vonHelmut Höge 24.08.2009

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Die FAZ meldet heute:

Jia Pingwas Werk erscheint in China!

Der chinesische Schriftstellerverlag hat eine vom Autor bearbeitete Fassung des Romans „Verlassene Hauptstadt“ von Jia Pingwa veröffentlicht, der vor sechzehn Jahren wegen „vulgären Stils und pornographischer Beschreibungen“ verboten worden war. Das Buch erzählt die Geschichte eines Großstadtintellektuellen, die von Kritikern als Gesamtpanorama von Alltag, Institutionen und existentiellen Nöten der chinesischen Gegenwart gefeiert worden war. Im Blick der Zensoren und weiter Teile des Publikums dagegen wurde der Originaltitel „Feidu“ wegen der amourösen Abenteuer des Helden zu einem Synonym für Anrüchigkeit. Nach dem Verbot sollen zwölf Millionen Raubkopien des Buchs verkauft worden sein; Softporno-Heftchen benutzten den populären Romantitel für ihren eigenen Umschlag. Die neue Version behält die Zensur der Erstveröffentlichung bei; die als anzüglich inkriminierten Stellen, die früher durch schwarze Kästchen unter Angabe der Zahl der getilgten Zeichen gekennzeichnet waren, sind jetzt durch diskrete Pünktchen ersetzt.

Der in Berlin lebende Journalist und Dolmetscher Jia Zhiping hat einige Texte von Jia Pingwa übersetzt. in einem schreibt dieser über die während der Kulturrevolution unter der Parole der „3 Mits“ („mit den Bauern arbeiten, mit den Bauern leben, mit den Bauern lernen“) aufs Land geschickte „gebildete Jugend“. In Deutschland Ost und West wurden nach der Kulturrevolution etwa 120 Romane von diesen „gebildeten Jugendlichen“ veröffentlicht. Sie schrieben zumeist über die schreckliche Zeit – auf dem Land, unter ungebildeten Bauern, primitiven Lebensumständen und harter dummer Arbeit. Die DDR und die BRD veröffentlichten ihre Romane beide aus dem selben Grund: Es sollte damit Maos Irrweg nachhaltig aufgezeigt werden. Am erfolgreichsten war darin der verlogenste und bauernverachtenste  Roman: „Balzac und die kleine chinesischen Schneiderin“ von Dai Sijie, der dann auch prompt verfilmt wurde.  Das genaue Gegenteil zu diesem idiotischen Machwerk ist ein kleiner Text von Jia Pingwa, aus dem im Folgenden zitiert wird:

Vorbemerkung von Jia Zhiping:

Jia Pingwa wurde 1952 in einem Dorf namens Dihua geboren, nachdem er 1967 die Hochschulreife erworben hatte, kehrte er in sein Heimatdorf zurück und wurde zunächst „ein echter Bauer“, wie er das nennt. Die Bauern zählten ihn jedoch fortan zur „gebildeten Jugend“.

Er wurde Mitglied des Dorfes Dongjie der Brigade Dihua in der Volkskommune Dihua. Als man ihn auf die Baustelle eines Staudamms versetzte, war er dort für die Herausgabe einer Kampfzeitung verantwortlich, die er mit eigenen Gedichten füllte. Damit begann seine Karriere als Schriftsteller. „Während der langen Jahre, in denen die Literatur der gebildeten Jugend“ – die Narbenliteratur – „Mode wurde“, hat er jedoch „kein einziges Wort dazu beigetragen“, wie er schreibt.

Jia Pingwa – Ein Bauer war ich„:

Die Mittelschule hatte kaum zwei Jahre gedauert, da machte die Schule lange Ferien. Ich wurde als Absolvent vom Jahrgang 1967 mit Abschluß der Mittelschule eingestuft. Damals war ich erst vierzehn Jahre alt. Auf dem dünnen Hals trug ich einen großen Kopf und auf dem Kopf wuchs aus dem Haarwirbel ein Haarbüschel, das in die Höhe ragte. Bei Prügeleien war ich immer der Verlierer, denn ich wurde immer an diesem Haarbüschel gepackt und konnte nur noch Schläge empfangen. Aber ich verstand zu heulen. Die Dorfbewohner sagten, ich sei Liu Bei. (Anmerkung: Liu Bei, König der Shu in der Zeit der Drei Reiche, eine der Hauptfiguren in dem berühmten Roman „Drei Reiche“. In diesem Roman weint er immer, wenn er Schwierigkeiten hatte und keinen Ausweg sah.) Nachdem ich nach Dihua zurückkehrte, wurde ich ein echter Bauer, unter den Bauern wurde ich aber zu der Jugend-Intelligenzija gezählt. Später wurde ich Schriftsteller, hatte aber während der langen Jahre, in denen die Literatur der Jugend-Intelligenzija im chinesischen Literaturkreis Mode war, kein einziges Wort dazu beigetragen.

Zu der Jugend-Intelligenzija rechnet man meistens solche Kinder, die ursprünglich in der Stadt lebten, ein mehr oder weniger als reich zu bezeichnende Leben führten und plötzlich in Begleitung von Trommel- und Gong-Musik aufs Land geschickt wurden, um Bauern zu werden. Meine Heimat war auf dem Land. Ich kam nicht aufs Land, um Bauer zu werden, sondern war ich von Anfang an Bauer. Ich habe viele Romane der Jugend-Intelligenzija gelesen. Jene städtischen Kinder mußten das Elternhaus und das gemütliche Leben verlassen, um auf dem Land vielerlei zu erleiden, so hatten sie zu fluchen und zu klagen. Ihr Schicksal rührte mich auch zu Tränen. Nach der Lektüre dachte ich aber oft: Wenn sie nicht verdienten, aufs Land geschickt zu werden, hätten wir dann verdient, auf dem Land geboren zu werden? Gleichfalls sind es Kachel, manche werden auf die Wand in der Küche geklebt und manche im Badezimmer. Wenn Küchenkachel ins Badezimmer verlegt werden, schreien sie laut vor Kummer, so daß Himmel und Erde erschüttert werden. Wie können sie dann die Badezimmerkachel wimmern hören?

Wie hatte ich die Jugend-Intelligenzija aus der Stadt bewundert! Sie kamen mit Trommel- und Gong-Schlägen, wurden aufs Land geführt, übernahmen im Dorf die wichtigsten aber auch die leichtesten Arbeiten, zum Beispiel als Barfuß-Ärzte, Lehrervertretung, Traktorfahrer, Buchhalter oder Mitarbeiter der Kulturpropaganda. Sie hatten geregelte, überdurchschnittliche Nahrungsration, durften regelmäßig in die Stadt fahren, um mit Radios, Taschenlampen, Tigerbalsam, Keksen und Bonbons zurückzukommen. Sie trugen Soldatenhosen, hingen am Hals einen Mundschutz, hatten Strümpfe aus Nylon und Hosengürtel aus Segeltuch. Sie waren Objekte der Begierden der schönen Mädchen im Dorf. Die Mädchen wählten zuerst immer sie, erst dann waren wir an der Reihe.

Nach dem Transport von Weizen wurde ich vom Brigadenführer zum Transport von Düngen und Einspannen von Zugbüffeln und ähnlichen Aufgaben geschickt. Dafür verdiente ich jeden Tag drei Arbeitspunkte. Damals galt ein Arbeitstag als zehn Arbeitspunkte, die umgerechnet zwei Groschen wert waren. Das bedeutete, mit meiner Arbeit von früh bis abend verdiente ich täglich sechs Pfennig. Da ich kleinwüchsig und schmächtig war, bekam ich immer Schimpfworte zu hören. Die Bauern schimpften sehr derb. Zum Glück wurde ich lange Zeit vom Brigadenführer zur Arbeit mit den Frauen geschickt. Ich wurde Mitglied des Dorfes Dongjie der Brigade Dihua von der Kommune Dihua. Ich konnte schon mit geschlossenen Augen aufzählen, wieviel bewässerte Felder das Dorf am Ufer des Flusses vor dem Dorf hatte, wieviel neue Felder am Westufer, wieviel unbewässerte Felder im Osten und wieviel Terrassenfelder im Westen. Ich liebte die Felder, liebte jede Pflanze auf dem Feld… In der Armut lernte ich, egoistisch zu sein. Denn ich sah, wie wichtig ein einziger Pfennig, ein Streichholz oder eine Handvoll Getreide für das Leben war!

Doch ich haßte gleichzeitig die Felder. Ich war nicht willig, diese Armut lebenslang zu erleiden. Wenn die Gelegenheit da sein sollte, müßte ich mich von der schweren Arbeit befreien. Ein paar mal wurden Fabrikarbeiter angeworben. Ich hatte keinen, der für mich ein Wörtchen einlegen könnte, noch Geschenke, mit denen man einiges bewirken könnte. So wurde ich jedesmal abgelehnt. Bei der ersten Musterung für die Armee hatte ich keinen Bekannten in der Abteilung für Volksbewaffnung der Kommune, der für mich Geschenke einreichen würde. Bei der zweiten Musterung konnte ich mich nicht einmal anmelden, weil mein Vater durch die Säuberung plötzlich nach Hause geschickt wurde. Sollte ich mein Leben lang in dieser Armut verkriechen? Mein Vater klagte ständig, seine Probleme bei der Säuberung hätten meine Zukunft ruiniert. Wenn ich sah, wie er schuldbewußt weinte, „Ich habe das Kind ruiniert!“, war mein Herz wie vom Messer zerstochen! Endlich aber schlich ich mich eines Abends auf die Baustelle des Staudamms! Ich kam zum Staudamm, weil ich in einer neuen Umgebung mich entspannen wollte. Was viel wichtiger aber war, daß jene „Sie“, in die ich mich heimlich verliebt hatte, auf der Baustelle arbeitete. Mitte der 80er Jahre schrieb ich ein Gedichtchen mit dem Titel „Einseitige Liebe“.

Das Gedicht lautet: Die schönste Liebe der Welt/ Die unerwiderte Schmerzlos Absolut mutig Geliebt von jemandem/ Du weißt nicht vom wem Liebst du/ Kennst du nur dich/ Mit einem Schlüssel Öffnet sich die Tür meines Zimmers. Mit diesem Gedicht wollte ich das Gefühl meiner ersten Liebe in die Erinnerung zurückholen. In den ersten anderthalb Tagen auf dem Damm traf ich sie nicht, hatte auch nicht meinen Cousin gefragt, wo sie sein könnte. Ich konnte nicht schlafen, nahm einfach ein Buch eines Bauarbeiters in die Hand. Ich sollte erst einige Jahre später beim Studium an der Universität erfahren, daß dieser Band ohne Deck- und Schlußblatt die „Aufzeichnungen über Baiyangdian“ war. Nachdem ich ein Dutzend Seiten gelesen hatte, spürte ich unter der Decke plötzlich etwas Kaltes, das sich bewegte. Ich stieß mit dem Fuß die Decke auf. O Gott, eine Schlange! Am zweiten Tag kam ich zum Hauptquartier und übernahm die Arbeit, Parolen zu schreiben und Kampfblätter der Baustelle herauszugeben. Im Hauptquartier verdiente ich jeden Tag acht Arbeitspunkte, fast das dreifache von dem, was ich im Dorf verdiente. Zusätzlich gab es eine monatliche Zulage von zwei Yuan! Was für ein Glück für mich! Ich lief zu einer tiefen Stelle des Flusses, zog mich nackt aus und schwamm im Wasser mit lautem Johlen und schwor, fleißig zu arbeiten, alle Leiter des Hauptquartiers zufriedenzustellen, damit ich diese Arbeit für lange Zeit behalten könnte. Diese Stelle lag unterhalb der Baustelle. Gewöhnlich kam niemand nach dem Abendessen hierher. Wie es aber der Zufall wollte, tauchte ausgerechnet sie auf, die ich heimlich liebte. Da hatte ich gerade den Kopf aus dem Wasser gestreckt und sah sie von weit her kommen. Mit einem „Ah“ tauchte ich sofort unters Wasser, da ich doch splitternackt war. Nachdem sie vorbeigegangen war, zog ich mich rasch an und rief ihr hinterher: „Hallo! Ha-llo!“ Für einen Augenblick war sie überrascht, rannte aber sofort auf mich zu und sagte: „Ich habe gehört, daß du gekommen bist, konnte dich aber nicht finden. Bist du beim Hauptquartier untergekommen?“ Ich antwortete: „Seit dem Nachmittag bin ich offiziell im Hauptquartier.“ Sie gab auf, was sie vorhatte und führte mich zu ihrer Sammelunterkunft. Kaum waren wir eingetreten, richteten sich alle Blicke auf mich. Den Blick so vieler junger Frauen konnte ich nicht ertragen. Vor Verlegenheit bekam ich rote Wangen und Ohren. Damit geriet ich unter Verdacht und wurde anders angeschaut. Sie sagte: „Das ist ein Onkel von mir. Ich nenne ihn Onkel.“ Die Frauen: „Wirklich? Solch einen jungen Onkel hast du?“ Mein Blick fiel zum erstenmal auf sie, als ich im Turm des Großen Wagens Mittagsschlaf machte.

