vonchina-watch 26.10.2021

china watch

Was passiert hinter der Orwellschen Großen Mauer? Beobachtungen und Kommentare von Au Loong-Yu zu China und Hongkong.

Mehr über diesen Blog

Wenn ein Hongkong des „freien Marktes“ es noch immer wert ist, von den dortigen Werktätigen verteidigt zu werden, dann deshalb, weil die Stadt auch eine lebendige Vielfalt lokaler sozialer Bewegungen beheimatete, auch wenn diese noch in den Kinderschuhen stecken, noch keine fünfzig Jahre,. Davor wurden die meisten sozialen Bewegungen entweder von der KPCh (Kommunistische Partei China) oder der KMT (Kuomintang) angeführt. In nur einem Jahr wurde dieser öffentliche Raum von Peking zerstört. Nachdem eine Vielzahl großer Gewerkschaften nach ihrer Selbstauflösung am 7. Oktober zerfiel, folgte die Auflösung der Studentenvereinigung der Chinese University of Hong Kong  (CUHK), eine sehr wichtige, wenn nicht die wichtigste Basis der dortigen Studentenbewegung. In weniger als einer Woche danach kündigte eine andere ihr angeschlossenen Studentenvereinigung ebenfalls ihre Auflösung an. Streng genommen machte lediglich die Universitätsverwaltung der Studentenvereinigung das Leben schwer (indem sie eine Trennung von der Universität erzwingt), während die Regierung bisher noch nicht gegen sie vorgegangen war. Man sieht, es gab also keinen Grund, warum sie sich so schnell auflösen sollte.

Im Gegensatz zu früheren Fällen der Auflösung von Bürgerorganisationen wurde die der Studentenvereinigung diesmal nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Studentenschaft kritisiert. Die deutlichste Kritik kam von dem CUHK Professor Dr. Chow Po Chung, einem bekannten liberalen Wissenschaftler, der während seines Studiums selbst in der Studentenvereinigung aktiv war. Am selben Tag, an dem die CUHK-Studentenvereinigung ihre Auflösung bekannt gab, stellte er auf Facebook in Frage, ob die Führung laut Satzung überhaupt befugt sei, ihre Auflösung zu verkünden, und ob für die Auflösung nicht zumindest eine umfassende Konsultation der Mitglieder und ein anschließendes Referendum erforderlich seien. Seine Bemerkung wurde von einigen angefeindet, die ihn daran erinnerten, dass er nicht in der Position sei, solche Kritik zu üben, da er nicht angegriffen wurde. Dr. Chow reagierte mit großem Anstand, indem er sagte, dass er sich in seinem Beitrag vielleicht nicht klar genug ausgedrückt habe und dass er nur wiederholen wollte, dass die Entscheidung der Leitung der Studentenvereinigung keine rechtlichen Auswirkungen auf diejenigen Studenten habe, die die Studentenvereinigung in Zukunft wiederbeleben wollten. Mit anderen Worten, seine Botschaft war eher ein Ratschlag für diejenigen, die die Organisation weiterführen wollen. Es war das erste Mal seit der Welle der Selbstauflösungen von Bürgerorganisationen in Hongkong, dass es eine lange Debatte gab – im Gegensatz dazu gab es bei der Selbstauflösung der Lehrergewerkschaft buchstäblich keine Transparenz, geschweige denn eine öffentliche Debatte. Insgesamt wird die Auflösung der CUHK-Studentenvereinigung jedoch ohne Zweifel die Demoralisierung weiter verstärken.

Die Schlacht an der CUHK im Nov. 2019 als Studierende den Campus besetzten aus Protest gegen Pekings Einschränkung der Autonomie Hongkongs Foto: Bess Chow

Man muss bedenken, dass es bei der großen Säuberung nicht nur um Hongkong geht. Die Verflechtung der Zivilgesellschaft von Hongkong und dem Festland führt dazu, dass das, was in Hongkong geschieht, auch auf dem Festland tiefe Auswirkungen hat.

