vonchina-watch 08.06.2022

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Was passiert hinter der Orwellschen Großen Mauer? Beobachtungen und Kommentare von Au Loong-Yu zu China und Hongkong.

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Der Monat Juni ist in Hongkong ein sehr sensibler Monat. Zunächst gab es den 4. Juni als Gedenktag an das Massaker in Peking im Jahr 1989, gefolgt vom 9. Juni als Gedenktag für die erste große Demonstration gegen das Auslieferungsgesetz im Jahr 2019. Ersteren hatte die Regierung im Victoria Park zum dritten Jahr in Folge verboten, doch dieses Mal war sie am striktesten – selbst der Versuch einer einzelnen Person, den Park zu betreten, würde zur Verhaftung führen. Zwischen 1990 und 2020 war Hongkong der einzige Ort, an dem die kollektive Erinnerung an die große Demokratiebewegung von 1989 lebendig gehalten wurde. Jetzt ist das alles weg.

Es ist absehbar, dass die Behörde auch das öffentliche Gedenken an den Aufstand 2019 verbieten wird. Wie schon 1989 wurde die Demokratiebewegung in Hongkong von Peking niedergeschlagen. Die Frage ist: Wie viele junge Hongkonger fühlen sich mit der Demokratiebewegung von 1989 verbunden? Vor dem Niedergang Hongkongs hatten sich nur wenige von ihnen überhaupt dafür interessiert. Das mag sich nach der vernichtenden Niederlage unserer Revolte ändern, aber es ist schwer zu sagen, inwieweit sich das verbessert hat. Wie dem auch sei, die beiden großen Ereignisse auf dem Festland und in Hongkong gehören zu einer einzigen gemeinsamen Geschichte – der schwierigen Geburt der chinesischen Demokratiebewegung.

Mit „Chinesen“ meine ich ethnische Chinesen (華人), nicht nur die Chinesen von Festlandchina bzw. der Volksrepublik China (中國人). Mit dem zunehmenden Selbstbewusstsein der Hongkonger ist heute diese Unterscheidung notwendig. Die Zeiten, in denen sich die absolute Mehrheit der Chinesen in Hongkong nur als „Chinesen aus dem Reich der Mitte“ (中國人) bezeichnete, sind längst vorbei. Wenn jemand für diese großen Fliehkräfte unter den Chinesen außerhalb des chinesischen Festlandes in den letzten dreißig Jahren verantwortlich gemacht werden muss, dann ist es Peking. Unter seiner Führung hat sich das „neue China“ (新中國 – ein in der Vergangenheit beliebter Begriff) längst in das „alte China“ (舊中國 – damit wurde das China der Kuomintang = KMT bezeichnet) zurückentwickelt, denn es wurde genauso reaktionär wie das China der KMT, wenn nicht noch schlimmer.

Was die Identität betrifft, so gibt es einen offensichtlichen Bruch zwischen der Bewegung von 1989 und der von 2019. Dennoch muss man auch die Kontinuität zwischen ihnen sehen. Einerseits haben die Menschen in Hongkong und Taiwan ihre eigene Identität entwickelt, die es anzuerkennen gilt. Andererseits verschwindet dadurch aber nicht ihre Verbindung zum Festlandchina, denn sie alle sehen sich demselben Feind in Peking gegenüber – einem totalitären Regime, das abweichende Ansichten über seine Interpretation des „Chinesisch-Seins“ nicht duldet. Sowohl die Bewegung von 1989 als auch die von 2019 waren ein demokratischer Kampf gegen Peking. In diesem Sinne waren ihre Kämpfe keine getrennten Kämpfe, sondern nur zwei Kapitel derselben Geschichte.

Genealogisch gesehen war es auch die erste Bewegung, aus der die Demokratiebewegung in Hongkong entstand, als am 28. Mai 1989 mehr als 1,5 Millionen Demonstranten auf die Straße gingen, um sich mit den Pekinger Studenten zu solidarisieren, die in den Hungerstreik traten. Diese massive Beteiligung wurde zu einem neuen Meilenstein. Während die Demokratiebewegung in Hongkong zuvor nur einen kleinen Teil der Mittelschicht angezogen hatte, entwickelte sie sich nun zu einer Volksbewegung. Sie schuf die Grundlage für die drei Jahrzehnte andauernden demokratischen Kämpfe in Hongkong, deren zentrales Motto die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht war.

Der Kampf von 2014 und 2019 bricht nur in Bezug auf die Mittel mit der Vergangenheit. Während die Pan-Demokraten überaus gemäßigt waren, ging der Kampf von 2014 mit zivilem Ungehorsam (Besetzung von Hauptstraßen) einen Schritt weiter, gefolgt von einem ausgewachsenen Stadtguerillakrieg mit Steinwürfen und Molotowcocktails im Jahr 2019. Dies ist eine legitime Reaktion auf den Verrat Pekings an seinem eigenen Versprechen, das allgemeine Wahlrecht einzuführen.

Der chinesische Orwell’sche Staat hat Hongkong nun verschlungen. Wie geht es nun weiter? Das Schicksal der Aktivisten der Demokratiebewegung von 1989 erinnert uns daran, dass es keineswegs einfach ist, unseren Kampf fortzusetzen. In den letzten drei Jahrzehnten ist der chinesische Staat noch stärker geworden, und die Aussichten für Demokratie sehen noch düsterer aus. Wenn wir jedoch genauer hinsehen, können wir feststellen, dass es immer noch gewisse Spielräume gibt. Fragen im Zusammenhang mit sozialen Rechten, Arbeitsrechten, Geschlechterrechten, Umweltschutz usw. können wir immer noch ansprechen. Wir wissen nicht, wie lange das so bleibt, aber gerade deshalb müssen wir die gegenwärtige Gelegenheit nutzen, um etwas aufzubauen und unseren Kampfgeist aufrechtzuerhalten. Das bedeutet nicht, dass solche scheinbar moderaten Aktivitäten risikolos sind – sie bergen tatsächlich das Risiko der Verhaftung und Strafverfolgung.

Aber es ist ein Unterschied, ob man wegen einer „ungesetzlichen Versammlung“ oder wegen eines Verstoßes gegen das nationale Sicherheitsgesetz angeklagt wird. Außerdem hält Peking vorläufig und dem Anschein nach immer noch an dem so genannten „Ein Land – zwei Systeme“-Begriff fest, auch wenn es ihn neu interpretiert, um ihn auszuhöhlen. Aber solange Peking die Stadt braucht, um Zugang zum US-Dollar und zum westlichen Markt zu bekommen, muss es seinen Owell’schen Staat wohl etwas abmildern. Das bedeutet, dass einzelne Dissidenten, solange sie nicht sehr berühmt sind, oder Arbeitsrechtsverfechter, die sich auf Alltagsthemen beschränken, immer noch bis zu einem gewissen Grad toleriert werden. Bis heute wurden zwar die Tageszeitung Apple Daily und Stand News verboten, aber die ebenfalls sehr populäre Online-Zeitung inMedia ist immer noch aktiv.

Was die politischen Parteien anbelangt, so hat Peking zwar viele ihrer Führer verhaftet, aber die Parteien an sich sind noch nicht verboten worden. Im Moment besteht Pekings Taktik darin, die Opposition zu enthaupten und sie noch nicht vollständig zu verbieten. Die Liga der Sozialdemokraten kann zum Beispiel immer noch kleine Proteste veranstalten. Wir sollten diese Gelegenheit zur Wiederbelebung eines gewissen Maßes an Organisation und Vernetzung nutzen, um unseren Rückzug zu stoppen und unsere Moral wieder zu heben. Je mehr wir in dieser schwierigen Zeit unsere Saat ausstreuen können, desto eher ist es möglich, die Bewegung zu gegebener Zeit wiederzubeleben.

Und dies führt uns zu einer wichtigen Lektion. Die Tragödie der festlandchinesischen Demokratiebewegung liegt darin, dass sie keinerlei Kontinuität besitzt. Unter dem Orwell’schen Staat musste jede Generation demokratischer Aktivisten von vorne beginnen und wurde dann bald unterdrückt, zusammen mit ihren Erfahrungen und Visionen. Nur in Hongkong, und auch erst seit den 1970er Jahren, konnte sich die lokal entstandene soziale Bewegung ein halbes Jahrhundert lang ununterbrochen entwickeln. Dies hat ein relativ reiches Erbe an Erfahrungen des sozialen Widerstands hinterlassen, das in den kommenden Jahren sehr nützlich sein könnte. Leider weiß das auch Peking, weshalb es entschlossen ist, Hongkong zu vernichten. Aber glücklicherweise hat es die Hände nicht so frei, wie es das gerne hätte.

Die Integration Chinas in den Weltmarkt bedeutet, dass sein Ehrgeiz durch die internationalen Beziehungen und die Geopolitik gebremst wird, vor allem durch die Notwendigkeit, die Währung über Hongkong an den US-Dollar zu binden – zumindest vorläufig. Wenn wir uns dessen auch bewusst sind, können wir diese Situation zu unserem Vorteil nutzen. Aber wir brauchen auch eine langfristige Strategie, die es uns erlaubt, die Festlandchinesen als unsere potenziellen Verbündeten zu sehen, während wir unsere eigenen Identitäten behaupten. Der historische Verlauf der Demokratiebewegung in Hongkong lehrt uns, dass die demokratische Zukunft der beiden Orte miteinander verbunden ist.

Übersetzung von Ingeborg Wick, Forum Arbeitswelten

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