An jenem Tag amüsierten ich und meine Freunde uns nach dem Mittagsessen im Fluß Danjiang und verkrochen uns nachher auf den Turm des Großen Wagens, die von den Dorfbewohnern den Turm der ledigen Gesellen genannt wurde. Schnell schliefen wir schnarchend ein. Am Turm zwitscherte aber unablässig ein Vogel. Ich machte die Augen auf und wollte den Vogel sehen, sah aber sie auf der Straße am Turm kommen. Sie ging und strickte einen Pullover, der Wolleknäuel fiel aber zu Boden. Sie beugte sich vor, um ihn aufzuheben, ließ die zwei langen Beine gerade bleiben, so bildete ihr Gesäß einen riesigen Pfirsich. Wahrscheinlich hatte sie den Vogel auch gehört. Nach vorne gebeugt schaute sie nach oben. Mein Herz machte plötzlich ein Klirren. Wirklich, ich hatte dieses Klirren gehört. Aber ich verbarg sofort meinen Kopf, da ich fürchtete, daß sie merken würde, daß ich sie beobachtete. Seitdem wurde meine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet, sogar das Muttermal auf ihrem Gesicht fand ich angenehm. Immer sehnte ich mich danach, sie zu sehen und war fröhlich, wenn ich sie sah. (Sie hieß nicht Jia, nannte mich aber Onkel!) Die Freude und der Kummer der einseitigen Liebe begannen mich quälen. Wenn die Arbeitszeit eingeläutert wurde, stellte ich mich auf den kleinen Wall und schaute zum Bach hinunter. Die Dorfleute marschierten am Fluß zur Arbeit, ich versuchte, sie unter ihnen zu entdecken. Wenn sie darunter war, war ich sofort euphorisch, ging mit zur Arbeit und rückte mich ganz natürlich in ihre Nähe. Den ganzen Tag hatte ich dann unerschöpfliche Kraft. Wenn sie nicht darunter war, ging ich auch zur Arbeit, war aber kraftlos und sprach mit niemandem, war nur müde und gähnte unablässig.

Das Büro der Produktionsbrigade befand sich in der Nähe von ihrer Familie. Jeden Abend wurden im Büro die Arbeitspunkte eingetragen. Das erledigte eigentlich mein jüngerer Bruder. Nun drängte ich mich vor, weil ich an ihrer Hoftür vorbei gehen konnte. Ihre Hoftür war immer halb verschlossen. Schaute man hinein, sah man nur Dunkel und Licht aus dem Haupthaus. Ich ging schnell an der Hoftür vorbei, suchte mir aber irgendwelche Gründe, um zurückzukehren und noch einmal vor ihrer Hoftür vorbei zu gehen, in der Hoffnung, daß sie aus der Hoftür heraustreten würde. Einmal kam sie in der Tat heraus. Aber ein Husten kam aus dem Toilettenhäuschen links neben der Tür. Ihre Schwägerin ragte den Kopf hinter der Toilettenwand hervor. Beide sprachen über die Wand mit einander. Ich flüchtete wie ein Dieb und haßte die Schwägerin. Als ich nach Hause kam, bereute ich meine Mutlosigkeit und schwor, ihr mein Herz zu öffnen, wenn ich sie am nächsten Tag bei der Arbeit wieder sehen sollte. Doch als ich sie am nächsten Tag sah, redete ich viel, aber immer nur um das heiße Eisen herum. Beinahe wurde das heiße Eisen berührt, ich änderte aber plötzlich die Richtung und sprach wieder Belangloses… Eines Tages war ich mit einem Grobian des Dorfes zusammen beim Erdumgraben. Er sagte: „Ich hasse es, daß wir nicht mehr die alte Gesellschaft haben!“ Ich fragte: „Warum?“ Er antwortete: „Wenn wir noch in der alten Gesellschaft leben würden, würde ich auf jeden Fall X zu mir holen. Auch wenn sie nicht mein Weib werden sollte, würde ich sie vergewaltigen!“ Ich war erschrocken. Er war ebenfalls verrückt nach ihr. Ich haßte ihn zutiefst. Wenn ich ihn besiegen könnte, hätte ich ihn zu Boden geschlagen, ihm alle Zähne herausgeschlagen und aus seinem Maul ein Arschloch gemacht.

Eines Abends machte die Brigade beim Erdumgraben Überstunden. In der Arbeitspause wurde am Rand des Feldes ein Lagerfeuer angefacht. Wir hockten um das Feuer herum und hörten Sanwa alte und neue Geschichten erzählen. Sie war mit einigen Frauen sich erleichtern gegangen. Als sie zurückkam, sah sie, wie lebhaft es bei uns zuging, und sagte: „Ich will mithören!“ und zwängte sich zwischen mich und einen anderen wie ein Keil. Ich hielt die Knien mit beiden Händen fest und wagte mich kein bißchen zu bewegen, versuchte aber, sie mit der ganzen Körperhälfte zu spüren. Das Blut in dieser Körperhälfte kochte, so daß man jeden Pulsschlag hören könnte. Später sagte man, ein junger Mann außerhalb von den Bergen hielt ihre Hand. Es war in der Tat wahr. Sie fragte nach meiner Meinung. Ich antwortete aber schroff, es sei ihre Sache. Innerlich fing ich aber an, diesen Burschen von außerhalb zu hassen. Kurz nach meiner Ankunft auf dem Staudamm verlobte sie sich mit einem Soldaten. Was für Wut ich im Bauch hatte! Ich haßte es, daß ich Bauer war, ich war wütend, daß ich nicht zur Armee gehen konnte. Noch mehr haßte ich aber mich, dafür, daß ich ihr mein Geheimnis nicht verraten hatte. Meine Mutter hatte später ein paar mal Ehevermittler beauftragt, eine Ehe für mich zu stiften. Es hatte nicht geklappt. Aber Fuyin, der im Hauptquartier arbeitete, hatte mir eine Verlobte vermittelt. Diese war Tian. Als ich zum erstenmal nach der Anweisung von Fuyin der Verabredung mit ihr nachkam, war ich innerlich sehr unsicher, obwohl ich sie vorher schon gesehen hatte, und zwar mehrmals. Ich ging zu der von Fuyin beschriebenen Stelle, fand nur einen hausgroßen Felsenblock und einen Kaki-Baum vor, der von der Steinwand schräg herüber gewachsen war. Nicht einmal ein Schatten von Menschen war zu sehen. Ich stand da eine Weile. Als ich mich umdrehte und mich entfernen wollte, huschte aber ein Schatten hinter dem Felsblock hervor. Es war Tian. Sie sagte: „Du bist unpünktlich. Fuyin hat gesagt, du willst mich hier treffen. Ich kam hierher, du warst aber nicht da!“  Ich ging auf sie zu und sagte: „Nicht ich wollte dich treffen, sondern Fuyin schickte mich hierher…“ Sie sagte: „Du bist unverantwortlich. Lassen wir das. Sagen wir, ich hätte mich mit dir verabredet…“ Sie fuhr fort: „Dann spielen wir mit offenen Karten. Was ließ Fuyin mir sagen?“ Ich sagte: „… Fuyin meinte, du wolltest?“ Meine Stimme zitterte. Sie fragte, ob es mir kalt sei. Es wurde viel gesprochen. Ich hatte mehr oder weniger einen Minderwertigkeitskomplex. Zum Schluß fragte ich deshalb: „Willst du wirklich?“ Sie fragte zurück: „Was ist mit dir?“ Ich antwortete: „Ich bin Bauer, mein Vater hat Probleme mit seiner Geschichte. Ich fürchte, ich werde lebenslang auf dem Land kriechen müssen. Überlegs dir gut.“ Sie sagte nur: „Wenn du nur genug Talent hast!“

Wenn ich von Liebesbeziehungen spreche, war das meine erste. Die erste Liebesbeziehung begann in der dunklen Nacht. Meine Füße waren erfroren, ihre auch. Als einige Jahre später unsere Liebesbeziehung gekündigt wurde, dachte ich, in jener Nacht hatten wir eine schlechte Stelle ausgesucht. Jetzt denke ich, es war eine kalte Liebe. Unsere Beziehung war nicht von den Eltern bestimmt, heimlich, wurde aber kurze Zeit später von den Eltern beiderseits akzeptiert. Wir hatten uns sogar verlobt. Tian nannten meine Eltern Papa und Mama. Dennoch, ein Jahr später trennten wir uns. 20 Jahre später habe ich erst begriffen, daß Trauer und Kummer mich begleiten, seitdem ich Dihua verließ. Ich habe mich von Sorgen nicht befreien können, die Sorgen des Lebens sind ewig mit dem Leben verbunden. Wenn ich aber an die Tage auf dem Land denke, werden diese Tage hell und freudig. 1993, kurz nach der Veröffentlichung meines Romans „Die verlassene Hauptstadt„, besuchte ich mit meiner Tochter die Ebene nördlich des Wei-Flusses. Wir spazierten auf einem umgepflügten und von Regen befeuchteten Acker. Die Erde war so weich, verschiedene Wildkräuter waren aus dem Boden herausgeschossen. Die Frische der Erde drang mir in die Nase. Ich fragte meine Tochter, ob sie den frischen Duft der Erde gerochen habe. Sie sagte, sie hätte keinen Duft gerochen. Unwillkürlich beugte ich mich, nahm etwas von der Erde in den Mund und kaute. Meine Tochter wurde bleich vor Schrecken: „Papa, wie kannst du nur Erde essen?“ Ich antwortete: „Papa erinnert sich an die Vergangenheit auf dem Land. Wie gut diese Erde doch schmeckt!“ Zu Hause erzählte meine Tochter meiner Frau: „Papa ist so dreckig, er hat Erde gegessen!“ Ich dachte unwillkürlich an die Nudelsuppe mit den zwei gelben Eiern darauf. An jenem Tag war ich schlecht gelaunt, weil ich weder als Arbeiter angeworben war noch zur Armee gehen konnte. Plötzlich hieß es, dass mein Cousin, der Zugführer bei den Milizen war, eine gute Nachricht gebracht hätte: Eine Lehrerin der Grundschule erwarte ein Kind und brauche eine Vertretung. Der Cousin sagte, er habe mich empfohlen. Meine Mutter war so erfreut, daß sie ihm gleich eine Schale Nudel kochte, zusätzlich noch zwei Spiegeleier! Diese Nachricht raubte mir in der Nacht den Schlaf. Ich wartete auf die Entscheidung, stellte mir wiederholt vor, wie ich unterrichten würde, wie ich auf einem Schemel stehen würde, um an der Tafel schreiben zu können.

Schließlich kam der Cousin schimpfend und erzählte: Pingwa sei ein guter Schüler gewesen und habe eine gute Handschrift, deshalb habe er ihn als Lehrervertreter empfohlen. Ein Kader der großen Produktionsbrigade habe aber einen anderen vorgeschlagen, der kein guter Schüler gewesen sei. Es sei zur Abstimmung durch Handheben gekommen, keine Entscheidung konnte getroffen werden. Als er aber einmal vom Pinkeln zurückkam, hätten die Kader sich für den anderen Jungen entschieden. Was für eine Welt! Ausgerechnet in dieser Situation traf ich einen ehemaligen Mitschüler, der sich fein herausgeputzt hatte. Ich fragte: „Was nun, verlangen die Schwiegereltern dich zu sehen?“ Er antwortete aber: „Das Geologenteam hat mich als Mitarbeiter angeworben. Jetzt gehe ich mich melden!“ Diese Rotznase mit seinem halben Jahr in der Mittelschule! Ich begann ihn zu hassen. Zufällig sah ich nicht weit entfernt zwei kopulierende Hunde. Voller Haß schmiß ich einen Erdklumpen nach ihnen und fluchte mit einem unanständigen Wort…

