In seiner jüngsten Pressemitteilung vom 7.11.2023 hob der Internationale Währungsfond (IWF) seine düstere Prognose für Chinas Wachstum im nächsten Jahr leicht von 4,2 % auf 4,6 % an, warnte aber vor der anhaltenden „Schwäche im Immobiliensektor“. Laut Bloomberg news hat sich der Preis für neu verkaufte Häuser in 300 Städten des chinesischen Festlands zwischen 2013 und 2022 verdreifacht. Der lange Boom auf dem Immobilienmarkt hat schließlich zu einer großen Blase geführt, die im Jahr 2021 zu platzen begann.
Seitdem sind die Preise drastisch gefallen, und die Bauträger haben große Schwierigkeiten, ihre Kredite zurückzuzahlen. Der größte Bauträger Evergrande stand bereits Ende Oktober in Hongkong wieder vor Gericht, nachdem seine Gläubiger einen Antrag auf Liquidation gestellt hatten, weil das Unternehmen seine Kredite nicht zurückzahlen konnte. Der Immobilienriese begann seinen langsamen Zusammenbruch im Jahr 2021, als er seine Verbindlichkeiten in Höhe von 2,43 Billionen RMB (340 Mrd. USD) nicht begleichen konnte. Es folgte ein weiterer Immobilien Riese, Country Garden, der ebenfalls Schwierigkeiten hat, seine Schulden zu begleichen und neue Kredite zu erhalten, um seine Projekte fertigzustellen, für die viele Haushalte bereits Anzahlungen und Hypothekenzahlungen geleistet haben. Nach Angaben des Nachrichtenmagzin Economist vom 12.10.2023 schulden börsennotierte Bauträger der Bevölkerung inzwischen 960 Mrd. USD an nicht gebauten Häusern, was etwa 40 % aller gekauften, aber noch nicht fertig gestellten Häuser entspricht. Seit 2021 haben viele Bauträger nicht mehr das Geld, um ihre Bauprojekte weiterzuführen, da ihre Verkäufe stark zurückgegangen sind. Nach Angaben der Hongkonger Tageszeitung South China Morning Post vom 4.1.2023 verzeichneten die 100 größten Bauträger in Festlandchina im Jahr 2022 einen Umsatzrückgang von 41,3% (landesweit waren es 26%). Im Juli 2023 sanken sie weiter um 33,1% im Vergleich zum Vorjahr.
Wenn eines von vier Beinen des Tisches bricht
Im Mai 2023 gab Bloomberg uns einen Einblick in die potenziellen Auswirkungen der Krise, als es berichtete, dass „eine Analyse von Chinas 186 börsennotierten Bauträgern zeigt, dass etwa 48 % der gesamten Kreditaufnahme von Unternehmen gehalten wird, die entweder bereits mit öffentlichen Anleihen in Verzug geraten sind, (… ) oder bei denen ein ‚erhebliches‘ Risiko einer ausbleibenden Rückzahlung besteht.“ Dies sind 13,6 Billionen Yuan an insgesamt ausfallgefährdeten Schulden und entspricht 12 % des chinesischen Brutto Inlandsprodukt (BIP).
Der Einsatz ist sehr hoch. Einem Bericht von Project Syndicate am 5.10.2023 zufolge ist „der Wert von Chinas Immobilienmarkt das Vierfache des BIP des Landes, verglichen mit 1,6 in den USA und 2,1 in Japan. Er macht mehr als ein Viertel der gesamten Wirtschaftstätigkeit und zwei Drittel des Vermögens der Haushalte aus“. Es wäre katastrophal, wenn die Krise nicht rechtzeitig eingedämmt würde, nicht nur für China, sondern auch für die Weltwirtschaft. Es stimmt, dass die Regierung darauf geachtet hat, keine ausländischen Kredite in großem Umfang aufzunehmen, und die offiziellen Statistiken weisen eine geringe Auslandsverschuldung aus. Das Problem ist jedoch, dass es eine Menge versteckter Auslandsschulden gibt – sowohl lokale Regierungen als auch Unternehmen haben sich bei ausländischen Banken oder durch die Ausgabe von Anleihen viel Geld geliehen. Die Financial Times berichtet uns, dass Evergrande allein schätzungsweise 19 Milliarden Dollar an Auslandsschulden hat. Niemand kennt die tatsächliche Zahl der chinesischen Auslandsschulden, aber der Ausfall von Evergrande reicht aus, um das ohnehin schon schwache Vertrauen ausländischer Investoren in den chinesischen Markt zu erschüttern.
