, Entscheider, gemeint, sondern auch alle subalternen Weicheier. In Summa: Jede mehrheitsversessene Präpotenz wird durch minderheitliche Propositionen ersetzt.
Die Süddeutsche Zeitung fragte angesichts der journalistischen Notwendigkeit, immer neue Aspekte der Bürgerproteste gegen das Großprojekt „Stuttgart 21“ aufzutun, ihre Auslandskorrespondenten: Wie gehen die Bürger in den anderen Demokratien mit Großprojekten um?
Die Doppelseite mit ihren Berichten beginnt gleich mit einer dreisten Lüge: Da steht unter einem Photo von den drei Hochhäusern am Potsdamer Platz: „Der Potsdamer Platz in Berlin gehört zu den erfolgreich verwirklichten Großprojekten in Deutschland“. Das ist falsch: Kein Mensch möchte sich dort länger aufhalten, gar arbeiten und wohnen, die Büros, die Wohnungen, die Restaurants, die Musicals, die Kulissen – alles Beton-Fakes auf die unangenehmste Weise. Und die Eigentümer – Sony und Daimler – wissen das auch: Sie schieben diese Scheißimmobilie wie selbst angeekelt hin und her. Schon beim Verkauf dieses „Zentralen Berliner Platzes“ an ein Großprojektemacher-Konsortium war dem sich dagegen formierenden Bürgerprotest klar, dass der Potsdamer Platz am Ende so greulich sein würde wie von ihnen befürchtet. Zudem hatte die Stadt den Investoren das Gelände praktisch geschenkt. Und als die Bauarbeiten am „Potsdamer Platz“ begannen geriet den Unternehmen ihr Großprojekt erst einmal zum „größten Arbeitslager Europas“, mit geduldeter Schwarzarbeit in Größenordnungen, so dass die Stundenlöhne der ausländischen Bauarbeiter wie weiland im Faschismus so weit sanken, dass z.B. einige russische Bauarbeiter dort für 1 DM pro Stunde arbeiteten. Sie schliefen im Tiergarten. Der US-Regisseur Dusan Makavejew hat daraus später in seinem Film einige beim Abzug der Roten Armee zurückgebliebene Rotarmisten gemacht, die im Berliner Zoo Unterschlupf gefunden haben. Noch später veröffentlichte der Wiener Schriftsteller Robert Menasse eine Erzählung – „Das Ende des Hungerwinters“, in der es um die Geschichte einer jüdischen Familie geht, die vor den Nazis in den Tierpark von Amsterdam geflüchtet war, wo sie im Affenhaus überlebt hatte – aber um welchen Preis?
Hier ein taz-Bericht v. 15.6.1996 über das Großprojekt „Potsdamer Platz“:
Der Potsdamer Platz oder auch janz Berlin ist zwar nur ein Schiß gegenüber den Betonmassen, die in Bangkok oder Shanghai vergossen werden, trotzdem scheint es so, als hätte der ehemalige Chef des Rüstungskonzerns Daimler-Benz, Reuter, den arbeitslosen Massen West- und Osteuropas zugerufen: „Bevölkert diese Stadt! Seid schlau, kommt zum Bau!“ 15 Nationen zählte jüngst ein Reporterteam auf den hiesigen Baustellen. Aber bis vor kurzem – bis zur Ablehnung des Mindestlohns im Baugewerbe durch die Arbeitgeber – interessierte sich kein Schwein für diese Erbauer der neuen Hauptstadt: Die Politiker faselten von der „Konjunkturlokomotive Bau“ (Diepgen, Rexrodt) oder tönten theologisch: „Jede Baustelle ist eine Hoffnungsstelle“ (Stolpe/ Laurien), ja schulten sogar Zigtausende von Ost-Arbeitslosen noch zu Bauarbeitern um, die Journalisten gingen sogar so weit zu schreiben: „Staumacher Bauarbeiter – Zwei Kaffee-Pausen in einer Stunde“ (BZ). Was die Springer-Journalisten dumpf raushauen, hauptstädtert der Berlin-Autor der FAZ, Schlögel, hymnisch: „Baustellen sind wie Wirbel“ und „die Stadt gewinnt an Tempo. Es entsteht das komplizierte Regelwerk aus Vorfahrt und Anhalten, die Disziplin des Stop and Go.“ Seitdem sich jedoch immer mehr Journalisten, zum Beispiel am Potsdamer Platz, wo Daimler- Benz, Sony und ABB bauen, für die Bauarbeiter interessieren, wird deutlich, daß es sich bei dieser Baustelle um eine Art postfaschistisches Arbeitslager handelt, wo vorwiegend Ausländer mangels Verdienstmöglichkeiten in ihrer Heimat gezwungen sind, sich für einen Hungerlohn selbst zu „versklaven“ (und das auch selbst so nennen).