Es gibt einen Sektor von zivilen Organisationen, die sich in den letzten zwei Jahren aufgelöst oder selbst ihre Aktivitäten eingestellt haben, was aber kaum wahrgenommen wurde. Es handelt sich dabei um jene Organisationen in Hongkong, die die Zivilgesellschaft im Festland China unterstützt haben, sei es durch die Unterstützung von verfolgten Anwälte oder von Gewerkschaftsaktivisten. Diese Organisationen gehören zu den ersten Opfern der Großen Säuberung, über die jedoch kaum berichtet wird. Diese Gruppen in Hongkong haben seit dreißig Jahren entscheidend dazu beigetragen, die Praktiken der zivilen Selbstorganisation aufs Festland zu bringen – Selbsthilfegruppen und -netzwerke, Nichtregierungsorganisationen usw., die ein breites Spektrum von Bereichen wie Umwelt, Arbeit, Genderfragen, Gemeinwesenarbeit usw. abdecken. Der Tod von Hongkong bringt nun auch den Untergang der neu entstandenen chinesischen Zivilgesellschaft mit sich. Man kann sich fragen, ob es genau das ist, was Peking von vornherein beabsichtigt hatte?

Zweifellos ist das harte Durchgreifen Pekings sehr ernst, und der Preis, der für jeglichen Widerstand zu zahlen ist, ist sehr hoch, obwohl man auch ein Gefühl für Verhältnismäßigkeit haben muss – es ist noch weit entfernt von der Art der Unterdrückung, die die burmesische Militärjunta an den Tag gelegt hat. Sicherlich kann niemand einen anderen Menschen dazu zwingen, gegen seinen Willen zum Märtyrer zu werden. Eine bessere Antwort wäre eine Strategie des „Gehens auf zwei Beinen“, d.h. Verständnis für diejenigen, die Risiken vermeiden wollen, aber gleichzeitig denjenigen, die mit gewaltfreien Mitteln Widerstand leisten wollen, die Zeit und den Raum zu geben, das zu tun, was sie tun wollen. Vor allem dann, wenn letztere Anspruch auf solche Rechte haben, wie sie in den Satzungen ihrer jeweiligen Organisationen festgelegt sind. Zu oft haben diejenigen, die an der Spitze der Organisationen standen und risikofrei sein wollten, ihre eigenen Satzungen nicht respektiert oder sie durch Manipulation umgangen.

Während wir mit den Studenten, die die Auflösung ihrer Organisationen ohne ordnungsgemäßes Verfahren ankündigten, nicht zu hart ins Gericht gehen sollten, sollten wir das Verhalten der erfahrenen Führer der Demokratischen Partei, die Ähnliches taten, infrage stellen. Diese Partei stand praktisch an der Spitze der Lehrergewerkschaft und der Hongkonger Allianz zur Unterstützung der patriotischen demokratischen Bewegungen Chinas, also der wichtigsten Oppositionspartei hier. In den letzten zehn Jahren gab es viele Gerüchte darüber, dass dieser oder jener Führer von Peking vereinnahmt worden sei. Es gibt auch Hinweise, dass in der Führungsriege der Demokraten seltsame Dinge vor sich gehen. Es gibt jedoch keine eindeutigen Beweise. Aber wir müssen nicht viel Zeit darauf verwenden, solche zu finden. Wir müssen lediglich einen kurzen Überblick über die politische Strategie der Demokratischen Partei vornehmen. Es ist ihr hoch anzurechnen, dass sie die Revolte von 2019 nicht verurteilt hat, wie von Peking gefordert, sondern sich bis zu einem gewissen Grad auf die Seite der rebellischen Jugend geschlagen hat. Einige ihrer Führer sitzen deshalb jetzt im Gefängnis. Politisch gesehen hat die von ihr seit den 1980er Jahren verfolgte Linie jedoch schon lange die Saat für das heutige rasche Zerbröckeln der sozialen Bewegung in Hongkong gelegt. Dies lässt sich mit zwei kantonesischen Begriffen zusammenfassen: Jaugaiking (有偈傾) und Doizyusin (袋住先). Ersteres bedeutet im Allgemeinen „wir können Peking dazu bringen, uns am Ende des Tages das allgemeine Wahlrecht zu gewähren“, letzteres bedeutet „wir sollten jedes Zugeständnis akzeptieren, das Peking uns anbietet, zumindest vorläufig“.