Für den Preis- und Umsatzrückgang gibt es mehrere Faktoren, aber die grundlegende treibende Kraft ist das Überangebot und die übermäßige Ausweitung des Marktes. Die Leerstandsquote bei Wohnungen liegt bei 25 %. Seit 2009 wurden so viele neue Wohnungen gebaut, dass sie ausreichen, um 250 Millionen Einwohner zu beherbergen, und das in einem Land, in dem 600 Millionen Menschen von einem Monatseinkommen von 1000 RMB (140 US-Dollar) leben. Kein Wunder, so stellte der Economist am 12.9.2023 fest, dass „70 % der seit 2018 verkauften Wohnungen von Menschen gekauft wurden, die bereits eine Wohnung besaßen“. Sicherlich hatte Xi Jinping Recht, als er sagte: „Häuser sind zum Wohnen da, nicht zur Spekulation“. Er hat wieder einmal bewiesen, dass er gut darin ist, Slogans zu verbreiten, und zwar ausschließlich Slogans.
Wer sind die Schuldigen?
Wer ist für die Immobilienkrise verantwortlich? Michael Robert, ein linker Wirtschaftswissenschaftler, widerlegte die Darstellung des westlichen Mainstreams (z. B. der Financial Times), der die Regierung für ihre schwerfälligen oder unangemessenen Vorschriften und für ihr Versagen, das bereits zu niedrige Konsumniveau anzuheben, verantwortlich macht. In seinem Artikel vom 2.8.2023 argumentierte er, dass der kapitalistische Markt und der Privatsektor schuld seien und dass mehr chinesisches Staatseigentum und staatliche Eingriffe ein Mittel gegen das Marktchaos seien.
Ich habe kein Verständnis für die Rezepte der Financial Times, aber ich denke, dass Roberts These gelinde gesagt falsch ist. Die Tatsache, dass es im Allgemeinen kapitalistische Kräfte sind, die diese Krise verursacht haben, sollte uns nicht über die andere Seite der Medaille hinwegtäuschen – es war immer der Staat, der auf mehr Kapitalismus mit chinesischen Merkmalen gedrängt hat – ein staatlich gelenkter Klientel-Kapitalismus. Der oberste Räuber dieses Schneeballsystems ist niemand anderes als die Zentralregierung, gefolgt von den Absprachen zwischen den lokalen Regierungen und den Bauträgern (bekannt als die „weißen Handschuhe“ der lokalen Beamten). Die drei bildeten eine unheilige Schneeball-Schema-Allianz, die schließlich zum Niedergang des Immobilienmarktes geführt hat.
Die Zentralregierung legte den Grundstein für das „Schneeball“-Eigentumssystem mit dem Beginn der Zeit von „Reform und Öffnung“. In der Verfassung von 1982 wurde festgelegt, dass städtischer Grund und Boden dem Staat gehört und sein Verkauf ausdrücklich verboten ist. Diese Bestimmung wurde bald darauf, 1988, geändert, um den Verkauf von Landnutzungsrechten für einen bestimmten Zeitraum (50-70 Jahre) zuzulassen, wobei man sich offen an der Praxis der Landausschreibung im kolonialen Hongkong orientierte, während die Partei dazu aufrief, „von Hongkong zu lernen“ (um reich zu werden). Stadtverwaltungen und sogar Kleinstädte haben bald massiv Land abgrenzt (quandi 圈地) für Entwicklungsgebiete (kaifaqu 開發區), von Themenparks bis hin zu Immobilien, von denen viele schließlich pleitegingen. Dies erstreckte sich auch auf ländliche Flächen – mit einem Federstrich konnten die örtlichen Beamten jederzeit „landwirtschaftliche Flächen“ in „nicht-landwirtschaftliches Land“ ändern. Daraufhin verschärfte die Zentralregierung die Kontrolle wieder – für eine Weile. An ihrer grundsätzlichen Politik, die Kommerzialisierung und Spekulation mit staatlichem Grund und Boden zuzulassen, hat sich nie etwas geändert, was den Weg für weitere Einfriedungen und Baubooms in späteren Perioden ebnete. Die Steuerreform von 1994 gab den lokalen Regierungen eine zweite Gelegenheit, eine weitere Runde des Immobilienbooms zu fördern. Es folgte die globale Finanzkrise 2008-9, die die Voraussetzungen für eine dritte Welle des Baubooms schuf, als die Zentralregierung den Kommunen 30 % der Mittel für den Bau von Infrastrukturen zur Verfügung stellte, um die Inlandsnachfrage anzukurbeln und die Wirtschaft zu retten. Die Kommunen brachten den Rest des Geldes mit ihren kommunalen Finanzierungsinstrumenten (Local Government Financial Vehicles) auf, indem sie Kredite bei den Banken aufnahmen oder Anleihen ausgaben, um diese Projekte zu finanzieren. Diese riesigen Infrastrukturinvestitionen waren in der Regel mit Entwicklungsplänen für Wohngebiete oder Industrie- und Gewerbegebiete usw. verbunden. Bis dahin hatten sich die Kommunalverwaltungen zunehmend von Grundstücksverkäufen und dem Immobilienmarkt abhängig gemacht, die schließlich ein Drittel ihrer Einnahmen ausmachten. Die vierte Welle wurde wieder von der Zentralregierung ausgelöst, als sie 2013 ihre Politik des „neuen Urbanisierungsmodells“ einführte und die Immobilienpreise weiter in die Höhe trieb, ohne Rücksicht auf die sich bereits bildende Blase. Einige von ihnen wurden schließlich zu „Geisterstädten“ oder lanweilou (爛尾樓, unfertige Gebäude).
