vonchina-watch 06.09.2024

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Was passiert hinter der Orwellschen Großen Mauer? Beobachtungen und Kommentare von Au Loong-Yu zu China und Hongkong.

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Während der Olympischen Spiele im letzten Monat tauchten einige chinesische Wichtigtuer in einem von Taiwan finanzierten Hotel in Paris auf und beschwerten sich darüber, dass dieses sich weigerte, die Nationalflagge der Volksrepublik China zusammen mit anderen kleinen Flaggen in der Lobby aufzuhängen (1). Diese Art von Unruhe stiftenden Aktionen sind in den letzten Jahren recht häufig und sind ein guter Weg, um in China Aufmerksamkeit in den sozialen Medien (und Profit) zu erlangen. Doch spiegelt die Online-Popularität einen echten nationalistischen Fanatismus unter den einfachen Menschen in China wider?

Ich erinnere mich, dass ich Anfang der 2000er Jahre ein handgefertigtes Plakat am schwarzen Brett in der Bibliothek meiner Mittel-Schule fand, auf dem es um den Boykott japanischer Produkte ging. Der auffällige Slogan lautete: Jeder Yuan, den du jetzt für japanische Produkte ausgibst, wird zu einer Kugel, die deine Landsleute in Zukunft töten wird!

Als Junge brachte diese Art von Propaganda mein Blut in Wallung – aber nicht lange. Niemand nahm die Boykottaktion ernst und der Sony Walkman war damals noch der Traum eines jeden Schulkindes. Im Allgemeinen galten diejenigen, die sich strikt an das „Made in China“-Prinzip hielten, als besonders unbeliebte Freaks – das zeigt eine Dokumentation über sie (2).

Überleben mit billiger Japan-Ware

Nun, 20 Jahre später, hat sich das geändert? Ich möchte eine weitere Beobachtung teilen.

Wie Sie wissen, haben die Japaner in ihrer Blasen-Ökonomie-Ära viele Luxusgüter konsumiert, so dass sie heute über einen sehr großen Bestand an Gebrauchtwaren verfügen. In den letzten Jahren war der Import von Vintage- oder sogar Billig-Schmuck (und allen möglichen anderen Dingen) und der Online-Verkauf in China ein sehr beliebtes Geschäft, vor allem in der Zeit des COVID-Lockdowns, als die meisten anderen Geschäfte schwer zu betreiben waren. Die chinesischen Verbraucher lieben sie – auch wenn sie genau wissen, dass diese Waren von Japanern gekauft und getragen wurden. Wer kann zu Burberry Accessoires für fünf Euro schon nein sagen? Studenten, Hausfrauen und arbeitslose Jugendliche wenden sich diesem Handel zu und versuchen, auf TikTok oder anderen Online-Flohmarkt-Apps einen Gewinn zu erzielen.

Andererseits ist die aktuelle antijapanische Propaganda und das antijapanische Milieu, offiziell und inoffiziell, viel schrecklicher als vor zwei Jahrzehnten. So wurde beispielsweise der Angriff auf einen japanischen Schulbus in der Stadt Suzhou eindeutig durch Online-Hassreden gegen Japan (3) angestachelt.

Nationalismus als Form politischer Korrektheit

Allerdings greifen die meisten Chinesen weder Japaner noch andere Ausländer, die nach China kommen, physisch an und kaufen gerne ausländische Waren von besserer Qualität. Das ist der typische „doppelgesichtige Chinese“: Einerseits stimmen die Menschen in die nationalistische Rhetorik ein, andererseits kümmern sie sich im Privatleben mehr um materielle Interessen. In den letzten Jahren gab es jeweils ein Affentheater über den Boykott koreanischer Supermarktketten, den Boykott amerikanischer Marken, den Boykott französischer Unternehmen, usw. Aber keines von ihnen hielt sich länger als ein paar Monate.

Die chinesische Bevölkerung sollte nicht dafür verantwortlich gemacht werden. In einem Land, in dem Menschen verhaftet und verurteilt wurden, weil sie online Tischtennis-Olympioniken oder Märtyrer (4) beleidigt haben, muss man sich an die „politische Korrektheit“ halten.

Wie viele andere Regierungen in der Welt und in der Geschichte schürt auch die KPCh den Nationalismus, um ihre Herrschaft zu festigen. Indem sie äußere Feinde schafft, versucht sie zu beweisen, dass das chinesische Volk ihren Schutz braucht, was bedeutet, dass große Kriegsschiffe, hochmoderne Tarnkappenflugzeuge und mehr Atomwaffen gebaut werden müssen. Ein klassischer „Farm der Tiere“ -Trick – der menschliche Farmbesitzer – amerikanische Imperialisten, japanische Militaristen, britische Kolonialisten, taiwanesische Separatisten, nazifreundliche rechte Hongkonger, die ins Ausland geflohen sind, usw. – kommen zurück!

Ablenkung durch Nationalismus?

Eine typisch nationalistische Rhetorik verspricht aber auch Wohlstand und Reichtum. So wie Hitler einst versprach, dass jede deutsche Familie einen Volkswagen besitzen würde. Im Jahr 2021 verkündete Xi Jinping zum 100. Jahrestag der Gründung der KPCh, dass Chinas Kampf gegen die Armut einen umfassenden Sieg errungen habe. Doch nun, im Jahr 2024, liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 17,1 % (5) und viele junge Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf japanischem Zeugs.

Viele Menschen fragen sich: Was haben uns OBOR – die neue chinesische Seidenstraße – , künstliche Inseln im Südchinesischen Meer oder der Handelskrieg zwischen den USA und China gebracht? Solche Stimmen sind derzeit so alltäglich wie die nationalistischen Hassreden im chinesischen Internet. Bevor Xi nicht die wirtschaftlichen Probleme Chinas auf wundersame Weise lösen kann, glaube ich nicht, dass die Öffentlichkeit die Aggression der KPCh gegenüber dem Ausland von ganzem Herzen unterstützen wird.

Es gibt jedoch noch eine weitere Gefahr: Xis Untergebene könnten ihm nur ausgewählte öffentliche Meinungen präsentieren, die ihn glauben lassen, dass die nationalistische Gehirnwäsche funktioniert und ihn damit schlechte Entscheidungen treffen lassen.

Putin hat einmal ernsthaft geglaubt, dass die Ukrainer russische Panzer in Kiew mit der Trikolore winkend begrüßen würden. Im chinesischen Internet findet man auch die irrsinnige Behauptung, dass die Taiwanesen am Tag nach der Landung der Volksbefreiungsarmee Schlange stehen werden, um einen Personalausweis der Volksrepublik China zu erhalten.

Nüchterne Menschen können den Unterschied zwischen Witzen und Intelligenz erkennen, wir können nur die Daumen drücken, dass dies auch für unseren Großen Führer gilt.

Anmerkungen
1) siehe Mainland Chinese urged to boycott Taiwanese hotel chain that refused to fly flag in Paris in South China Morning Post 16.8.2024
2) siehe Chinesischsprachiges Video auf von 2014 Appel TV
3) siehe Three wounded in apparent knife attack on Japanese school bus in China in the japan times vom 25.6.2024 und China scrambling to unplug anti-Japan hate speech in Asia Times 5.7.2024
4) siehe China’s Table Tennis Association backs crackdown on illegal fan circle behavior in Xinhua Net 22.7.2024 und Courts step up efforts to protect reputations of heroes, martyrs in China Daily 9.12.2022
5) siehe China’s youth unemployment soars above 17% in July in CNBC 19.8.2024.

Übersetzung aus dem Englischen von Fritz Hofmann, Forum Arbeitswelten

 

 

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