Später kam ich auf die Baustelle des Staudamms und stellte die Kampfzeitung zusammen. Um die Seiten zu füllen, schrieb ich Gedichte. Objektiv gesehen begann von da an mein literarisches Schaffen. Nun bin ich kein angeblicher jugendlicher Intellektueller mehr, auch kein echter Bauer namens Jia Liping mehr, niemand nennt mich noch Pingwa. Von einem Bauern bin ich zum Schriftsteller, ein Städter, geworden. Gleichzeitig bin ich auch die Summe von einer Menge Zahlen geworden: Jia Pingwa, männlich, geboren am 21.2.1952 nach dem Bauernkalender in der Gemeinde Dihua, Kreis Danfeng, Provinz Shaanxi, dem Geburtsjahr nach Drache, 165 cm groß, 62 kg schwer, Absolvent von der Universität Nordwest im Jahr 1975, anschließend Literaturredakteur im Volksverlag Shaanaxi, von 1980 bis heute Angestellter im Literaturbund der Stadt Xian. Die Anschrift der Arbeitsstelle lautet: Lianhuxiang 2, Postleitzahl 710069, Telefon (029) 7274959; die private Anschrift ist: Universität Nordwest 6-3-407, Postleitzahl 710003, Telefon (029) 8302328. Im Wohnhaus bin ich 407, für die Krankenschwester, die im Krankenhaus Medikamente verteilt, bin ich 348, auf der Arbeitsstelle bin ich 001, wenn die Telekom Mahnungen schickt, bin ich 8302328, bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen bin ich 610103530221121, wie bei den Getränke, die im Laden verkauft werden: Auf dem Etikett werden die Zutaten auch in Zahlen angegeben.

chinesische Multifunktionspoller

Jia Pingwa – „Im Dorf der Stille“:

In der heutigen Zeit ist es leicht, einen lebhaften Ort zu finden, aber schwer, einen stillen Ort zu erreichen, leicht, einen geschäftigen Ort zu finden und schwer, eine schlichte Bleibe zu finden, besonders schwer ist es, in der Nähe einer Metropole eine ruhig Ecke zu finden. Anfang vorletzten Jahres haben wir ein Bauernhaus gemietet. Neun li südlich vom Dorf ist das Nordtor der Stadt, fünf li westlich des Westbahnhofs  und sieben li östlich des Ostbahnhofs. Geht man nördlich 20 li, ist da wieder ein Industriegebiet, das Stadt außerhalb der Stadt genannt wird. Wie im Zentrum von einem Taifun Windstille herrscht, liegt wunderbarerweise inmitten der modernen Hochhäuser dieses Stück Land mit seinen Bauernhäusern. Häufig kommen Freunde zum Tee. Wenn sie kommen, wollen sie unbedingt übernachten; wenn sie hier übernachten, stimmen sie unbedingt ein Loblied an. Manche sagen, hier sei es wie ein uraltes Volkslied.

Manche behaupten, es sei wie ein ausgetrockneter Brunnen, aus dem auf einmal wieder frisches Wasser heraussprudelt. Andere vergleichen es mit einem archäologischen Fund, wie das blau gemusterte Porzellan aus der Song-Zeit, einfach, solide, elegant. Das Dorf ist eigentlich nicht groß. Seine Häuser hängen und stehen unordentlich da, so sieht es wie ein öffentlicher Park aus, aber viel natürlicher. Es gibt bloß keine Blumen, ansonsten ist es von kleinen und großen Bäumen und grünen Kornfeldern umzingelt. In der Stadt hat man die vielen Hochhäuser vor sich, hat sie dann irgendwann satt. Plötzlich kommt man hierher, spürt sofort die belebende Frische. Man sieht zuerst die Bäume, die fast keine eigene Figur mehr haben. Ihre Zweige und Äste sind so ineinander verwoben, daß sie wie eine grüne dicke Wolke aussehen, die auf zahllosen Pfählen liegt. Nur wenn man näher kommt, sieht man erst im Grün das Dorf. Ringsum um das Dorf ist eine Lehmmauer, die gerade steht. Sie hat keine Bedeckung aus Stroh noch Ziegelsteinen, ist aber kein bißchen beschädigt. Auf ihr ist eine dicke grüne Moosschicht gewachsen, die aussieht wie das neu gewachsene schwarze Haar auf den kahl geschorenen Köpfen der Bauern. Das Dorf hat insgesamt zwei Gassen, die miteinander verbunden sind und ein großes „U“ bilden. Die Häuser stehen sich Tür zu Tür und Fenster zu Fenster gegenüber. Wenn ein Hahn in einem Haus kräht, krähen alle im Dorf. Dann hört man eine Stunde lang ununterbrochenen Kikeriki. Die Familie am Anfang und Ende der Gasse hält je einen Hund, so kommt kein Dieb ins Dorf herein. Fast alle Häuser sind mit Stroh bedeckt. Sie bedeuten aber keine Armut. Vielmehr werden sie kultiviert: Drinnen ist es im Winter warm und im Sommer kühl, außerdem hat man drinnen keine Furcht vor Einsturz durch Erdbeben.

Die höchste Hütte mit dem spitzesten Dach von Ost nach West und von West nach Ost ist die meine. Die Dorfbewohner sind einfach und ehrlich, schon beinahe einfältig. Fragt ein Reisender dies und jenes, ihm werden alle Fragen ausführlich beantwortet. Nach dem Gespräch, in dem auch Hände und Füße mitspielen, wird er noch vor das Dorf geführt und ihm werden die Wege gezeigt. Wenn Gäste kommen, dann wird so viel Essen gekocht, daß etwas davon übrigbleibt und so viel Schnaps eingeschenkt, bis man stockbetrunken ist. Erst dann fühlt sich der Gastgeber wohl. Bekleidet sind sie schlicht und einfach mitden üblichen Bauernkleidern, haben aber sehr feine Gesichtszüge. Natürlich essen sie nicht mehr jeden Tag eingelegtes  Gemüse und Sauerkraut, sondern nur noch in Fett Gebratenes und Frittiertes, aber am Tisch zu essen ist man nicht gewohnt. So kommen alle zur Essenszeit heraus und hocken in der Gasse. Diejenigen, die auch mit einer Eßschüssel in der Hand herauskommen, sich aber nicht hinhocken können und deshalb im Stehen essen, sind von meiner Familie, genauer genommen bin ich das. Wir pflanzen keine Blumen an. Ein paar mal haben wir es versucht. Aber die Blumen sind immer ausgetrocknet oder zusammengeschrumpft. Ein älterer Mann hat daraufhin lachend erklärt: „Das kommt daher, daß es im Dorf zu viel Mädchen gibt. Schau, du hast ja auch zwei hierher gebracht!“ Er hat recht. Die Blumen sind entweder neidisch auf die Schönheit der Frauen oder sie schämen sich vor ihnen. Denn es gibt in der Tat viele junge Frauen und jede von ihnen ist so schön wie eine frische Pfirsichblüte. Man sieht sie häufig zu dritt oder zu fünft nebeneinander in einer Reihe in der Gasse schlendern. Immerzu lachen sie, wenn es auch nur um versalzendes Essen oder fehlenden Essig geht. Nachdem wir hierher gezogen sind, kommen sie immer zu uns. Manche helfen meiner Frau, Papierschnitte für die Fensterscheibe zuzuschneiden, manche färben meiner Tochter die Fingernägel. Hier gedeihen keine anderen Blumen als die, mit der die Frauen sich die Fingernägel rot färben. Verschiedene Bäume gibt es hier, die meisten davon sind Sauerschotenbäume. Von Ost bis West gibt es in der Gasse siebzehn, die drei Armumfänge haben, waschschüsseldicke gibt es in jeder Familie. Alle Bäume haben faltenreiche Rinde. Manche sehen so aus, als ob sie Seile um sich gewickelt hätten, manche tragen tiefe Furchen, manche anderen machen in der Luft ein paar Biegungen und die Wurzel wird aus der Erde herausgedrückt. Wenn die Sauerschotenbäume blühen und alles mit einem zarten Weiß bedecken, kocht jede Familie Dampfspeisen mit Blüten der Sauerschotenbäume. Meiner Familie gehört kein Sauerschotenbaum. Aber wenn wir Essen mit Blüten der Sauerschotenbäume machen wollen, dürfen wir von jedem Baum Blüten pflücken. Ich kann keinen Baum mein eigen nennen, der drei oder vier Sperlings-Nester beherberge, aber drei Schwalbennester haben wir wunderbarerweise auf dem Tragbalken unserer Hütte. Sobald es im Frühling wärmer wird, kommen die Schwalben an und verlassen uns erst, wenn der Winter sich bedrohlich naht. Weder Mist noch Federn lassen sie in der Hütte auf den Boden fallen. Seitdem sie bei uns eingezogen sind, leiden wir nicht mehr unter Mückenstichen. Das Wunderbarste ist der Brunnen in der Gasse. Das Wasser ist süß, schmeckt kalt besser als abgekocht. Das Wasser wird aus dem Brunnen in einen Teich gepumpt, wellt dann langsam durch die Gasse aus dem Dorf hinaus und verbreitet dadurch die erfrischende Kühle durch das ganze Dorf.

Die Bewohner lieben Sauberkeit. Jeden Tag wird gewaschen. Über der Gasse, das heißt, von Hüttenspitze zu Hüttenspitze, sind Drähte aufgespannt, auf denen bunte Kleidungen und Stoffe hängen. Die Buntesten und die Kleinsten davon sind die unsrigen: Die Bunten sind Kleider meiner Frau und die Kleinen sind Röcke meiner Tochter. Ebenfalls aus diesem Brunnen kommt das Trinkwasser, das man täglich mit der Tragstange herbeischaffen muß. Doch lieber tragen wir hier täglich das Wasser heim als in der Stadt den Hahn der Wasserleitung aufzudrehen. Nach einem halben Jahr wurde das Haar von meiner Frau und meiner Tochter schwärzer und ihre Haut heller. Auch ich habe dadurch einen klaren Kopf bekommen und habe jetzt ein besseres Verständnis beim Lesen und mehr Inspirationen beim Schreiben. Früher waren wir neidisch auf Leute, die in den Städten in Hochhäusern wohnen. Jetzt finden wir es gar nicht nötig, neidisch zu sein. Die Häuser in den Städten sind so hoch, daß man sich wie Vögel im hängenden Nest vorkommt. Nach oben berührt man nicht den Himmel und nach unten tritt man nicht auf festen Boden. Man nimmt einige Hände voll Erde und pflanzt ein paar Blumen an, dann fühlt man sich schon von schöner Natur umgeben.

Wer denkt noch daran, daß die Bauern doch den Vorzug der Bauernexistenz haben! Nun bin ich kein Bauer, doch einen Hofgarten habe ich. In meiner Freizeit bearbeite ich den Boden, um Gemüse und Kräuter anzubauen. Nach der Ernte wird das Frische gegessen und das Verdorbene bekommen die Hühner. Von den Hühnern gibt es verschiedene Rassen wie Laihang, Huabao, Fanmao und Geda, jeden Tag legen sie drei bis fünf Eier. Bei meiner nächtlichen Lektüre krabbeln oft Schmetterlinge durch die Fensterrisse, farbenprächtig und so groß wie die Hände meiner Tochter. Die ganze Familie liebt sie und niemand möchte ihnen das Leben nehmen, so werden sie gefangen und draußen wieder freigelassen. Unter der Treppe singen nächtelang die Grillen. Stampft man einmal mit den Fuß auf den Boden, werden sie still, um nach einer kleinen Unterbrechung weiterzusingen. Ich denke dann, wenn wir einen Sohn hätten und er Lust auf Grillenkampf hätte, bräuchte er keine teueren Grillen vom Grillenmarkt zu kaufen.

Der Sauerschotenbaum vor dem Tor wächst nur in die Breite, hat eine Krone wie eine Halbkugel, als ob er so geschnitten worden wäre. Den ganzen Tag sieht man keinen Vogel fliegen, aber man hört ununterbrochen Vogelgesänge. Besonders in den frühen Morgenstunden hören sie sich so an, als ob sie Melodien der Glücksseligen wären, die vom Himmel herunter schwebten. Unter dem Baum sind ein Dutzend Steinwalzen, die durcheinander liegen und stehen. Früher wurden sie zum Dreschen benutzt. Heutzutage gibt es Dreschmaschinen. Die Steinwalzen sind hierher zusammengesammelt und dienen als Sitzgelegenheit. Jeden Tag sitzen hier eine Menge Menschen, die über die Politik aus Peking aber auch über die Näharbeiten der Frauen plaudern. Sie haben solche Lust daran, daß sie oft vergessen, nach Hause zu gehen. Erst zu Mitternacht werden sie nach Hause gerufen. Diejenigen, die zu Hause gleich in tiefen Schlaf fallen, sind die Dorfbewohner. Derjenige, der ins Haus kommt und Licht anmacht, um ein paar Zeilen niederzuschreiben, der bin ich.

Immer öfter werde ich um Hilfe gebeten. Anfangs waren es Leute, für die ich Briefe schreiben sollte. Dadurch habe ich die Situation jeder Familie kennengelernt. Welche Familie wieviel Hühner hat und welche wieviel Gänse, sogar wer welchen Kosenamen hat, das weiß ich nun alles. Später kamen auch Leute, die ihre Kinder zum Nachhilfeunterricht zu mir brachten. Wenn die Aufnahmeprüfung für die Universität oder  Fachhochschule bevorsteht, kommen die Leute häufiger. Jeder bringt eine Torte oder Wein als Geschenk mit. Die Schüler nehme ich auf, die Geschenke aber lasse ich zurückbringen. Die Kinder werden immer mehr. Ich bilde sie zu einer Gruppe und gebe ihnen dann im Hof Unterricht im Aufsatzschreiben. Diese Szene gefällt den Dorfbewohnern sehr und sie schätzen mich noch mehr. Wenn Unterricht ist, sitzen vor dem Hoftor immer die Erwachsenen. Wenn die Kinder nicht mehr ruhig bleiben können, kommen sie herein, um sie auszuschimpfen oder gar zu prügeln. Und siehe, in zwei Jahren sind tatsächlich fünf Kinder von Universitäten und zehn von Fachhochschulen aufgenommen worden.