Die andere Seite der Geschichte war, dass viele Menschen inmitten der massiven Landnahme im ganzen Land, sowohl auf dem Land als auch in den Städten, ihre Häuser verloren. Es gab auch starken Widerstand, der berühmteste davon war der von 2011 – 2016 anhaltende Widerstand von Bewohner des südchinesischen Dorfes Wukang in der Provinz Guangdong gegen die Landnahme (1).
Festland und Hongkong – ein Vergleich
Dies führt uns zu der Frage nach der Korruption mit chinesischen Merkmalen. Warum waren Geisterstädte möglich – haben die Stadtverwaltungen und die Bauträger die Machbarkeit der Projekte nicht geprüft, bevor sie sie in Angriff nahmen? Warum durften Bauträger Häuser verkaufen, die noch nicht gebaut worden waren, als China noch weit davon entfernt war, ein reiches Land zu sein, und als selbst Xi Jinping das Ausmaß der chinesischen Korruption erkannte? Wenn die Regierung schon so ein Kontrollfreak in Bezug auf die Bevölkerung ist, warum konnte sie dann nicht eine ebenso wirksame Kontrolle über die Bauträger und die verrückten Finanzierungspläne des Immobilienmarktes durchsetzen? Vor allem, wenn städtisches Land in Staatsbesitz ist, was bedeutet, dass die Regierung immer einseitig die Bedingungen festlegen kann. Im kolonialen Hongkong befand sich alles unbebaute Land ebenfalls in staatlichem Besitz, das so genannte „Land der Krone“. Die Kolonialregierung ließ zwar zu, dass sich die Bauträger ungerechtfertigterweise immens bereicherten, aber seit den 1970er Jahren konnte sie auch der Hälfte der Bevölkerung erschwingliche Sozialwohnungen zur Verfügung stellen. Im Gegensatz dazu war die Mega-Immobilienblase auf dem Festland erst möglich, nachdem die Partei endlich offiziell die praktische Verteilung von Häusern an Arbeiter in staatlichen oder kollektiven Unternehmen, von denen die meisten kleinen und mittleren Unternehmen privatisiert wurden, in den späten 1990er Jahren aufgab. Rückblickend auf die gesamte Periode der „Reform und Öffnung“ wird deutlich, dass die KPCh von Anfang an auf die reichen lokalen Beamten, Bauträger und die obere Mittelschicht ausgerichtet war, auf Kosten der unteren Mittelschicht und der Armen.
Natürlich gibt es alle möglichen Wohnungsbauprojekte, um den Armen zu helfen, aber die Art und Weise, wie sie umgesetzt werden, ist das größte Problem und auch ein gut gehütetes Geheimnis, ganz zu schweigen davon, dass ihr Umfang gering ist. In einem Staat, in dem die Amtsträger völlig frei von jeglicher Kontrolle durch die Bevölkerung sind, können sie die Politik stattdessen immer zu ihrer eigenen Bereicherung nutzen. So ist es kein Wunder, dass Berichte über den öffentlichen Wohnungsbau oder barrierefreie Wohnungen für die Armen oft in den Händen der örtlichen Beamten landen. Der Nationale Rechnungshof stellte fest, dass 30 % der 290.000 öffentlichen Mietwohnungen „gegen die Regeln verstoßen“ und „missbraucht“ werden (2). In der „alten“ Zeit, als Hongkong noch Autonomie genoss, berichteten ihre Medien oft darüber, dass allein ein stellvertretender Parteisekretär einer Stadtgemeinde 192 Wohneinheiten besaß – es ist nicht klar, wie viele davon öffentliche oder private Häuser waren, aber die Zahl ist erschreckend.