Sie sind angehalten, nicht über ihre Löhne mit Journalisten zu reden, auch nicht über ihre Unterbringung: winzige Zweibettzimmer in Blechcontainern, in denen sie sich auch noch verpflegen müssen, die vom Lärm umtost und im Sommer brütend heiß sind. Bei Unfällen und Todesfällen erfährt die Berufsgenossenschaft nichts, da sie nur deutsche Arbeiter registriert. Die Schwarzarbeiter unter ihnen werden mitunter sogar schwerverletzt über die Grenze zurückgeschafft – so wurden bereits zweimal Transporte mit querschnittsgelähmten polnischen Bauarbeitern an der Oder gestoppt. Unter den Polen rangieren noch die Russen und Ukrainer – sie bekommen nur 20 Mark am Tag. Hinzu kommt noch die Ablehnung durch ihre deutschen Kollegen, die ohnmächtig dieser zunehmenden Dumping-Konkurrenz aus dem Ausland gegenüberstehen und sich dieser nicht anders als rassistisch zu erwehren wissen. Als zwei Bauarbeiter eines kleinen Subunternehmers, die netto 3.200 Mark verdienen, gefragt werden, was sie täten, wenn ihr Chef sie entlassen und statt dessen Portugiesen für 8,15 Mark die Stunde einstellen würde, antworten sie: „Was meinst du, wie schnell deren Container brennen!“ Die Gewerkschaft IG Bau kämpft dagegen – mit dem Rücken zur Wand. 23.000 arbeitslos gemeldete Bauarbeiter gibt es bereits in der Stadt – Tendenz steigend. Obwohl die Berufsgenossenschaft und die IG Bau inzwischen mit einem Info-Container am Rande des Potsdamer Platzes vertreten sind und laut Tarifvertrag sogar jederzeit die Bauarbeiterunterkünfte inspizieren können, bekommt die Gewerkschaft auf dem Baugelände, das eingezäunt ist und nur mit Spezialausweisen sowie in Begleitung von bezahlten Führern der drei Bauherren betreten werden darf, keinen Fuß auf den Bauboden.
Der Potsdamer Platz ist das größte geschlossene Arbeitslager Europas – und ausgerechnet hierbei spricht die FAZ von einer „offenen Baustelle“. Viele Bauarbeiter sind in Kasernen am Stadtrand untergebracht – zum Beispiel Bosnier: Sie verdienen 2.000 Mark netto im Monat: Davon müssen sie 400 Mark für Vermittlung und Transfer aus der Heimat an ihren „Sklavenhändler“ zahlen, 200 Mark nimmt ihnen die deutsche Baufirma für den Bustransport von der Kaserne zur Baustelle und zurück ab, 500 Mark müssen sie für die Unterkunft in einem Zweimannzimmer in der Kaserne bezahlen und dann noch für Arbeitskleidung und Verpflegung aufkommen – am Monatsende bleiben ihnen 300 Mark. Die Wochenpost berichtete, daß die Bosnier- Brigade neulich noch nicht einmal dieses Geld ausbezahlt bekam, weil ihr Schlepper mit den Lohngeldern abgehauen war: „Reden will darüber keiner. Die haben Angst, sie kriegen ein Messer in den Rücken“, sagt Polier Franz Kapsecker. Auch die Baustellen- Bullen und -Verantwortlichen von Daimler, ABB und Sony kriegen langsam Schiß: Einmal, daß die gespannte Situation zwischen Deutschen und anderen Nationalitäten mit steigenden Temperaturen zu einem Baustellenkrieg ausartet und zum anderen, daß die Kritik an ihrer Arbeitslagerorganisation lauter wird. In dieser Situation reagieren sie zunehmend aggressiver: Bauarbeiter, die mit Alkohol erwischt werden, müssen mit Entlassung rechnen, ebenso ausländische Arbeiter, die zu lange dem Dolmetscher der IG Bau Fragen beantwortet haben. Ein IG-Bau-Journalist wurde neulich des Platzes verwiesen, nur weil er Unterkünfte von außen fotografiert hatte.
Nachdem ich diesen Bericht in der taz veröffentlicht hatte, bekam ich von der adligen Sprecherin des Großprojekts Potsdamer Platz ein „Platzverbot“, d.h. ich durfte die Baustelle Potsdamer Platz nicht mehr betreten. Statt meiner übernahm dann Dorothee Wenner die weiteren Recherchen am Platz. Heraus kam dabei am Ende ein Dokumentarfilm von ihr und Kornel Miglus: „Die Polen vom Potsdamer Platz“. Zu allem Überfluss distanzierte sich dann auch noch die IG Bau schriftlich von mir – wegen meines taz-Artikels über den Potsdamer Platz, den ich ursprünglich für die Zeitung der Bauarbeiter-Gewerkschaft geschrieben hatte, die am Potsdamer Platz mit einem eigenen Info-Container Präsenz zeigte.
Den vier polnischen Bauarbeiter, von denen Dorothee Wenners Film handelte, blieb die Baufirma, die sie auf den Potsdamer eingesetzt hatte, am Ende 60.000 Dm schuldig. Sie verklagten die polnische Firma in ihrem Heimatort, die Richter mochten dem Konzern jedoch kein Unrecht geben: die vier Bauarbeiter bekamen kein Geld. Wir vermittelten sie schließlich als Schwarzarbeiter an verschiedene Hausrenovierer in Brandenburg – zur großen Zufriedenheit beider Seiten, wie sich dann herausstellte.
Erst 2000 wurde ich, diesmal umgekehrt über Dorothee Wenner, wieder auf diesen Scheißplatz aufmerksam. Das war, als wir einen Inder kennenlernten, der dort arbeitete:
Im Zusammenhang der Metropolenwerdung wird gerne die Hauptstadtfähigkeit der Berliner angezweifelt. Dabei sind die meisten Neuhinzugezogenen noch weitaus dumpfer drauf: zum Beispiel die Daimler-Benz-Tochter Debis. Das fing schon mit ihrem Grundstückskauf an: 1. behaupteten die Stuttgarter, dass sie sich schon vor der Maueröffnung dort „engagierten“ – der SPD wurde jedoch in Wahrheit erst Anfang 1990 ihr Kaufinteresse signalisiert. 2. war der Kaufpreis dann so niedrig (1.505 Mark pro qm), dass Daimler-Benz später – von der EU dazu verdonnert – 34 Millionen Mark nachzahlen musste: Die Gutachter waren bei der Preisermittlung noch 1990 (!) von einem „Grundstück am Rande der westlichen City“ ausgegangen. 3. kostete die Daimler-Benz-Ansiedlung die finanzschwache Stadt dann: 25 Millionen für die Bodenreinigung, 12,5 Millionen für Ingenieurhonorare, 6 Millionen für einen Park genannten Grünstreifen und 300 Millionen wegen der Änderung der Stellplatzverordnung zu Gunsten von Daimler-Benz. Hinzu kommt noch der moralische Verlust wegen der Ansiedlung des größten deutschen Rüstungskonzerns ausgerechnet auf dem „politisch sensiblen“ Potsdamer-Platz-Gelände. So wurde Daimler-Benz im Oktober 1999 in einer ganzseitigen Anzeige in der New York Times mit der Formulierung „Design – Leistung – Zwangsarbeit“ als eine besonders schweinöse Firma angegriffen, die während des Nationalsozialismus 460.000 Zwangsarbeiter beschäftigte. Für sein Buch „Berlin, Berlin – der Umzug in die Hauptstadt“ interviewte der Hauptstadtbüro-Leiter des Spiegels Michael Sontheimer den gefeuerten Sicherheitsingenieur der Debis-Großbaustelle Potsdamer Platz. Dieser, Jürgen Rubarth, meinte 1999: „Bei der Eröffnung floss der Sekt in Strömen. Oben wird gefeiert, unten schuften die Sklaven. Es ist traurig, aber wahr: Wir bauen unsere Hauptstadt mit Sklaven.“
Dorothee Wenner hatte ihre Potsdamer Platz Recherchen 1997 – unter Pseudonym – in der „Woche“ veröffentlicht. An einer Stelle schrieb sie: “ ,Gestern kam ein polnischer Arbeiter mit einer klaffenden Wunde am Arm zu mir. Der hätte eigentlich sofort zum Arzt gemusst‘, berichtet Michael, Sanitäter auf dem Debis-Gelände. ,Ich habe ihn notdürftig behandelt, dann ging er mit dem Verband wieder zur Arbeit‘.“ Nachdem ihr Artikel über die „rücksichtslose Ausbeutung“ der zumeist polnischen Arbeiter erschienen war, veröffentlichte „Die Woche“ eine Art Klarstellung dazu, in der die Zeitung berichtete, dass die Johanniter-Unfallhilfe, die für Debis die Sanitätsstation betrieb, sofort alle Helfer und Sanitäter mit Namen Michael vom Dienstplan strich: In einem Brief an ‚Die Woche‘ hatte nicht der Bauherr, sondern der Johanniter-Landesvorstand“ gepoltert: die Darstellung träfe so nicht zu. Anscheinend hatte die über den Artikel erboste Debis die Sanitäter ebenso wie zuvor die IG Bau gezwungen, sich schriftlich in dieser Form zu äußern. So wie sie laut Auskunft eines Magazinverwalters dort angeblich auch die Polizei überredete, vor Beginn jeder Razzia gegen Schwarzarbeit die Poliere zu informieren, damit diese „ihre schwarzen Schafe“ rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.
Nach Beendigung der Bauarbeiten berichtete Dorothee Wenner noch einmal über den Potsdamer Platz, diesmal über das dortige Einkaufs- und Freizeitcenter, das nun durch Glastüren von jedem betreten werden konnte, wo Debis jedoch eine Art Hausordnung mit Verhaltensregeln für die Besucher angebracht hat. In dem taz-Artikel zitierte sie unter anderem einen indischen Freund namens Tipu, einen angehenden Ingenieur, der gerade bei Debis einen Aushilfsjob hatte. Er sollte der Entwicklung eines individuellen Verkehrsleitsystems zuarbeiten. Nach einigen Monaten hörte er jedoch frustriert wieder auf, „weil er sich dort zu sehr ausgebeutet fühlte: Seine Freundin sollte er sich abschminken und stattdessen ein Handy zulegen, um immer erreichbar zu sein“. Tipu hatte aber noch für einen Monat Gehalt zu bekommen: „Schreiben Sie eine Rechnung!“, sagte ihm sein Debis-Chef, der Direktor für Mobility Services, Rummel. Das tat Tipu: 1.400 Mark für 80 Stunden.
Sodann erschien im September der taz-Artikel. Wenig später kam das Geld – jedoch nur 700 Mark. Tipu rief Rummel an. Der schrie ihn an und wies auf den Artikel hin: „Mehr Geld kriegen Sie nicht!“ „Was habe ich damit zu tun?“, fragte Tipu, „Sie können doch nicht einfach meine Rechnung ändern.“ Wieso nicht?! „Ich bestimme hier die Spielregeln“, erwiderte Rummel. Diesen Spielregeln (der neuen Dienstleistungsgesellschaft) gegenüber, darauf wollte ich hinaus, hat die typische schlechte Laune der Berliner geradezu die Qualität einer echten Widerstandsbewegung. Im Übrigen überlegt man sich bei DaimlerChrysler bereits, ob man Debis nicht besser abstoßen sollte. Abstoßend genug ist sie!
2001 druckte die taz eine „Beilage: Potsdamer Platz“. Unter der Überschrift „Der große Schwindel“ veröffentlichte dort ein Autor einen Text, den man vielleicht dem Genre „Gespräche am Nebentisch“ zuordnen könnte:
Eigentlich war ich verabredet. Aber sie würde wohl nicht kommen. Da hörte ich es zuerst, es waren nur Bruchstücke.
„Potsdamer Platz“ hörte ich und „Riesenschwindel“.
Ich wusste nicht, woher es genau kam, es war mir auch egal, es passierte soviel, das meiste nur illegal und es war besser man wusste nichts davon. Sie entführten Kinder für Sexvideos, sie bauten die Glühbirnen mit Absicht so, dass sie möglichst kaputtgingen. Und wenn man lange genug darüber nachdachte, dann war das auch vollkommen logisch. Ich bestellte mir einen Kaffee und einen Cognac, die Kellnerin konnte ihre Müdigkeit und Erschöpfung nur mühsam unter Schminke verbergen.
Nein, es war besser man wusste es nicht. Weder, was es mit dem Potsdamer Platz auf sich hatte, noch warum die Kellnerin so müde war. Man würde sich nur noch ein bisschen schlechter fühlen. Die Kellnerin brachte den Kaffee und den Cognac, ich bedankte mich und sie lächelte durch mich hindurch, als wäre ich ein Geist. Aus dem Stimmengewirr hörte ich wieder:
„Riesenskandal“ und „Wenn das rauskommt, Köpfe werden rollen, das geht bis ganz oben.“
Ich trank von dem Kaffee und war dann doch etwas traurig, dass sie nicht gekommen war. Sie hätte Bescheid geben können. Dann spürte ich es. Es war das Bier vom Vorabend, eins zuviel und was ich jetzt kommen spürte, nannte man Bierschiss. So ein Bierschiss kommt urplötzlich – so plötzlich, dass man sich tatsächlich in die Hosen scheißen würde, wenn man nicht sofort eine passendere Gelegenheit findet. Ich stand auf und versuchte zu den Toiletten zu kommen, ohne aufzufallen. Wieder waren da von irgendwo Satzfragmente:
„Mercedes Benz“ und „Sony“.
Ich war auf Toilette. Es mussten noch soch alte DDR Waschräume sein. Unmöglich, dass man bei den heutigen Mieten noch so etwas Gigantisches baute. Sie waren fast so großzügig gehalten wie der Cafésaal oben. Ich öffnete die erste Tür und setzte mich und es kam aus mir heraus in der für Bierschiss üblichen Konsistenz. Ich spülte, und da hörte ich die Tür.
„Was wollen Sie denn damit sagen?“
Verdammt, ich bemerkte, dass das Schloss kaputt war. Ich musste die Tür zuhalten. Und dann war die andere Stimme:
„Was ich damit sagen will? Es ist doch klar, es ist ein gigantischer Betrug. Ich bin durch Zufall dem größten Grundstücksbetrug Deutschlands auf die Spur gekommen.“
Jetzt war es zu spät für mich. Es war eine unangenehme, etwas heisere Stimme. Jetzt konnte ich mich nicht mehr geräuschvoll bemerkbar machen. Sie würden dann wissen, dass ich ihre merkwürdige Geschichte gehört hatte, die mich nicht interessierte. Es würde besser sein, ich blieb still.
„Gut, hier wir sind hier ungestört. Was genau haben Sie herausgefunden?“ „Der Potsdamer Platz, Sony und Mercedes Benz bauen da, haben Sie sich das schon mal angeschaut?“ „Selbstverständlich, wie Sie wissen, bin ich der Immobilienanwalt dieser Konzerne.“ „Dann wissen Sie auch, wo da überall gebaut wird. Potsdamer Platz, Gleisdreieck, Bülowstraße, allein drei U-Bahnhöfe lang ist nur Baustelle. Und da bin ich stutzig geworden. Am Potsdamer Platz wird gebaut, größte Baustelle Berlins, Europas, der ganzen Welt. Und es ist ja auch gigantisch. Und dann hab ich mich gefragt: Wie groß war denn der Potsdamer Platz überhaupt? Mir war schon klar, dass es ein wichtiger Platz war. Aber so groß wie ein ganzer Stadtbezirk? „Was wollen Sie damit sagen?“ „Ich war im Archiv. In mehreren Archiven. Alles konnten Sie und Ihre Helfer nicht beseitigen. Ich hab alte Stadtpläne durchgesehen, ich war im Grundbuchamt. Wie ich gedacht hatte, der Potsdamer Platz war ein ganz normaler Platz gewesen mit ganz normalen Grundstücken. Und jetzt ist der Potsdamer Platz ein Gebiet, so groß wie der Tiergarten.“
Die Türen gingen wieder, ich hörte Schritte und traute mich nicht einmal, mir den Arsch abzuwischen. Oben wartete mein Cognac und der Kaffee während hier schmutzige Machenschaften besprochen wurden. Dann wieder die Stimmen.
„Ich hab alles rausbekommen. Und jetzt will ich meinen Anteil. Ich bin nicht unverschämt, nur eine Kleinigkeit. Ich hab es mal überschlagen. Selbst zu dem symbolischen Preis, den Sony damals bezahlt hat, müsste das zusätzliche Gelände insgesamt 50 Milliarden wert sein. Beste Innenstadtlage.“
Es blieb einen Moment ruhig.
„Jetzt verstehe ich Sie. Ich denke wir werden usn schon einig. Gehen wir wieder nach oben.“
Sie verschwanden und ich wartete zur Sicherheit noch, bis der nächste den Raum betrat. Ich ging nach oben, trank meinen fast kalten Kaffee aus und den Cognac. Dann wollte ich los, so schnell wie möglich. Ich war schon viel zu lange hier. Manche sagten, die Menschen wären nicht schlecht. Aber mein Gott, wie sollte man es sonst nennen? Ich wollte bezahlen, da geschah es. In der anderen Ecke des Cafés, ein kleiner, dünner Mann mit wenig Haaren auf dem Kopf stand auf, griff sich an seine linke Seite und sackte auf dem Boden zusammen.
„Einen Arzt, einen Arzt!“ hörte ich eine Frauenstimme schreiben, hysterisch und häßlich im ton, wie in einem schlechten Film. Ich blickte hin zu diesem Mann, der auf dem Fußboden lag, ganz allein mit seinem dünnen Haar und seinem hässlichen Chemiefaseranzug. Es war nicht so, dass diese Stadt besonders schlimm war. Sie war normal, vielleicht hässlicher und etwas mehr offensichtlich von den falschen Leuten regiert. Alles hier war etwas weniger elegant und stoppte oft oder blieb stecken. Notärzte kamen hereingerannt und hatten den dünnen Mann in einem Augenblick auf ihrer Trage, noch einen Tropf angelegt und es schien mir, als ob einer in schwarz neben der Trag lief, der aus einem kleinen, dicken Buch vorlas. Und als ob einer der Notärzte den Kopf schüttelte. Aber das täuschte wohl. Es war zu weit weg. Und ich wollte auch nicht neugierig sein. Sie verschwanden, die Sirene heulte auf und wurde leiser. Mir schien es noch einige Minuten, als wäre das Geschwatze und Geschirrgeklapper ein wenig aufgeregter als normal. Dann kam die Kellnerin und ich bezahlte: Sie sah jetzt besser aus, ihre Augen glänzten und ihr Gesicht hatte eine frische Farbe. Sie bedankte sich für das Trinkgeld. Ich hatte eine Eingebung:
„Sagen Sie, wann haben Sie hier Feierabend? Es klingt sicher albern, aber ich würde Sie gern zu irgendwas einladen. Sie können sich aussuchen was.“
Sie sah mich an und ich bemerkte, dass sie schöne dunkle Augen hatte. Sie überlegte einen Moment, dann lächelte sie und sagte:
„Ich habe in einer Viertelstunde Schluss. Und soviel ist sicher: Billig wird es nicht.“
Sie ging zur Kasse, zu den Tischen und verschwand dann in der Küche. Der Tag war trübe und grau. Aber man musste ja nicht nach draußen gehen. Es gab viele Kneipen, Restaurants und Cafés. Und es gab Wohnungen in Berlin. Es war alles halb so wild.
2008 berichtete die taz über den Potsdamer Platz:
„Bei den Filetgrundstücken auf dem Berliner Immobilienmarkt gucken die Anbieter derzeit in die Röhre. Jüngstes Beispiel ist der gescheiterte Verkauf des Sony-Geländes am Potsdamer Platz. Die Interessenten drückten nicht nur den Preis auf zuletzt 800 Millionen Euro für das Areal. Nach Aussagen von Immobilien-Insidern verlangten sie von Sony zudem weitere hohe Abschläge, weil die Deutsche Bahn AG als Hauptmieter den Glas-Tower voraussichtlich 2009 räumt. Diese Forderung war dem Sony-Konzern dann zu viel. Er nahm sein Angebot erst einmal vom Markt. Dieser befindet sich seit der Finanzkrise in den USA auch in Berlin in schwerem Wasser. Nach Ansicht von Marcus Lemli, Abteilungsleiter beim Immobilien-Beratungsunternehmen Jones Lang LaSalle, zeigte der Markt in der zweiten Jahreshälfte 2007 bei „großvolumigen Paketverkäufen“ Schwächen.
Infolge der Krise zum Jahresende seien große Transaktionen „vom Markt genommen oder zeitlich verschoben worden“, da Investoren mit hoher Fremdfinanzierung „als Käufer ausfielen“, so Lemli. Zwar ist der Büroleerstand in Berlin nach einem guten Jahr 2006 und einem guten ersten Halbjahr 2007 von rund 1,7 auf 1,52 Millionen Quadratmetern gefallen. Das dicke Geschäft mit Verkäufen in den Spitzenlagen der Westcity oder in der neuen Mitte blieb aber die Ausnahme. Zeitlich besonders ungünstig traf Sony der Einbruch auf dem Kapitalmarkt im Herbst 2007. Just zu Beginn der Krise versuchte das japanische Elektronikunternehmen, seine Immobilien am Potsdamer Platz in Geld zu verwandeln. Die Frankfurter Investmentbank Drueker war mit der Vermarktung des 1-a-Anwesens beauftragt worden. Der mögliche Verkaufserlös des Towers und der Gebäude rund um das überdachte Sony-Center wurde auf 700 Millionen Euro bis 1 Milliarde Euro kalkuliert. Zunächst stotterte das Geschäft noch, jetzt musste es Sony aufgeben.
„Der geplatzte Deal zeigt, dass der Boom am deutschen Markt vorbei ist“, meint auch Rolf Scheffler, Leiter von Aengevelt Research. Wegen der Finanzkrise seien die Banken sehr zurückhaltend mit Darlehen für Immobilienkäufe. Dies drücke auf die Preise. Große Geschäfte im Wert von mehr als 500 Millionen Euro seien durch die Krise besonders betroffen. Glück im Unglück hatte hingegen Daimler. Der Autokonzern zeigte, dass keine Regel ohne Ausnahme bleibt. Ende 2007 konnte er seine 19 Immobilien am Potsdamer Platz an die schwedische Bank SEB veräußert. Der Kaufpreis soll bei 1,3 Milliarden Euro gelegen haben.“
2010 berichtete die taz noch einmal über den Potsdamer Platz:
„Der zweite Prozess um den Überfall auf ein Pokerturnier am Potsdamer Platz kommt nicht voran. Der aus der Haft vorgeführte Hauptzeuge – einer der bereits verurteilten Räuber – konnte am Dienstag vor dem Landgericht nicht vernommen werden. Einer der beiden mutmaßlichen Drahtzieher des Coups hatte den Vorsitzenden Richter Carsten Wolke als befangen abgelehnt.“
Die letzte Potsdamer Platz Meldung war mehr persönlicher Natur:
Als ich für den „Grundstein“ – das Organ der Bauarbeitergewerkschaft IG Bau – über den Potsdamer Platz berichten sollte, stand bereits die Fusion dieser Gewerkschaft mit der der Landarbeiter an. Die IG BAU übersetzt sich inzwischen mit IG „Bauen Agrar Umwelt“ und ihr Organ „Der Grundstein“ beinhaltet nun das altehrwürdige Organ der Landarbeitergewerkschaft: „Der Säemann“. Für diesen „Säemann“ schrieb ich 2009 eine Kolumne über das Elend der Erntehelfer und Saisonarbeiter im Neuen Europa.
Nun meldeten die Nachrichtenagenturen: „Der Potsdamer Platz in Berlin hat den ‚Sämann‘ – ein Hauptwerk des belgischen Bildhauers Constantin Meunier (1831-1905) – zurück erhalten. Die bedeutende Bronzeplastik der europäischen Moderne – der „Sämann“ von 1896 – steht nun mittten auf dem Platz. Die Kulturstiftung der Länder und die Hermann Reemtsma Stiftung unterstützten die Rückerwerbung. Details zum Kunstwerk sollen am 19. Oktober 2010 (um 12.00 Uhr) auf einer Pressekonferenz genannt werden.“
Gleichzeitig verschwand jetzt die „leuchtend blaue Edelstahl-Skulptur“ namens „Balloon Flower“ von Jeff Koons, die vor der Spielbank am Potsdamer Platz stand: Sie gehört der Daimler AG, die sie im November in New York versteigern will.
Zurück zur SZ-Beilage „Widerstand gegen Großprojekte“. Die Korrespondentenberichte laufen alle ein bißchen auf Völkerpsychologie hinaus:
Über die Österreicher heißt es da: Sie protestieren nicht groß gegen solche Projekte – „umso faszinierter blicken sie nach Stuttgart…Es gebe hier gar nicht die kritische bürgerliche Schicht für qualifizierten Protest wie in Stuttgart, wird einem diskret bedeutet.“ Der Korrespondent hat anscheinend nur unter Oberkellnern recherchiert – und zwar „Meinungen“
In der Schweiz wird über alle Großprojekte abgestimmt. Die Verlierer fügen sich dann mehr oder weniger zähneknirschend darein.
Die Franzosen protestieren zwar gerne und oft, wenn dann ein Großprojekt aber dennoch realisiert – und auch gut angenommen – wird, „belächeln viele den Protest von damals“.
Die Schweden protestieren höchstens auf den dafür vorgesehenen Instanzenwegen, im übrigen „vertrauen sie ihren Behörden“, die ihre Projekte mit Bürgerbeteiligung (Brukarplaning) durchbringen. Und die Behörden verweisen in diesem Zusammenhang gerne auf ihre Statistiken zur „Kundenzufriedenheit“. Da liegt jedesmal die Polizei an erster Stelle, und das Straßenbauamt auch weit vorne.
In Italien: Mafia, Großprojekte, Bauverzögerung, Dauerbaustellen – „Kosten für das Land in den kommenden 15 Jahren: 383,5 Milliarden Euro“. Und nicht etwa nur, wir wir wahrscheinlich alle gedacht haben, 383 Milliarden.
In Spanien haben „vor allem die Schlachten rund um das in Spanien immer knappere Gut Wasser die Massen mobilisiert, sagt Ladislao Martínez vom Vorstand von Attac Spanien. Zum Beispiel wenn es darum ging, Stauprojekte abzuwenden, die gleich mehrere Naturschutzgebiete bedrohten, zum Beispiel im nordspanischen Itoiz. Die größten Demonstrationen rief freilich der Kampf um den Ebro-Fluss hervor, der ganze Regionen gegeneinander aufbrachte und gleichsam ein Vorbote der Folgen des Klimawandels war. Die konservative Volkspartei PP hatte zu ihrer Regierungszeit (1996-2004) den Ebro um Hunderte Kilometer umbetten wollen, um das Wasser aus dem Nordosten in den versteppenden Süden umzuleiten. Zehntausende gingen bei Demonstrationen dafür und dagegen auf die Straßen, der irrwitzig anmutende Plan wurde nach dem Regierungswechsel 2004 fallen gelassen.“
In den USA bildet sich bei Großprojekten stets eine Bürgerinitiative dagegen, die sehr phantasievoll kämpft. Dann aber läßt sich ihr Sprecher von den Investoren rauskaufen – und dem Projekt stehen nur noch verschiedene Umweltschutzauflagen entgegen.
In Brasilien geht es um Wasserkraftwerke im Amazonasgebiet, als die Regierung die Verträge mit den Baufirmen unterschrieb, formierte sich der Widerstand, zu dem u.a. der betroffene „kämpferische Stamm Kayapo“ gehört. „Man habe ein Gefühl der Revolte bei all der Ungerechtigkeit, klagte Aktivistin Sheyla Juruna. Unsere Gegenwehr muss neue Formen annehmen. Wir sind bereit für den Krieg, wenn die Regierung nicht hören will.“
Ähnlich radikale Töne hört man auch aus anderen lateinamerikanischen Staaten. Der SZ-Korrespondent erwähnt den Widerstand der Bürger von Cochabamba in Bolivien gegen die Privatisierung ihrer Wasserwerke: „Es war dort der Beginn des politischen Umschwungs, der Evo Morales an die Macht brachte.“ Und in Mexiko-Stadt sorgte der Widerstand gegen einen geplanten Großflughafen am Rande der Stadt dafür, „dass die Pläne nach Straßenschlachten wieder in der Schublade verschwanden“.
Im protest- und streikfreudigen Südkorea sorgt das Großprojekt der Regierung „Vier Flüsse-Projekt“ für Aufregung. Aus seiner Verhinderung wollen die Umweltschützer nun eine „Volksbewegung“ machen. Der SZ-Korrespondent sieht mit ihnen einen Zusammenhang zwischen der bereits jetzt spürbaren Wasserknappheit in einigen Regionen und der Verknappung des Kohlangebots auf den Märkten. Letzteres führte bereits dazu, dass der Kohl in Korea teurer als Schweinefleisch geworden ist. Dieses Kreuzblütengewächs ist scharf gewürzt und milchsäurevergoren die Nationalspeise der Koreaner: Kimchi. Sauerkraut mit Chilli quasi. „Ohne Kimchi können sie nicht leben, für Kimchi würden sie auf die Straße gehen,“ meint der SZ-Korrespondent.
Kleine Begriffsklärung – ausgehend von einer Konferenz über den „Projektemacher“ im Stuttgarter „Schloß Solitude“, die von Markus Krajewski organisiert wurde, der zuvor zwei Bücher zum Thema veröffentlicht hatte – „Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900“ und „Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns“:
Die Projektemacher hatten schon immer einen Hang zu Großprojekten – weil sie sich zu ihrer Finanzierung stets an die Großen wendeten. Die Projektemacher entstanden in der Renaissance – indem das Handwerk sich aufspaltete: ein Großteil sank zu Lohnabhängigen ab, einige wenige schafften den Aufstieg als Künstler und Wissenschaftler (Mathematiker) – und machten sich mit ihrem Können selbständig, d.h. sie verkauften ihre Projekte fürderhin – die Künstler an die Fürsten, die Wissenschaftler an die (Festungsbau-) Arbeiter.
Als Wort taucht das Projekt erst bei Shakespeare auf: die Ermordung Hamlets wird von ihm – wahrscheinlich bereits ironisch – als ein “Projekt” bezeichnet. Berühmte “Projektemacher” des 17.Jhds. waren Gottfried Wilhelm Leibniz und Johann Joachim Becher. Sie führten schon eine “nomadische Existenz”. Praxis und Theorie von Projekten loteten zuerst Gottlieb von Justi und dann Daniel Defoe aus. Letzterer landete mehrmals im Gefängnis und schrieb 1697 einen “Essay upon Projects”. Der Wiener Kunstprofessor Reder, der auch in Stuttgart dabei war, hat ihn gerade neu herausgegeben, dazu noch ein dickes “Lesebuch über Projekte und Projektemacher” – mit Beiträgen von Alexander Kluge, Peter Sellars, Christoph Schlingensief u.a..
Im 18.Jhd. wird die Sicht auf die Projektemacher immer kritischer: Sie versprechen den Fürsten das Blaue vom Himmel, um an Geld ran zu kommen. Noch die heutigen Begutachter von “Projektanträgen” können davon ein Lied singen. Auf dem Symposium wurde jedoch auch über einen Projektemacher referiert, der umgekehrt sein ganzes Geld für den Ruhm ausgab: der Schöpfer der Welteislehre Hanns Hörbiger. Ende des 19. Jahrhunderte wimmelte es von solchen Welterklärungs-Projekten – in denen es stets um die “Restlosigkeit” ging. Während es in Goethes “Faust II” das Volk war, das sich über das “Papiergeld-Projekt” von Faust lustig machte, ist es bei den Welterklärern die Wissenschaft, die sie verlächerlicht. Der Veranstalter Markus Krajewski veröffentlichte gerade ein Buch über “Weltprojekte um 1900″ (Esperanto, Weltzeit, Weltstandard usw.), davor einen Sammelband über “Projektemacher”. Darin findet sich u.a. ein Aufsatz des Luhmann-Assistenten Georg Stanitzek, der bereits 1987 das Comeback des opportunistischen Projektemachers ahnte – als “Ich-AGs”, wie sie seit 2005/Hartz IV heißen. Hintergrund dafür war und ist die “Freisetzung” von Zigmillionen Werktätigen durch die Dritte Industrielle Revolution.
1994 legte der Politologe Wilhelm Hennis eine Neuinterpretation von Goyas “Traum der Vernunft (Capricho 43) vor: “es sind die Träume der Projekte schmiedenden Vernunft, die Ungeheuer produzieren”. Nicht geheuer schienen mir auch die auf Schloß Solitude vorgestellten zwei aktuellen Kunstprojekte: Einmal neuartige Labors für die Arktis und Antarktis, um Innuit, Wissenschaftler und Künstler aus den beiden Polregionen “kommunikativ” zusammen zu bringen. Zum anderen Interviews mit Leuten aus Kambodscha, Angola, Bosnien etc.., die von einer Mine zerfetzt wurden.
Praktisch begann der allgemeine Projektschwurbel 1974 noch relativ harmlos: z.B. mit dem “Projektstudium” (an der Uni Bremen), inzwischen gibt es jedoch schon im Kindergarten “Projektwochen” und Autoren sprechen selbst bei der Lektüre eines albernen Bestsellers von ihrem “Rezensionsprojekt”, ja sogar die Ehe und Familie ist inzwischen ein Projekt. Hintergrund dafür ist eine neue Freiheit: der Sohn eines Stahlarbeiters, der Stahlarbeiter wird, würde dabei noch nicht von einem “Projekt” gesprochen haben. Wir leben dagegen bereits “in nach-gesellschaftlichen Projektwelten” – ob uns das gefällt oder nicht.
Selbst auf Dauer angelegte Unternehmen wandeln sich zunehmend in temporäre Projekte, und seien es “Langzeitprojekte” – beide sind jedoch noch auf “Entsorgung” (von was auch immer) aus. Der aristotelische Gegenbegriff dazu wäre die Sorge. Immerhin dominieren uns heute statt Großprojekte eher Mikro- bzw. Nanoprojekte – und während die Planung noch deduktiv war, gehen Projekte induktiv vor, das ist schon mal ein demokratischer Fortschritt. Leider traktiert uns der parasitär gewordene Nationalstaat heute ebenfalls laufend mit neuen “Projekten”. Den linken Projektemachern rät Slawoj Zizek deswegen: Erst mal “‘nichts zu tun’ – und auf diese Weise den Raum für eine andere Form von Aktivität zu eröffnen.”
Alle Pilonen-Photos: Peter Grosse