Wenn es zu trocken wird, machen sich die Dorfbewohner Sorgen. Ich mache mir mit ihnen Sorgen. Eine schwarze Wolke schwebt herüber, fliegt aber wieder weg. Dann fange ich an, Himmel und Erde zu verwünschen und schrecke nicht einmal davor zurück, selbst die vulgärsten Schimpfwörter in den Mund zu nehmen. Wenn es dann endlich regnet, rennen die Dorfbewohner vor Freude in den Regen hinein. Ich renne ebenfalls in den Regen hinein. Zweimal bin ich gestürzt und verlor dadurch einen Schneidezahn. Wenn die Ernte eingebracht wird, stehen in der Gasse überall gebündelte Maisstengel, und die Reisigbündel verstopfen die Gasse noch mehr. Wenn ich mit dem Fahrrad heimkehre, kann ich ihnen oft nicht schnell genug ausweichen. Dann fällt das Fahrrad in den Reisig hinein und ich bekomme einen Schreck. Weh tut es aber nicht. Am besten schmeckt der neue Mais. Die Kolben kann man kochen oder grillen. Kocht man mit den Körnern eine Suppe, sind die Körner so prall wie Kastanien und auf der Suppe schwimmen Fettaugen. In der Stadt schmecken die Maisprodukte nicht. Aber hier kann man mit frischem Maismehl Gnoccis und Klöße machen. Sie sind so appetitanregend, daß man nicht genug davon essen kann.

Meine kleine Tochter konnte sich erst umdrehen, als wir hierherzogen. Jetzt rennt sie wie ein Wirbelwind. Sie plappert und wackelt so süß, daß sie das Lieblingsspielzeug der Dorfleute geworden ist. Von jedem wird sie getragen und in allen Familien hat sie schon gegessen. Am beliebtesten ist meine Frau. Egal, was für Angelegenheit sie erledigt, sie wird nur gelobt. Schließlich ist es dazu gekommen, daß sie, wenn es im Dorf eine Hochzeits- oder Trauerfeier gibt, unbedingt vorher zu Rate gezogen wird. Eine richtige Dorfpersönlichkeit ist sie geworden. Ich bin aber der einfältigste Mensch der Welt und mag nur still sitzen, still denken und still schreiben. Die Dorfbewohner kennen mein Wesen. So kommen sie zu mir, wenn es Neuigkeiten gibt, um sie mir zu erzählen. Dann lassen sie mich wieder in Ruhe, damit ich die Neuigkeit aufschreiben kann. Danach werde ich überredet, ihnen den Text vorzulesen. Hingebungsvoll lese ich vor, bis zur Selbstvergessenheit. Hingebungsvoll hören die Dorfleute zu, bis sie vergessen, nach Hause zu gehen. Wenn ich sehe, wie einfühlsam sie zuhören, vergesse ich alles andere und fordere sie auf, sich in den Baumschatten im Mondschein hinzusetzen und lade sie zu einem wässerigen Schnaps ein. Trunken und betrunken schlafen sie ein und wachen lange nicht auf. Dann hat der Wind aufgehört zu wehen und der Mond ist unter gegangen. Im Dunkel funkeln die Tautropfen und zu hören sind nur die Grillen. So nenne ich unser Dorf das Dorf der Stille. Im achten Monat des Jahres des Hahnes habe ich diesen Text in diesem Dorf für dieses Dorf geschrieben. Von ihm schreibe ich zwei Exemplare. Das eine steht vor der von mir verfaßten Dorfchronik und dient als Vorwort, das andere füge ich meinem Prosaband bei. Das ist dann das Nachwort. Im Jahr 1982.

chinesische Ersatzpylone

Jia Zhipings Lieblingsautor ist eigentlich nicht Jia Pingwa, sondern der inzwischen verstorbene Schriftsteller Wang Xiaobo. Hier ein Text von ihm, in dem er ebenfalls die Kulturrevolution thematisiert:

Wang Xiaobo – „Ein Schwein, das seine eigenen Wege ging“:

Als aufs Land geschickter jugendlicher Intellektueller hatte ich Schweine gezüchtet und Büffel auf die Weide getrieben. Ohne menschliche Aufsicht hätten diese Tiere durchaus gewußt, wie sie zu leben hätten. Sie hätten sich frei und sorgenlos herumgetrieben, bei Hunger und Durst gegessen bzw. getrunken und sich im Frühling gepaart. Auf diese Art hätten sie ein niveauloses Leben geführt, von dem nichts Gutes zu berichten wäre. Doch der Mensch kam dazu und hat ihr Leben durchorganisiert, dadurch bekam jeder Büffel und jedes Schwein einen Lebensinhalt. Nur, für die meisten von ihnen war dieser Lebensinhalt tragisch: Der Lebensinhalt des Büffels war Arbeit und der des Schweins war, Fleisch anzusetzen. Ich sah darin nichts Beklagenswertes, denn mein damaliges Leben war nicht viel inhaltsreicher. Außer den acht sogenannten Muster-Opern gab es keine andere Unterhaltung. Nur ganz wenige Schweine und Büffel hatten einen anderen Lebensinhalt. Von den Schweinen zum Beispiel hatten die Zuchteber und Säue neben dem Fressen noch eine andere Aufgabe. Nach meiner Beobachtung mochten sie diese andere Aufgabe jedoch nicht besonders. Die Aufgabe der Zuchteber war es ja, die Sauen zu decken. Anders gesagt, unsere Politik erlaubte ihnen, Playboys zu sein. Doch die ermüdeten Zuchteber benahmen sich häufig so anständig und edel wie die Fleischschweine (diese waren kastriert), und wollten auf keinen Fall auf den Rücken der Sau springen.

Aufgabe der Sauen war es, Ferkel zu werfen, doch manche Säue fraßen ihre eigenen Kinder auf. Insgesamt mußte man sagen, die von den Menschen aufgezwungenen Aufgaben ließen die Schweine unendlich leiden. Aber sie nahmen diese Aufgaben an: Schweine waren schließlich nur Schweine.  Es ist eine menschliche Eigenschaft, das Leben mit verschiedenen Zielen und Aufgaben zu versehen, nicht nur das Leben von Tieren, sondern auch das eigene Leben. Wir wissen, in der griechischen Antike gab es das Land Sparta. Das Leben dort wurde so organisiert, daß es nicht mehr lustig war. Die Männer hatten Kämpfer zu sein, die ihr Leben zu opfern bereit waren und die Frauen hatten Gebärmaschinen zu sein. Die ersteren waren damit wie Kampfhähne und die letzteren wie die Sauen. Beide, Kampfhähne und Sauen, sind besondere Tiere. Aber ich denke, sie mögen ihr Leben bestimmt nicht. Doch was können sie tun, wenn sie ihr Leben nicht mögen? Keiner kann sein Schicksal verändern, weder der Mensch noch das Tier.  Das Schwein, von dem ich jetzt erzählen möchte, war jedoch ganz anders als alle anderen. Als ich mich um die Schweine kümmerte, war dieses Schwein schon vier oder fünf Jahre alt. Es war als Fleischschwein vorgesehen, war aber trocken und dürr gewachsen, dazu hatte es glänzende Augen. Es war so geschickt wie ein Steinbock – und sprang z.B. mit einem Satz über den Zaun des Schweinstalls hinweg, der höher als ein Meter war. Es konnte sogar auf das Dach des Stalls springen, in dieser Hinsicht war es wie eine Katze. Deshalb trieb es sich überall herum und blieb nie im Stall. Es war das Lieblingstier aller aufs Land verschickten jugendlichen Intellektuellen, die sich um die Schweine gekümmert hatten, es war auch mein Lieblingstier.

Denn es war nur zu uns jugendlichen Intellektuellen gut und duldete es, daß wir uns ihm bis auf drei Meter näherten. Wenn andere Leute sich ihm zu nähern versuchten, rannte es sofort weg. Es war männlich und hätte kastriert werden sollen. Doch wehe dem, der sich mit solchen Absichten an ihn heranwagte. Selbst wenn man das Kastriermesser hinter dem Rücken hielt, konnte es das Werkzeug riechen. Dann riß es die Augen groß auf und fing laut an zu schreien. Den Brei aus fein gemahlten Hirseschalen gab ich immer zuerst ihm zu fressen. Erst wenn es genug gegessen hatte, mischte ich den restlichen Brei mit wilden Kräutern und gab ihn den anderen Schweinen. Alle Schweine waren eifersüchtig und schrieen. Während es fraß, war der ganze Stall erfüllt von  wütendem Geheul und Geschrei der anderen Schweine. Das machte aber weder mir noch ihm etwas aus. Wenn es satt gegessen hatte, sprang es auf das Dach, um sich zu sonnen oder verschiedene Geräusche machen zu lernen. Es hatte gelernt, Geräusche von Lastwagen und Traktoren zu machen und sie klangen sehr echt. Manchmal war den ganzen Tag von ihm keine Spur zu sehen. Dann machte es bestimmt, so vermutete ich, in den nahliegenden Dörfern einen Besuch bei seinen Schweinedamen. In unserem Stall gab es natürlich auch Sauen. Doch diese waren ständig im Stall eingesperrt und von zu vielen  Geburten verunstaltet, so daß sie häßlich, dreckig und stinkig waren. Es hatte kein Interesse für diese Sauen. Die Sauen in den herumliegenden Dörfern sahen besser aus.

Es verübte viele lustige Heldentaten. Aber ich habe mich nur kurze Zeit um die Schweine gekümmert und deswegen nur einige wenige dieser Heldentaten selbst miterlebt – deshalb lasse ich hier seine Heldentaten ganz weg. Kurz gesagt, alle jugendlichen Intellektuellen, die sich um die Schweine gekümmert hatten, mochten dieses Schwein, weil es sich nichts vorschreiben ließ und stattdessen ein freies und unabhängiges Leben führte. Die Dorfbewohner  hatten aber keinen Sinn für Romantik. Sie sagten, dieses Schwein sei unanständig. Unsere Leiter haßten es geradezu – davon werde ich noch erzählen. Das Schwein mochte ich nicht nur, ich hatte sogar großen Respekt vor ihm. Ungeachtet der Tatsache, daß ich viel älter war als es, nannte ich es „mein Schweinebruder“. Wie gesagt, der Schweinebruder lernte verschiedene Geräusche machen. Ich bin sicher, er hat auch versucht, wie Menschen zu sprechen, hatte aber keinen Erfolg damit gehabt. Wenn ihm das gelungen wäre, hätten wir uns wunderbar unterhalten können. Aber das war nicht seine Schuld. Die Stimme eines Menschen ist doch zu sehr anders als die eines Schweins.  Irgendwann hatte der Schweinebruder gelernt, das Sirenengeheul nach zu machen und dieses Kunststück brachte ihn richtig in Schwierigkeiten. In unserer Nähe befand sich eine Zuckerfabrik. Jeden Mittag heulte dort die Sirene, es war das Signal für den Schichtwechsel. Wenn wir auf dem Feld arbeiteten, machten wir beim Sirenenheulen Schluß und gingen heim. Mein Schweinebruder sprang aber immer schon um zehn Uhr aufs Dach und heulte wie  die Sirene. Die Leute auf dem Feld hörten es und gingen heim, anderthalb Stunden bevor die Sirene der Zuckerfabrik losging.

Offen gesagt war der Schweinebruder nicht allein schuld daran. Schließlich war der Schweinbruder kein Dampfkessel und sein Geheul war doch etwas anders als die von Dampf betriebene Sirene. Die Bauern behaupteten aber felsenfest, sie könnten beide nicht unterscheiden. Unsere Leiter veranstalteten speziell deswegen eine Krisensitzung und stempelten meinen Schweinebruder zum bösen Element, das die Frühlingsarbeit sabotiere. Sie beschlossen, die Mittel der proletarischen Diktatur gegen ihn anzuwenden. Ich erfuhr von dem Beschluß dieser Sitzung, machte mir aber keine großen Sorgen. Wenn die Mittel der proletarischen Diktatur in diesem Fall Fessel und Schlachtmesser bedeuten sollten, dann würden sie nichts bewirken. Die Vorgänger der Leiter hatten es mit diesen Mitteln bereits versucht. Der Einsatz von einhundert Leuten hatte nichts gebracht. Auch Hunde konnten ihm nichts anhaben. Wenn der Schweinebruder losrannte, war er wie ein Torpedo und konnte einen Hund fünf Meter weit wegschleudern. Diesmal meinten die Leiter es aber ernst. Der Kommissar führte mit einer Armeepistole etwa zwanzig Leute an, sein Stellvertreter führte ein Dutzend Leute mit Flinten, beide Gruppen veranstalteten auf dem leeren Gelände vor dem Schweinstall eine Treibjagd. Das brachte mich in große Verlegenheit. Weil ich mit Schweinebruder befreundet war, hätte ich eigentlich zwei Schlachtmesser schwingend hinausstürzen und an seiner Seite kämpfen müssen. Da wäre ich wirklich in Schwierigkeiten geraten, aber letztendlich war der Schweinebruder ja nur ein Schwein.

Ein anderer Grund war, ich hatte keinen Mut, meinen Vorgesetzten gegenüber  Widerstand zu leisten – ich denke, das war der eigentliche Grund, warum ich es nicht gemacht habe. Wie auch immer, ich stand nur abseits und beobachtete die ganze Szene. Die Gelassenheit des Schweinebruders nötigte mir größten Respekt ab: Er lief ganz ruhig auf einer Linie zwischen Pistolen und Flinten hin und her und verließ die Linie nicht, einerlei, ob wie laut die Menschen schrieen oder die Hunde bellten. Derart hätten die Pistolen, wenn sie abgefeuert wären, die Flintenträger treffen können, und um gekehrt die Flinten die Pistolenhelden. Wenn beide gleichzeitig gefeuert hätten, wären auf beiden Seiten  Leute angeschossen oder getötet worden. Der Schweinebruder  selbst bot ein so kleines Ziel, daß die Schießerei ihm wahrscheinlich nicht einmal eine ernsthafte Verletzung zugefügt hätte. Nachdem er  ein paar Mal auf der Linie hin und her gelaufen war, fand er endlich eine Lücke in und stürmte aus der Einkesselung hinaus. Wie elegant er doch rannte!  Später traf ich ihn noch einmal im Zuckerrohrfeld. Ihm waren die Hauer herausgewachsen, aber er kannte mich noch, nur erlaubte er mir nicht mehr, nahe an ihn heranzutreten. Diese Abweisung machte mich traurig, doch ich mußte ich ihm recht geben, daß er zu den unberechenbaren Menschen eine gewisse Distanz bewahrte.

Nun habe ich vierzig Jahre gelebt. Außer dem Schweinebruder habe ich in meinem Leben noch kein anderes Wesen getroffen, das wie er es gewagt hätte, dem für ihn vorgesehenen Leben die Stirn zu bieten. Ganz im Gegenteil, ich habe viele Menschen getroffen, die das Leben anderer zu beeinflussen  versuchen und Menschen, die ein von anderen vorgegebenes Leben führen und damit glücklich sind. Aus diesem Grund kann ich dieses Schwein, das seine eigenen Wege ging, nicht vergessen.

Runde Chinarestaurantpoller (bei Berlin)

Aus Wang Xiaobo: „Meine geistige Heimat“, Beijing 1998.  Wang Xiaobo, 1952 in Beijing geboren, ab 1978 Studium an der Volksuniversität Beijing, 1984 bis 1988 Studium an der Universität Pittsburg, USA, danach Dozent an der Universität Beijing und der Volksuniversität, gestorben 1997 in Beijing. Hauptwerke: „Trilogie der Zeit“ (Roman), „Östlicher und westlicher Palast“ (Filmdrehbuch). Der vorliegende Text wurde 2004 von Jia Zhiping ins Deutsche übersetzt. Im Folgenden vier Texte von Jia Zhiping selbst:

Jia Zhiping – „Ein Bauer, der Großer Meister genannt wurde“:

Es war einmal ein alter Bauer, er lebte in einem nordchinesischen Dorf. Man nannte ihn ehrfürchtig Da Xiansheng – Großer Meister.  Dieser große Meister war keine Märchenfigur, sondern mein Urgroßvater. Ich hatte nicht das Glück, ihn noch persönlich zu kennen.  Doch von meiner frühesten Kindheit an spürte ich seinen mächtigen Schatten, der sich nicht nur auf meine eigene Familie, sondern auch auf das Dorf erstreckte. Wenn es in der Familie zum Streit kam oder mein Großvater seinen Alkoholrausch austobte – sowohl das eine wie  auch das andere war keine Seltenheit – hörte ich meine Mutter seufzen: „Wenn der Opa bloß noch lebte!“ Auch hörte ich andere Dorfleute zu jeder Gelegenheit sagen: „Was hätte wohl der große Meister dazu gesagt!“  Als mir klar wurde, daß Mamas Opa und der große Meister der Dorfleute ein und derselbe war, fragte ich mich: Was für ein Mensch war er, mein Urgroßvater, daß man ihm solche Ehrfurcht entgegenbrachte? Als kleines Kind sah ich einmal eine vergilbte Fotografie auf der Wand im Zimmer meiner Großeltern und man sagte mir: „Das ist mein Großvater und dein Urgroßvater.“ Das Foto zeigte einen freundlich lächelnden alten Mann, mit einem halbkugeligen Käppi auf dem Haupt und einer dünnen Strähne Barthaar am Kinn, das Gesicht war schmal und die Augen glänzend. Als ich schon längst nicht mehr im Dorf lebte, bat ich meinen Vater, mir über ihn etwas zu erzählen.

Mein Urgroßvater, war ein einfacher Bauer, gebildet zwar, hatte aber keine Prüfung für Beamtenanwärter abgelegt. Und er war weder reich noch mächtig. Die Familie besaß zwar eines der zwei Prachtanwesen des Dorfes – ein von vier Seiten bebauter Hof, auf dem Haupthaus gab es ein Obergeschoß, das allerdings nur als Lagerraum diente und nicht bewohnt wurde. Der Hof war zu seiner Zeit schon recht heruntergekommen. Ein Stückchen Ackerland bildete die Existenzgrundlage der ganzen Familie, doch die Ernte reichte kaum für den Eigenbedarf. Es war keine Seltenheit, daß der Weizen im Frühjahr noch vor der Erntezeit teilweise abgeschnitten wurde, damit die Familie zu essen hatte. Sonst mußte mein Urgroßvater   etwas von einem seiner Cousins ausleihen, der bei der Ausleihe ein kleines Maß und bei der Einnahme ein großes benutzte. Enge Beziehung zu den Lokalgrößen pflegte er auch nicht, im Gegenteil, er war ihnen eher unangenehm. Sein hohes Ansehen verdankte sich einzig und allein seiner Persönlichkeit und seinem Engagement für die Schulausbildung der Dorfkinder.  Zu seiner Zeit gab es in der Gegend keine öffentliche Schule. Damit die Dorfkinder ein Minimum an Schulbildung bekommen konnten, ließ er das Obergeschoß des Haupthauses räumen und darin die erste Dorfschule einrichten. Auch den Lehrer suchte er persönlich aus. Damit war er aber noch nicht zufrieden. Er setzte es sich in den Kopf, eine ordentliche Dorfschule zu bauen. Jahrelang kämpfte er gegen allen Zweifel und Spott und sammelte Spenden. Schließlich setzte er sich durch und verwirklichte seinen Lebenstraum: Eine kleine aber feine Dorfschule wurde errichtet, mit zwei geräumigen Klassenzimmern, einem Lehrerzimmer und einer Küche für den Lehrer. Das ganze Dorf war am Aufbau der Schule beteiligt. Auch der schwarze Esel der Familie wurde eingesetzt. Beim Transport von Bausteinen wurde ihm aber ein Bein zerschmettert. Meine Urgroßmutter soll sich noch jahrelang über den Verlust des einzigen Arbeitstiers der Familie beklagt haben.

Durch die Schule gewann das Dorf großes Ansehen. Schließlich kamen nicht nur Kinder vom eigenen Dorf in die Schule, sondern auch von fünf umliegenden. Die Schule blieb trotz mehrfachen Systemwechsels. Auch ich selber wurde Anfang der 70er Jahre noch dort eingeschult. In jener Zeit wurde die Schule ausgebaut. Als man die Mittelschule einführte, kamen einige Klassenzimmer und ein großer Schulhof hinzu.  Wo mein Urgroßvater  sich so sehr um die Schulbildung der Kinder in der ganzen Gegend kümmerte, lag ihm die Schulbildung der eigenen Enkelkinder natürlich auch sehr am Herzen, besonders aber die seines ältesten Enkelsohns, der später mein Vater wurde. In den Fünfzigerjahren gab es in der Gegend noch keine Mittelschule. Als mein Vater in der 60 km entfernten Stadt Yangquan die Aufnahmeprüfung für die Mittelschule bestand, war mein Urgroßvater über alle Maßen erfreut. Er führte ihn voller Stolz in die Kreisstadt, ließ ihm eine moderne Schülerfrisur mit Seitenscheitel und eine Schuluniform machen und kaufte ihm Pinsel und Tusche der Marke Daiyuexuan, die seiner Meinung nach die beste Qualität hatte. Denn, so sagte er, die Aufnahme in eine Mittelschule sei gleichwertig wie der Xiucai-Titel in der Kaiserzeit und das müsse gebührend gefeiert werden. Während der Mittelschulzeit wurde mein Vater aber ernsthaft krank. Im Sterben liegend sagte mein Urgroßvater  noch meinem Großvater, das Kind sei sehr begabt und solle so lange lernen und studieren, wie es wolle.

Sein letzter Wunsch ging jedoch nicht in Erfühlung. Kurz nach seinem Tod nahm mein Großvater ihn von der Schule und zwang ihn, sich eine Arbeit im nahliegenden Kohlebergbau zu suchen. Erst als ich Anfang der 80er Jahre zum Studium nach Peking ging, erzählte mein Vater mir diese Geschichte und gab mir dann mit auf den Weg: „Ich durfte nicht so lange lernen wie ich wollte. Aber du kannst jetzt deinem Urgroßvater den letzten Wunsch erfüllen: Du kannst so lange studieren, wie du Lust dazu hast.  Das größte Ansehen brachte mein Urgroßvater sich und seinem Dorf aber durch seine ehrenamtliche Tätigkeit als Schlichter und Fürsprecher. In China hatte man seit alters her Scheu, vor Behörden zu prozessieren. Kam es zum Streit, wurde ein von beiden Seiten anerkannter Schlichter eingeschaltet und der Streit wurde durch private Vereinbarungen beigelegt. Sollte es aber doch zum Prozeß kommen, suchte man sich einen Fürsprecher, der lesen und schreiben konnte und einen vor der Behörde vertrat. Den Beruf Rechtsanwalt gab es damals noch nicht. Dank seines scharfen Urteilsvermögens und seiner Schonungslosigkeit war mein Urgroßvater  ebenso hoch angesehen wie gefürchtet, denn seine Einstellung erstreckte sich auch auf seine eigenen Enkelkinder. Als er merkte, daß sein zweites Enkelkind, der erste von den vier jüngeren Brüdern meines Vaters, für die Schule nichts taugte, machte er von dem alten konfuzianischen Prinzip, einem jeden  seiner Anlage entsprechend die richtige Erziehung angedeihen zu lassen, Gebrauch und nahm ihn gegen den Widerstand meiner Großmutter von der Schule. Er machte ihn dafür zum tüchtigsten Bauern im Dorf.

Wenn er etwas als rechtens erkannt hatte, akzeptierte er als Fürsprecher der kleinen Leute selbst vor dem Kreisrichter keinen faulen Kompromiß, auch wenn dieser vom Kreisrichter höchstpersönlich befohlen worden war. So wurde in meiner Kindheit noch gerne erzählt, wie er wortreich gegen den Kreisrichter ins Feld zog und wie dieser schließlich nachgeben mußte. In der Zeit, in der die Autorität des Kreisrichters unantastbar zu sein schien, war es keinesfalls Selbstverständlichkeit, Urteile von ihm zu erzwingen.  In meiner Kindheit gab es ein Ratespiel: Der eine faßte die markanteste Eigenschaft eines Dorfes zusammen, ein anderer sollte erraten, welches Dorf gemeint war. Die Eigenschaft meines Dorfes lautete: Zu Prozessen geht man nicht in die Kreisstadt. Schon damals wurde mir von allen erzählt, daß das Dorf diese Beschreibung meinem Urgroßvater zu verdanken habe. Denn er übernahm nicht nur für die Leute des eigenen Dorfes die Rolle des Schlichters und Fürsprechers, sondern auch für die Leute von anderen Dörfern. Wenn es zum Streit kam, zogen die Leute lieber ihn als Schlichter hinzu, als in der Kreisstadt zu prozessieren. Dann wollte natürlich jede Partei ihn für sich gewinnen, indem sie versuchte, ihn zu bestechen. Die Bestechung nahm er immer dankbar an – das war in der Regel eine üppige Bauernmahlzeit, bestehend aus Gemüse- und Getreideeintopf und gedämpften Maismehlfladen. Das war das einzige, dem er nicht widerstehen konnte.

Sein Urteilsvermögen ließ er sich dadurch aber nicht trüben. Eines Tages kam es schließlich dazu, daß Bewohner der Gegend, die sich ihm zum Dank verpflichtet fühlten, eine Ehrentafel mit der Aufschrift „gerecht und unbestechlich“ mit einem Trommel- und Gong-Orchester ins Dorf brachten und sie unter das Dach des Hoftors anbrachten.  Auch nach der Machtübernahme der Kommunisten im Jahr 1949 nahm er die Tafel nicht ab. Erst nach seinem Tod verschwand die Tafel eines Nachts zu Beginn der Kulturrevolution. Vermutlich hing mein Großvater die Tafel ab und verbrannte sie. Urgroßvaters Leben brachte dem Dorf und der Familie aber nicht nur Ruhm. Unter seinem mächtigen Schatten, der sich schon zu seinen Lebzeiten ausbreitete, hatten viele Leute zu leiden, allen voran mein Großvater und damit meine ganze Familie. Lebenslang versuchte mein Großvater, es seinem Vater gleichzutun. Auch er ließ sich als Schlichter in Streitfälle einschalten. Doch weder im Urteilsvermögen noch in der Überzeugungskraft konnte er seinem Vater das Wasser reichen. Die Versuche, aus dessen Schatten  herauszutreten, führten schließlich bei ihm zum Alkoholismus. Doch selbst im Alkoholrausch fühlte er sich ohnmächtig und ließ seine Wut und Enttäuschung an meinem Vater, dem Lieblingsenkel seines Vaters, aus, bis er ihn, seinen eigenen und ältesten Sohn, samt Frau und Kinder buchstäblich über Nacht aus dem Haus jagte.

Auch ich, der ich ihn nicht gekannt hatte, stand noch lange in seinem Schatten. Einerseits litt ich genau so unter der Tyrannei meines Großvaters – so wagte ich z.B. in dem großen Hof niemals laut zu werden, um nicht seinen Zorn zu erregen. Andererseits wollte mein Vater durch mich seinen zerplatzten Bildungstraum verwirklichen.  Unter dem sanften aber konsequenten Druck meines Vaters verbrachte ich die Kindheit und die Schulzeit fast ausschließlich mit Lernen. Auch aus der Sicht der Dorfleute war ich dazu verdammt, immer der beste Schüler zu sein: Er ist ja der Urenkel des großen Meisters. Als ich mit 17 von der elitären Peking Universität aufgenommen wurde, hieß es in der Gegend: Wer sonst hätte solche Leistung vollbringen können, wenn nicht der Urenkel des großen Meisters? Merkwürdigerweise fühlte ich mich in dieser Rolle wohl. Ich war stolz darauf, es verdient zu haben, sein Urenkel zu sein. Erst als ich nach dem Tod meines Großvaters innerlich mit ihm Frieden schloß, indem ich verstand, warum er so geworden war wie er war, sah ich mich selber im Schatten meines Urgroßvaters: Die Kombination von kleinlaut und Lernwut machten mich zu dem, was ich bin, nämlich einem ewig Lernenden mit unsicherem Auftreten.

Jia Zhiping – „Der Pinselgast im Garten der Wildnis“:

Der Mensch, der sich Pinselgast im Garten der Wildnis nennt, stammt aus der nordchinesischen Provinz Hebei. Seine Vorfahren waren Bauern und Dorflehrer. In seiner Kindheit bekam er Unterricht von seinem Vater und versteht deshalb einiges von der chinesischen Sprache. Mit siebzehn setzte er sich in den Kopf, die Germanistik zu knacken. Aber erst nach mehr als zehn Jahren gelang es ihm, deutsch zu lesen und zu schreiben.  In seiner Kindheit zeigte er einen gewissen literarischen Ehrgeiz. Einmal ließ er sich auf einem Dorffest derart kritisch über das dargebotene Theaterstück aus, daß die alten Theaterliebhaber sich über ihn wunderten. Später nahm er an der staatlichen Aufnahmeprüfung für Hochschulen teil und wurde Bester seiner Provinz. Nach dem Studium bekam er eine Stelle als Journalist und wurde dann als Auslandskorrespondent nach Ost-Berlin geschickt.

Dort angekommen glaubte er schon bald das nahe Ende der DDR zu sehen und sagte die Wiedervereinigung Deutschlands voraus. Damit zog er ernsthafte Kritik und den Tadel seines Vorgesetzten auf sich. Als es 1989 in Peking zum Massaker kam, erboste er sich über die Grausamkeit der Kommunisten. Betroffen von dem großen Unglück Chinas flüchtete er nach West-Berlin und bekam politisches Asyl.  Einige Jahre lang war er arbeitslos. Diese Zeit nutzte er zum Studium der alten chinesischen Philosophen und der westeuropäischen Kultur. Erst allmählich  begriff er, wie groß die Welt ist und wie tiefgründig die chinesische Philosophie. Seitdem versucht er, so viel wie möglich zu lesen, und wird nie müde, eigene Notizen zu machen. Doch bemüht er sich beim Lesen nie um ein tieferes Verständnis. So weiß man nicht, ob er tatsächlich etwas daraus gelernt hat. Manchmal übt er auch „stilles Sitzen“ und das geheimnisvolle Zen. Ob er dabei irgendeine Erleuchtung bekommen hat, ist ebenfalls unbekannt.

Er ist nicht sehr gesprächig, lacht selten, hat keine besonderen Vorlieben, außer daß er viel raucht und starken Tee trinkt. Geschäftstüchtig ist er auch nicht. Wenn er satt zu essen hat und sich warm ankleiden kann, ist er schon zufrieden. Bekommt er Besuch, bietet er nichts Alkoholisches an, sondern nur einfachen Reis und Gemüse, nichts Anderes als das, was er sonst zu sich nimmt. Wenn der Besuch übers Geschäftemachen philosophiert, schenkt er ihm neuen Tee ein, bedauert, daß er nichts von Geschäften verstehe und wechselt das Thema. Er mag Poesie, kann aber selbst nicht dichten. Manchmal überkommen ihn die literarischen Träumereien aus seiner Kindheit, dann verfaßt er auch Texte für sich selbst, manchmal auf deutsch, manchmal auf chinesisch. Er schreibt einfach und legt keinen großen Wert auf Ordentlichkeit. Wenn ihm ein Gespräch mit Gleichgesinnten behagt, liest er auch den  einen oder anderen Text, um sich und seine Freunde zu amüsieren.

Oft bewundert er den Herrn der fünf Weidenbäume, und bedauert deshalb zutiefst, daß er nicht viel Schnaps verträgt. Er liest viel von Laozi  und Zhuangzi. Als er eines Tages über die nichtsnutzigen Bäume von Zhuangzi las, war er so begeistert, als ob er etwas begriffen hätte. Seitdem nennt er sich einen Taugenichts und fügt noch den Namen seines Wohngebiets – Prenzlauer Berg – hinzu. So kommt es vor, daß man ihn fragt, ob er ein daoistischer Mönch sei. Dann lächelt er sichtlich vergnügt und sagt: „Bloß ein Spiel!“   Im Sommer des Jahres Bingzi (1996) saß der Taugenichts vom Prenzlauer Berg wieder im Garten der Wildnis. Ein Freund besuchte ihn dort und forderte ihn spaßeshalber zum Schnapstrinken auf. Er trank mit. Doch der erste Becher war noch nicht leer, da war er schon betrunken – und schrieb diesen Text.

Jia Zhiping – „Der Garten der Wildnis“:

In Berlin kennen wir ein Paar, das wir, meine Frau und ich, unsere Eltern nennen.

Im Jahr Yihai (1995) war der Sommer sehr heiß. Die Eltern sagten, sie hätten in Pankow einen Garten, den könnten wir für den Sommer mitbenutzen. Wir nahmen das Angebot erfreut und dankbar an.

Wenn man von unserer Wohnung aus mit der Straßenbahn einige Stationen fährt und danach etwas mehr als hundert Schritte geht, erreicht man eine Gartenkolonie, die sich „Alte Baumschule“ nennt. Die Kolonie stößt links und hinten an ein Waldstück, rechts sind kleine Einfamilienhäuser und vorne eine breite, ruhige Allee. Nach ein paar Wegbiegungen auf einem Sandweg ist dann ein schwarz gestrichener Holzzaun zu sehen. Das ist unser Garten.

Hinter der Gartentür beginnt ein Pfad, der mit Steinplatten gepflastert ist. Zu beiden Seiten Rasen, darauf stehen einige Obstbäume, die, scheinbar unbeschnitten, nur da und dort  einen Sonnenstrahl durchlassen. Der schmale Pfad ist nicht holperig und schlängelt sich durch den Schatten. Schreitet man auf ihm entlang, hat man das Gefühl, als warte hier irgendwo eine Überraschung. Kommt man an einem kleinen Hügel vorbei, auf dem verschiedene Pflanzen üppig gedeihen, stößt man sogleich auf das solide gebaute, schattige Gartenhäuschen. Hinter ihm ist plötzlich blendende Helle. Der innere Teil des Gartens bietet einen ganz anderen Anblick. Er ist nicht sehr groß, macht aber einen geräumigen Eindruck. Oben am blauen Himmel strahlt die glühende Sonne, unten auf dem Boden glänzt der saftige Rasen. In der äußersten linken Ecke liegt der Komposthaufen, im Baumschatten verborgen, in der anderen ist das Toilettenhäuschen von wilden Trauben zugewachsen. In der Mitte auf dem Rasen stehen ein paar Liegestühle, ein riesiger Schirm spendet kühlenden Schatten.

Wenn die Sonne glühende Hitze herabschickt, holt man das Plastik-Planschbecken heraus, füllt es mit kaltem Wasser und setzt das Baby hinein. Wir, meine Frau und ich, liegen dann halbnackt unter dem Schirm, lesen in einem der mitgebrachten Bücher, werfen gelegentlich einen Blick auf das Baby, das im Wasser spielt, oder schließen die Augen und lassen die Gedanken umherschweifen. Wenn es regnet, wird das Lager ins Gartenhäuschen verlegt. Auch hier ist wieder ein Buch zur Hand und eine Kanne grüner Tee in greifbarer Nähe. Man spielt mit dem Kind oder hört einfach die Regentropfen auf die Baumblätter fallen.

Ab und zu wird das Buch aus der Hand gelegt und man wandert im Garten herum. Ich besprenge den Rasen oder reiße hier  und da ein paar wilde Gräser und unkrautige Blumen heraus. Am Zaun sind einige niedrige Sträucher angepflanzt, die keinen großen Namen haben und sich mit dem Unkraut mischen. Verglichen mit den benachbarten Gärten sieht unserer ziemlich wild aus.   Hat aber der ehrwürdige Gelehrte Herr Liu Yuxi (772-842) nicht auch seine Stube der Wildnis gehabt? Sie war ruhig und still, unser Garten ist einfach und schlicht; Liu empfing in seiner Stube große Gelehrte, in unseren Garten kommen ebenfalls keine Ungebildeten zu Besuch; er spielte in seiner Stube Zither und las kanonische Texte, ich höre in unserem Garten Vogelgesang und lese schöne Literatur. Trotzdem vergleiche ich unseren Garten nicht mit dem Häuschen von Zhuge Liang (181-234) und dem Pavillon von Yang Xiong (53-18), wie es der ehrwürdige Herr Liu mit seiner Stube gemacht hat. Für mich ist es schon genug, den Herrn der fünf Weidenbäume am Zhongnan-Berg zu verehren. So hole ich wie er die Feder heraus, die sowieso beschäftigungslos daliegt, kritzele diese Zeilen aufs Papier und betitele sie „Der Garten der Wildnis“.

Taugenichts vom Prenzlauer Berg im Sommer des Jahres Kuiwei (2003)

Jia Zhiping – „Das China-Japan-Verhältnis und eine Werbekampagne“:

Unbeachtet von westlichen Medien läuft in China seit längerem ein Werbekrieg, der den unbewältigten nationalen Konflikt zwischen China und Japan wieder einmal zum Brodeln gebracht hat.

Anfang Dezember 2003 startete das Magazin „Autofreund“ in China eine Werbekampagne für das Automodell Prado von Toyota: Vor dem Hintergrund moderner Hochhäuser steht der Geländewagen, links von ihm zwei Steinlöwen, der eine salutiert und der andere verbeugt sich. Der Werbetext lautet: „Prado, dir muß gehuldigt werden.“ Und Prado wurde auf dieser Werbung in das chinesische Wort „badao“ übertragen, was hegemonial, herrisch bedeutet.    Die Löwen und ihr Hintergrund erinnern ausgerechnet an die berühmte Marco-Polo-Brücke (Lugouqiao), die für Chinesen so symbolträchtig sind wie der Satz „Seit 5:45 Uhr wird zurückgeschossen!“ für die Polen: Der Angriff der japanischen Besatzungsarmee 1937 auf die chinesische Armee hier bei der Marco-Polo-Brücke war für die Chinesen der Anfang des II. Weltkrieges.    Eine Welle der Entrüstung brach aus. Besonders die Internetzbenutzer fragten: Was wollte Toyota mit dieser Werbung bezwecken? Wollte Japan sich in China wieder so herrisch aufführen wie während des Krieges? Nach heftigen Protesten äußerte Toyota in einem offenen Brief an die chinesischen Verbraucher sein Bedauern: Toyota bedauere aufrichtig, daß die Werbung bei den Lesern unerfreuliches Gefühl verursacht habe: (Man achte auf den Ausdruck „bedauern“ – auch die japanische Regierung „bedauert“ inzwischen den Krieg, weigert aber bis heute, sich dafür zu ENTSCHULDIGEN.)

Auf der Pressekonferenz des Bedauerns am 4.12.2003 meinte der japanische Marketingmanager des chinesisch-japanischen Jointventures, er habe nicht gewußt, daß der Steinlöwe ein Symbol der chinesischen Kultur sei, weil es solche Löwen auch in Japan an vielen Orten gebe.    Kaum hatte sich diese Unmutswelle gelegt, da rückte sich schon wieder eine Werbung in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Die Zeitschrift „Werbung international“ veröffentlichte 2004 in der September-Ausgabe eine „sehr kreative Werbung“: Das Bild zeigt ein Pavillon im chinesischen Stil. Auf der vorderen linken Säule, alt und verblaßt, schlängelt sich ein Long-Drache, das Symbol Chinas schlechthin, nach oben. Die rechte Säule ist dagegen frisch lackiert, der Long-Drache ist bis auf den Steinsockel heruntergerutscht. Der Hersteller des Lacks wolle damit, so hieß es, zum Ausdruck bringen, wie hochqualitativ seine Produkte seien. Der Hersteller war ausgerechnet Nippon Paint.    Die chinesische Öffentlichkeit war wieder einmal erbost. Es wurde gefragt: Was hat es zu bedeuten, daß zwei japanische Firmen hintereinander derart herablassend mit chinesischen Symbolen umgehen? War es nur ein Zufall? War es nur Unsensibilität? Oder steckt dahinter doch die geistige Haltung der unbewältigten militaristischen Vergangenheit Japans, daß die chinesische Rasse minderwertig sei? (Die Parole japanischer Soldaten beim Rekrutieren von Chinesen für Sklavenarbeiten während des Krieges lautete: Dreibeinige Frösche haben Seltenheitswert, zweibeinige Chinesen aber nicht.) Träumt Japan noch immer davon, China in die Knie zu zwingen? Bewußte Provokationen wurden vermutet, die natürlich von den beauftragten Werbeagenturen wie auch von den Auftraggebern sofort verneint wurden.

Versöhnliche oder verharmlosende Stimmen gab es natürlich auch. Als Chinese brauche man da nicht unbedingt Hinterhältiges hineininterpretieren noch überempfindlich sein. Werbung sei eben Werbung und man brauche sie nicht allzu ernst zu nehmen. Solche Stimmen bildeten aber die Minderheit. Selbst Beobachter, die sichtlich um Besonnenheit und Neutralität bemüht waren, meinten, daß, was für Informationen eine Werbung zu vermitteln hat, nicht nur von der Absicht des Werbenden abhänge, sondern auch von der Rezeption der Verbraucher. Mißverständnisse seien dabei nicht immer auszuschließen. Die zwei japanischen Werbungen seien aber allzu mißverständlich.

Seit dem 23.1.2005 erregt eine noch nicht veröffentlichte Werbung erneut die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Wie die Zeitschrift „Kommerz China“ berichtet, hat der Event-Veranstalter Han Yihe, der durch seine unkonventionellen und manchmal auch provozierenden Einfälle bekannt ist, für einen chinesischen Spiritushersteller eine Werbung entworfen, die von den Medien als Gegenschlag auf die zwei japanischen Werbungen verstanden wird: Hou Yi schießt auf die Sonne – Sonne heißt auf Chinesisch auch „ri“, und „ri“ wird häufig als die Abkürzung von „Riben“, Japan, benutzt.    (In einer alten chinesischen Sage heißt es, einst stiegen zehn Sonnen auf einmal auf, so daß die Erde ausdörrte und die Menschen kaum noch leben konnten. Der stärkste Bogenschützer Hou Yi nahm Bogen und Pfeile und schoß neun Sonnen ab, worauf der Friede auf die Erde zurückkehrte. Seitdem ist Hou Yi ein Symbol für Helden, die Bösewichte beseitigen.)

Auf der Werbung von Han zielt Hou Yi auf die Sonne, die über einem von Schnee bedeckten Berg hängt, der an den Fujiyama erinnert. Der Werbetext lautet: „Hou Yi schießt auf die Sonne – laßt uns darauf trinken.“ Sollte sich die Firma für Informationstechnik Putian für seinen Entwurf als Handy-Logo interessieren, könnte der Werbetext, meinte Han, auch lauten: Schießt Hou Yi auf die Sonne, feiert die ganze Welt (chin.: „putian“).    Auf Fragen der Journalisten, ob sein Entwurf eine Antwort auf die Werbungen von Toyota und Nippon Paint sei, meinte Han, er sei kein engstirniger Nationalist und genauso freundlich und gutmütig wie das chinesische Volk. Er bestehe nicht unbedingt auf dem Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. „Das ist nichts weiter als eine Werbung,“ betonte er. „Du kannst alles denken, was du willst. Ich kann niemandem verbieten, etwas anders zu denken.“ Zugleich meinte er, auf die „Giftstachel“ der japanischen Werbungen sollte eine vernünftige Antwort gefunden werden.    Manche Beobachter sind der Meinung, der laufende Werbekrieg bedeute einen geistigen Konflikt auf der nichtstaatlichen Ebene. Die Chinesen sollten zumindest nicht völlig stumpfsinnig sein.    Zusammengestellt von Informationen aus chinesischen Webseiten: wenxuecity.com, tom.com, xinhuanet.com

Kommentar:  Die Beziehung zwischen China und Japan hat eine Geschichte von mehr als 1000 Jahren. Diese Beziehung war nicht immer so angespannt wie heute. Die Weigerung Japans, sich für die Verbrechen während des II. Weltkrieges zu entschuldigen, die jährliche Huldigung der verurteilten Kriegsverbrecher durch das japanische Kabinett, Geschichtsfälschungen in japanischen Lehrbüchern, die Wiedererstarkung der Rechten und militaristischen Bestrebungen sowie die Unterstützung der Unabhängigkeitsbestrebung Taiwans tragen in keiner Weise zur Versöhnung beider Völker bei, die eigentlich noch nicht einmal richtig begonnen hat. Das Werbe-Gate ist nur ein kleines Mosaiksteinchen dieser leidvollen Beziehung. Ein Gegenschlag nach dem biblischen Prinzip ist nicht lobenswert. Doch es ist gerechtfertigt zu fragen, wo denn die weltberühmte japanische Sensibilität und Aufmerksamkeit geblieben ist.

Das mag man sich auch bei der Lektüre des Romans „Mister Aufziehvogel“ des japanischen Bestseller-Autors Haruki Murakami fragen. Der folgende Text von mir über dieses Machwerk erschien gekürzt in einem japanischen Reader für Deutsch lernende:

„Opa war in Ordnung“

Die äußerste Mongolei – als japanische Innerei

In der Mongolei stellen die Japaner alljährlich das größte Tourismus-Kontingent, ihr Beitrag zur Entwicklungshilfe ist ebenfalls der höchste – er ist u.a. als eine Form von Wiedergutmachung gedacht. Während des russischen Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs waren sie wiederholt in Sibirien und der Äußeren Mongolei eingefallen. Anschließend hatte man dort tausende japanische Kriegsgefangene beim Wiederaufbau eingesetzt. Heute erinnert ein Denkmal in Ulaanbaatar an sie. Dorthin gehen die japanischen Touristen als erstes – und zünden ein Räucherstäbchen für die Seelen der dort Gestorbenen an. Danach mieten sie gerne eine Jurte auf dem Land – und meditieren bzw. genießen die Einsamkeit sowie  den bestirnten Himmel über sich. Mehr als 40 Japanerinnen haben inzwischen Viehzüchternomaden geheiratet.

Einmal machte auch der Erfolgsautor Haruki Murakami aus Tokio Urlaub in der Steppe. Er hatte fünf Bücher mit dabei – über die Kämpfe zwischen Japan und der Sowjetunion bzw. der Mongolei, und speziell über die Schlacht von Nomonhan, an der Grenze zwischen der Äußeren Mongolei und der Mandschurei, über die es auch viele sowjetische und mongolische Bücher gibt. Nach Lektüre seiner Bücher hatte Murakami den starken Eindruck: Sibirien ist eine japanische Seelenlandschaft! Wieder zurück in Tokio schrieb er einen 750-Seitenroman mit dem Titel „Mister Aufziehvogel“ – über die Sinngebung des Sinnlosen mittels der Geschichte eines leicht ermüdeten Ich-Erzählers, dem sich einige Episoden aus dem japanischen Überfall auf China und die Mongolei  zu einer Reihe mehr oder weniger blutrünstiger  Abenteuer bündeln, die bis heute fortwirken. Wobei sie jedoch zu  Opfergängen umgedeutet werden, die erst im Ich-Erzähler selbst – einem arbeitslosen jungen Juristem, dem erst sein Kater und dann auch noch seine Frau weggelaufen sind – einen neuen Sinn ergeben.

Die erste „lange Geschichte“ erfährt er mündlich und handschriftlich von einem  Veteranen namens Leutnant Mamiya. Dieser ist ein Kriegskamerad von Herrn Honda, den der Ich-Erzähler und seine Frau in den ersten Jahren ihrer Ehe auf Anraten seiner Schwiegereltern regelmäßig  konsultiert  hatten – bis sie ihn einfach vergaßen, „so wie die meisten vielbeschäftigten jungen Leute dazu neigen, die meisten alten Leute zu vergessen“. Von Mamiya erfährt er,  dass dieser zusammen mit Honda 1938 an einem geheimen Kommandounternehmen gegen die mongolische Volksrepublik teilnahm. Ihre Aktion war jedoch gescheitert und Mamiya anschließend für zehn Jahre in einem sibirischen Arbeitslager inhaftiert worden. Es folgt eine detaillierte Schilderung dieser „Hölle“ – bis rauf zum damaligen NKWD-Chef Berija. Damit wird erklärt, warum Mamiya bis zu seiner Repatriierung als Spitzel im Lager diente: Weil er der russischen Sprache mächtig war, wollte man ihn als Dolmetscher für die Zwangsarbeiter verwenden. Im „sibirischen Konzentrationslager“ brachte er es dann bis zum Adjudanten des Leiters, d.h. er war dort für „das Geschäftliche zuständig“, während ein ehemaliger mongolischer Ringer gleichzeitig die „gewalttätige Seite“ verantwortete. Anfang 1949 verschiffte man ihn von Nachodka aus nach Japan: Ein Spätheimkehrer, der zu Hause nirgends mehr richtig Fuß fassen kann, dennoch alle seine Kriegskameraden überlebt. „Die meisten Soldaten, die in sowjetische Gefangenschaft geraten waren, weigerten sich nach dem Krieg, am Gefangenenaustausch teilzunehmen, weil sie befürchteten, wegen Feigheit vor dem Feind vor Gericht gestellt zu werden. Diese Männer düngten zuletzt mit ihren Knochen die mongolische Erde,“ schreibt Murakami.

Neben den militärischen Aktionen gab es auch zivile japanische Siedlungsprojekte. Murakamis zweite Geschichte stammt von den Kindern solcher Siedler, die in der Mandschurei aufwuchsen, aber dann nach Japan flüchten mußten. Sie erinnern sich zunächst an die Ängste ihrer Mutter, erst von sowjetischen Soldaten vergewaltigt und – zuletzt – auf dem Flüchtlingsschiff von einem amerikanischen U-Boot torpediert zu werden, derweil die Stadt Nagasaki ganz in der Nähe von einer Atombombe  ausradiert wird. Als die überlebenden zwei Töchter nach dem Krieg im demokratischen Japan endlich einen Neuanfang wagen wollen – ist ihre Vertriebenen-Mutter am Ende: Sie sehnt sich nur noch in die Mandschurei zurück und „erzählt von der glücklichen Vergangenheit, die hinter ihr liegt“.