Kampagne an der CUHK für Diversität im Oktober 2021. Heute aber nicht mehr für politische Meinungsfreiheit. Foto: CUHK Okt 2021

Es war und ist kein Geheimnis, dass Peking „Mittelsmänner“ nach Hongkong schickt, um mit den Führern der Pan-Demokraten oder anderen Personen, die über einen gewissen Einfluss verfügen, zu sprechen. Dies ist der Hintergrund von Jaugaiking. Die Führer der Pan-Demokraten sahen dies als ein Zeichen ihrer Bedeutung und waren sich nicht bewusst, dass sie kooptiert werden könnten. So einigten sie sich mit Peking darauf, dass die Einführung des allgemeinen Wahlrechts schrittweise erfolgen sollte. Im Jahr 2010 akzeptierte die Demokratische Partei ein politisches Reformpaket aus Peking (teilweise Vermehrung der Zahl der direkt gewählten Sitze in der Legislative), was eine typische Maßnahme der Doizyusin war. Dies stieß jedoch auf breite Kritik aus dem demokratischen Lager und war auch der Moment, in dem die Demokratische Partei an Unterstützung und Glaubwürdigkeit zu verlieren begann. Letztlich ist eine Erfüllung des Versprechen von Pekings noch immer nicht in Sicht.

Hinter Jaugaiking und Doizyusin verbarg sich auch die Strategie sich allein auf Wahlen zu Orientierung auf Wahlen. Streng genommen waren die vierzig Jahre der Demokratiebewegung in Hongkong im Wesentlichen ein Wahlkampf. Selbst moderater ziviler Ungehorsam wurde von der demokratischen Partei lange Zeit nicht gern gesehen. Fairerweise muss man sagen, dass dies in unterschiedlichem Maße auch für andere pan-demokratische Parteien galt. Die Teilnahme an dieser Art von „demokratischer Bewegung“ war nicht nur risikofrei, sondern für die Teilnehmer auch persönlich von Vorteil. Eine solche verwässerte demokratische Bewegung konnte keine echten demokratischen Kämpfer ausbilden, was erklärt, warum in den letzten Monaten lediglich der Druck einiger mysteriöser „Mittelsmänner“ die Führer dazu bringen konnte, sich übereilt aufzulösen, ohne den Mitgliedern jemals die Möglichkeit zu geben, Fragen zu stellen. Andererseits hat die Jugend zwar die Ehre Hongkongs durch einen letzten Kampf gerettet, aber sie hatte keine Zeit, ihre Strategie zu entwickeln, und noch weniger Zeit, sich auf eine große Säuberung vorzubereiten.

Seit Jahrzehnten warne ich vor den unzuverlässigen Versprechungen Pekings. Warum sollten die Pan-Demokraten den Versprechungen Pekings Glauben schenken, wo Peking doch 1989 mit der Niederschlagung der Protestbewegung sein wahres Gesicht gezeigt hatte? Dafür mag es mehrere Gründe geben, aber einer davon war die Arroganz der neu aufstrebenden Mittelschicht Hongkongs, die an ihre Überlegenheit gegenüber dem Festland glaubte. Diese „Hongkong-Überlegenheit“ verleitete viele zu dem Glauben, dass „wir überlegen sind, wir sind die Gans, die goldene Eier legt“. Die Geschichte hat nun bewiesen, dass wirtschaftliche Rationalität in Pekings Regierungsstil nie an erster Stelle stand.

Übersetzung von F. Hofmann,  Forum Arbeitswelten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/china-watch/die-strategie-der-selbstzerstoerung/

aktuell auf taz.de

kommentare

  • Lieber Au Loong-Yu,
    ich verfolge mit Interesse deine Blogartikel. Sie sind mit viel Erfahrungen, Wissen und Kenntnisse über die Situation in Hongkong und China geschrieben. Das habe ich bisher in den Medien so noch nicht gefunden. Auch dein Buch „Revolte in Hongkong“ war für mich ein Erlebnis- und Erkenntnisgewinn.
    Der Begriff „kultureller Völkermord“ für die Anordnung der chinesischen Regierung, kantonesisch aus den Bildungseinrichtungen durch Mandarin zu ersetzen, hat bei mir allerdings einige Fragezeichen aufgeworfen. Dieser Begriff war mir bisher nur für die Situation indigener Völker bekannt, die von ihrem Land, ihren Traditionen, ihren Kindern (Zwangsbeschulung in Internaten) getrennt wurden.
    Viele Grüße

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert