vondorothea hahn 27.03.2010

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Geschätzte Gemeinde,

nein! Ich bin nicht verstummt. Mich hat bloß die Nachrichtenlawine eingeholt, die in dieser Stadt täglich über Leute meines Berufsstandes rollt.

Die Themen, die auf meinem Computer ankommen, reichen von dem außerehelichen Sexualleben us-amerikanischer PolitikerInnen, über die Zwischenrufe in der Debatte über die Gesundheitsreform, über die Abschiebungen von MexikanerInnen, bis hin zu den israelischen Siedlungsbauten in Ost-Jerusalem und den Abrüstungsverhandlungen mit Moskau.

Alles scheint gleich nah zu sein. Alles gleich wichtig. Mit dem Sichten und Gewichten, dem Lesen und/oder Löschen der E-Mails bin ich mehrere Stunden täglich beschäftigt. Aber dann habe ich noch lange keine Antworten geschrieben. Und schon gar keine Artikel.

Sowohl die Themenpalette als auch die schiere Menge an E-Mails, die ich in Washington erhalte, übertrifft alles, was ich je erlebt habe. Natürlich laufen sie rund um die Uhr ein. Ein E-Mail kennt keine Pause. Kaum habe ich den Schreibtisch verlassen, um einen Kaffee zu trinken, ist die Eingangsbox schon wieder voll gelaufen. Wenn ich länger abwesend bin – ein Interview zum Beispiel, oder eine Reportage – straft mich die Box bei der Rückkehr an den Computer mit hunderten ungelesener Nachrichten.

Dabei musste ich schon in Paris rudern, um trotz der zuletzt rund 100 täglichen E-Mails von Regierungsstellen, Parteien, NGOs und Unternehmen an der Oberfläche zu bleiben. Und schon in Paris habe ich mich gelegentlich nach der Zeit zurück gesehnt, als es nur Briefe und Faxe gab. Und als die AbsenderInnen noch jede neue Mitteilung drucken und eintüten und als sie noch Porto oder Telefongebühren bezahlen mussten. Jener Aufwand sorgte für eine strenge Auswahl an der Quelle. Seit die Pressestellen ihre Mitteilungen über vollautomatische Verteiler verschicken, muss unsereins diese Auswahl-Arbeit erledigen.

An normalen Tagen in Washington erhalte ich jetzt an die 200 E-Mails. Und das ist erst der Anfang. Denn ich habe mich noch lange nicht bei allen offiziellen und inoffiziellen Institutionen und bei allen Think-Tanks akkreditiert. Nach jedem neuen Termin, bei dem ich meine Visitenkarte weggebe, gerate ich in weitere Verteiler, erhalte zusätzliche E-Mails.

Selbstverständlich beklage ich mich nicht darüber, Informationen zu erhalten. Schließlich sind Informationen das tägliche Brot einer Journalistin. Doch ich bin mir nicht sicher, ob die Nachrichtenlawine uns tatsächlich zu besseren JournalistInnen macht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie uns von den wesentlichen Dingen fernhält.

Das echte Leben findet nicht im Computer statt. Nicht in E-Mails und Presseverteilern.

A propos: in Washington hat die Kirschblüte begonnen. Ganz urplötzlich ist hier der Frühling ausgebrochen. Meine Straße, die noch kürzlich unter hohem Schnee lag, sieht heute Morgen so aus:

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