Der Staat als Teil des Problems
Den Bürokraten ist es völlig egal, ob die neu gebauten Städte am Ende nicht fertiggestellt werden – die Kommunalverwaltungen haben ihre Einnahmen aus dem Grundstücksverkauf, korrupte Beamte ihre Provision oder einen Teil der Beute, die Bauträger ihre Einnahmen aus dem Verkauf der Wohnungen und mit Hilfe der lokalen Beamten auch ihre Kredite von den staatlichen Banken.
Dies führt uns zu einer weiteren Facette der Bürokratie, ihrer Dysfunktion, die durch den ständigen Konflikt zwischen den offiziellen Regeln und der schrecklichen Korruption innerhalb der Hierarchie der Bürokratie verursacht wird. Der Fall der illegalen Villa in Qinling gibt uns einen Einblick in das Tauziehen zwischen den lokalen Bürokraten und der Zentralregierung sowie mit Xi Jinping. Erstere brachen das Gesetz, um ihre Villen in einem Naturschutzgebiet zu bauen. Als dies Xi gemeldet wurde, ordnete er 2014 ihren Abriss an. Doch die lokalen Beamten wehrten sich vier Jahre lang hartnäckig mit Lügen und Tricks, bevor sie schließlich unter großem Druck ihre Arbeit erledigten. Was in diesem Bericht nicht erwähnt wird, ist, dass Xi sechs Anweisungen erteilen musste, bevor dies geschah. (3)
Neben der vollständigen Degeneration der Parteibürokraten zu einer bürgerlichen Bürokratie kommt noch der Faktor einer besonderen politischen Kultur – oder das Fehlen einer solchen – in der Partei hinzu. Die Praxis, daß die diyibashou – die oberen Parteivorsitzenden oder die Chefs ihrer jeweiligen Abteilungen (第一把手) – die unverantwortliche Entscheidungen über die „wirtschaftliche Entwicklung“ treffen, oft gegen den Rat von Fachleuten oder abweichenden Parteiführern, ist der KPCh seit 1949 angeboren. Das schrecklichste Beispiel ist der Große Sprung nach vorn. Wenn diese beiden Faktoren zusammentreffen, wird das Ausmaß der Korruption unvorstellbar. Das toxische Umfeld innerhalb des Parteistaates veranlasst korrupte Beamte auch dazu, so schnell wie möglich das große Geld zu machen, bevor die Parteiführung den Kurs plötzlich wieder ändert und das Fenster für Bestechung schließt – was sich in dem Spruch „Die kommunistische Partei ist wie der Mond, dessen Form sich ständig ändert“ widerspiegelt. Im Grunde genommen liegt die Schuld an dieser menschengemachten Krise bei nichts andere als dem Parteistaat.
Wenn also Roberts im Parteistaat ein Heilmittel sieht, vergisst er, dass dieser niemals neutral ist, sondern dass die Bürokraten den Staat längst für ihre eigenen materiellen Interessen vereinnahmt haben und bewusst mehr durch immer größere Maßnahmen von Privatisierung und Kommerzialisierung der Landnutzung anstreben. Der Parteistaat ist weit davon entfernt, Teil der Lösung zu sein, er ist vielmehr ein großer Teil des Problems. Ein anderer chinesischer Spruch (sehr populär während Maos Herrschaft) vermittelt uns ein genaueres Bild der Parteibürokraten als Roberts‘ Narrativ: Ein Mönch mit verzogenem Mund rezitiert verdrehte Sutren (waizui heshang nian waijing 歪嘴和尚念歪經). Der Buddhismus mag die Wahrheit darstellen, aber man kann sich nicht darauf verlassen, wenn ein Mönch mit verzogenen Mund verdrehte Schriften rezitiert. Staatliche Eingriffe können nützlich sein, aber man kann sich nicht darauf verlassen, dass eine korrupte Partei sie in eine gute Politik umsetzt. Vielleicht bekommt man dann das Gegenteil von dem, was man sich wünscht.
Anmerkungen:
1) Siehe Bericht in Wikipedia auf Englisch und eine 6-teilige Dokumentation (2011 – 2016) auf Al Jazeera Wukang: China’s Democracy Experiment
2) 30 Prozent des preisgünstigen Wohnraums wurden missbraucht, Mingpao Daily, 8. August 2011.
3) Xi Jinping hielt eine Rede, in der er lokale Beamte zum Abriss der Qinling-Villa drängte, Mingpao Daily, 6. August 2018.
Übersetzung von F. Hofmann, Forum Arbeitswelten