Nach dem Scheitern seiner Mission in der  Äußeren Mongolei wurde der Berichterstatter Mamiya gezwungen, einer  Folterung zuzusehen, bei der einige wilde mongolische Soldaten seinem hochzivilisierten japanischen Vorgesetzten mit dem Messer die Haut abzogen.

Fast die selbe Scene hatte zuvor bereits der chinesische Erfolgsautor Mo Yan in seinem inzwischen von Zhang Yimou verfilmten Roman „Das rote Kornfeld“ geschildert. Nur dass es hier ein Chinese war, den die Japaner bei lebendigem Leibe enthäuteten, was sie perfiderweise von einem chinesischen Schlachter erledigen ließen, der anschließend wahnsinnig wurde. Mo Yan und Zhang Yimou wurde wegen dieser und anderer Szenen von vielen China-Watchern „Antijapanismus“ vorgeworfen

Für Murakami erklärt sich die   mongolische Grausamkeit aus den vorangegangenen Stalinschen Säuberungen, die auch in der Mongolei zu  Verhaftungen und Liquiderungen führten – vor allem von Adligen, Händlern, buddhistischen Mönchen, Schamanen und „rechten Abweichlern“ in der kommunistischen Partei, denen man allesamt vorwarf, in geheimer Verbindung zu den Japanern gestanden zu haben, um mit ihrer Hilfe die Mongolei aus dem sowjetischen Einflußbereich quasi herauszuputschen: „offenbar fühlten sich die Mongolen uns Japanern, als Mitasiaten, näher als den Russen,“ vermutet Murakami. In der Mandschurei bekamen die Japaner es dann mit den „antijapanischen Guerillaeinheiten“ der Chinesen zu tun. Und schließlich mit den Sowjets, die ihr mandschurisches Hauptquartier einnahmen. Um ihnen nicht in die Hände zu fallen, kommt es unter den japanischen Zivilisten zu Massenselbstmorden. Einem kleinen Kommando gelingt es gerade noch, im Zoo von Hsing-ching die gefährlichsten Raubtiere zu erschießen. Einer der Soldaten dieses Kommandos hat im Roman keinen anderen Namen als den, „der später in einem Bergwerk in der Nähe von Irkutsk erschlagen werden würde.“ Für die letzten Flüchtlinge gilt unterdes: Kaum dass sie das „Land ihrer Ahnen“ endlich erreicht haben, versank das „Phantomreich Mandschukuo bereits in den Nebeln der Vergangenheit“. Eine  der Heimatvertriebenen heiratet später einen anderen Flüchtling vom Festland. Dieser wird dann jedoch in einem Hotelzimmer ermordet – wobei die unbekannten Täter seine Innereien herausschneiden und damit verschwinden.

Für den ideellen Gesamt-Enkel, der sich mit diesen ganzen verlorenen Gebieten, Geschichten, Organen und Metzeleien beschäftigt, ist natürlich auch eine „empirische Untersuchung über den Schmerz“ unverzichtbar. Er baut dazu quasi den mongolischen Brunnen nach, in den der Leutnant Mamiya seinerzeit auf Befehl eines NKWD-Offiziers geworfen worden war. Vom trockenen Grund aus gelingt es dem Ich-Erzähler, gedanklich zu den generationsübergreifenden Anknüpfungspunkten vorzustoßen. Und nachdem er sich „ein Paar neue Schuhe“ gekauft hat, vermag er daraus sogar ein Geschäft zu machen, mit dem er endlich seinem erfolgreichen Schwager gewachsen ist. Vergebens warnen einflußreiche Kräfte den Ich-Erzähler: „Das halten Sie nicht ewig durch. Früher oder später ist der Saft raus!“

An dieser Stelle kommt das Internet ins Spiel – und zwar dadurch, daß er im Computer des Enkels des Zoo-Veterinärs von  Hsing-ching die Paßwörter „zoo“ und „u-boot“ errät. Im Laufe seiner Geschichte hat sich der Ich-Erzähler derart in die Vergangenheit verstrickt, daß ihm bereits die Lektüre  einer Tageszeitung „die Verbindung zur äußeren Wirklichkeit herstellt“. Aber auch dort stößt er prompt wieder auf ein loses Ende seiner Recherchen: Auf den Onkel seines ihm feindlich gesonnenen Schwagers, der in den 30er-Jahren auf Sachalin Kälteexperimente durchführte, um die optimale Bekleidung für Soldaten in einem zukünftigen Sibirien-Feldzug zu testen. Dieser „Technokrat“, schreibt Murakami, „war zwei Jahre lang in Berlin stationiert gewesen“. Nach 1945 hatten ihn die Amerikaner als zu „belastet“ für ein öffentliches Amt eingestuft, später kandidierte er jedoch für die Konservative Partei und wurde Parlamentsabgeordneter. Diesen Sitz soll nun sein junger, dynamischer Neffe quasi erben.

Vorher schickt der Enkel des Zoo-Veterinärs dem Ich-Erzähler aber noch eine Email, in der er ihm erzählt, wie sein Opa in Hsing-ching erst Zeuge der Hinrichtung der Raubtiere wird und dann bei der Exekution einer Gruppe junger chinesischer Kadetten, die aus der japanischen Militärakademie desertiert waren, hinzugezogen wird. Um Munition zu sparen, erstach man sie mit dem Bajonett, bis auf ihren Anführer, der mit einem Baseballschläger getötet wird, wobei es ihm gelingt, den Veterinär noch im Sterben mit in das Massengrad zu ziehen. Daran stirbt dieser aber nicht. Er wird wenig später von den Sowjets gefangen genommen und als Zwangsarbeiter in ein „sibirisches Kohlenbergwerk“  deportiert. Dort kommt er bei einem Schachtunfall ums Leben.

Der Ich-Erzähler nimmt nun einen solchen Baseballschläger mit nach unten in seinen trockenen Brunnen, der im Garten seines neuerworbenen Hauses in Tokio steht.  Von seinem Onkel hat er erfahren, daß das „Anwesen“ früher einem Eliteoffizier gehörte: „Die Soldaten, die unter seinem Kommando in Nordchina kämpften, bekamen alle möglichen Auszeichnungen, aber sie haben dort schlimme Dinge getan – fünfhundert Kriegsgefangene hingerichtet, Zehntausende von Bauern gezwungen, für sie zu arbeiten, bis die Hälfte davon tot umgefallen ist, solche Sachen…Und aus dem, was da ablief, konnte er sich ausrechnen, daß man ihn als Kriegsverbrecher vor Gericht bringen würde…Als er also eines Tages einen GI-Jeep vor seinem Haus halten sah, schoß er sich sofort eine Kugel durch den Kopf …Seine Frau hängte sich in der Küche auf…“ Dabei suchte der GI nur nach dem Haus seiner Freundin: „Er hatte sich verfahren und wollte nach dem Weg fragen“.

Mit dem Baseballschläger in der Hand auf dem Grund des Brunnens sitzend,  träumt der Ich-Erzähler davon, damit seinen Schwager während eines Wahlkampfauftritts den Schädel einzuschlagen. „In Wirklichkeit“ erledigt  das dann aber am Schluß des Buches seine Frau, die ihren älteren Bruder noch mehr hasst, weil er ihre jüngere Schwester auf dem Gewissen hat und zudem einmal eine Prostituierte „mißbrauchte“. Dem Ich-Erzähler bleibt danach nichts mehr zu tun übrig, als darauf zu warten, dass sie aus dem Gefängnis entlassen wird – er liebt sie noch immer.

Gleichzeitig hat der Autor damit aber die dunkle Vergangenheit Japans durch eine erschöpfte Enkelperspektive erhellt, indem er uns  – laut Klappentext seines deutschen Verlags – erkennen läßt, daß unter dem (neobanalen) „Alltagsleben der Großstadtgesellschaft andere, geheime Kräfte wirken“ – nämlich die der Großväter! Das ist „Stephen King, Franz Kafka und Thomas Pynchon unter einen Hut…“, urteilte der Berliner Tagesspiegel. Ich würde dagegen eher von einer verbumfiedelten Mischung aus Manga und Landserroman sprechen, die zudem im wesentlichen auf einem Ideenklau basiert: Auf dem chinesischen Film „Alter Brunnen“ von Wu Tianming, dem der gleichnamige autobiographische Roman von Zheng Yi zugrundeliegt. Der Autor wurde dafür von Kenzaburo Oe für den Nobelpreis vorgeschlagen. Zheng Yi war einst einer der ersten Rotgardisten in Peking gewesen, seine Radikalität zeigte er u.a. dadurch, dass er die Mao-Anstecker auf der bloßen Haut trug, heute ist er einer der bekanntesten Öko-Aktivisten Chinas. Die Hauptrolle in „Alter Brunnen“ spielte Zhang Yimou, der dafür 1987 auf dem Internationalen  Filmfest in Tokio als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde. In dem Film geht es um einen gebildeten Jugendlichen, der nach der chinesischen Kulturrevolution in sein Dorf zurückkehrt. Der Ort hat 127 Brunnen, sie sind jedoch alle trocken. Zusammen mit einer Frau macht er sich daran, einen der Brunnen tiefer zu graben. Dabei bricht eine Wand ein und die beiden werden verschüttet. Während sie auf Rettung warten, erzählen sie sich ihre Geschichte und die Gefühle, die sie füreinander haben.

Hydraulische Poller (eine deutsch-chinesische Koproduktion)

Wladimir Kaminer befindet sich derzeit im Nordkaukasus, wo er einen Film über seine dort lebende Schwiegermutter und ihre Verwandten, Freunde und Nachbarn dreht. Außerdem schreibt er – wie in jedem Sommer, den er dort verbringt – an einem Buch über seine nordkaukasische Schwiegermutter. Das zweite Kapitel daraus, das er schon vor einigen Jahren schrieb, befasste sich mit den im Nordkaukasus siedelnden Chinesen – und hatte den Titel „Die Chinesen kommen“:

Der Süden Rußlands galt lange Zeit als Musterbeispiel des sowjetischen Internationalismus. Der Fremde, der andersgläubige Nachbar war hier seit Urzeiten ein fester Bestandteil des Alltags. Mindestens drei Dutzend Völker leben und arbeiten in den Bergen und Steppen des Nord-Kaukasus eng nebeneinander: Osseten, Cherkessen, Russen, Ukrainer, Armenier, Inguschen, Kabardiner, Tschetschenen. Sie sind Moslems, Christen, Feueranbeter. Werden als Eingeborene oder Zugezogene bezeichnet. Alle leben in Frieden ohne allerdings einander besonders zu mögen. Der Berg von Vorurteilen und alten Rechnungen, sowie die Verbreitung der Feuerwaffen, die hier in der Gegend zu jedem nationalen Kostüm quasi dazugehören, ist einfach zu groß. Infolgedessen kann jede kleinste Auseinandersetzung sofort die ganze Region in ein Blutbad verwandeln. Dazu kommt noch das berühmte kaukasische Temperament – ein zerquetschter Fuß in der Straßenbahn, ein unvorsichtiges Wort und schon brennt die Luft.

Deswegen sind alle in einer mysteriösen Höflichkeit verstrickt, die oft überkandidelt wirkt. Selbst zu einem Bekannten sagt man nicht „Guten Tag“  in den Rücken. Er könnte sich erschrecken und unangemessen reagieren. Die beiden ersten tschetschenischen Kriege haben noch mehr Waffen in den russischen Süden gebracht. Die Menschen sind daran gewöhnt und verwechseln nicht Angst mit gesunder Vorsicht. Selbst wenn einer mit einer Kalaschnikow durch die Gegend läuft, wird er früh genug auf einen mit einer Stinger- Rakete stoßen. Wenn man also einen mit einer Rakete trifft, am besten gar nichts sagen – weder „Guten Tag“ noch „Auf Wiedersehen“. Ein Pockerface ist der übliche Gesichtsausdruck. Mit diesem Pokerface wachsen hier die Menschen auf, immer wachsam, aber höflich zu einander. In den Neunzigerjahren wurde diese nette Gemeinschaft zu einem beliebten Zufluchtsort für viele Minderheiten, die nach dem Ende des Sozialismus ihre Heimatorte wegen ethnischer Konflikten verlassen mußten: Armenier aus Aserbaidschan, russische Kosaken aus Tschetschenien und Kurden, wobei niemand genau wußte, wo die nun herkamen. Es interessierte aber auch niemanden sonderlich. Die nationalen Hintergründe zählen in der Gegend nichts, sondern nur Fleiß und Mut.

Der russische Süden war schon immer dünn besiedelt, dort fanden noch im 17. Jahrhundert flüchtige Wehrpflichtige, Andersgläubige und Rebellen aller Couleur Unterschlupf. Mit der Auflösung der Sowjetunion lösten sich hier auch die vielen Kollektivwirtschaften auf, die Mais- und Sonnenblumen-Felder verwilderten und bedeckten sich mit Unkraut. Auf den Weideplätzen grasten keine Pferde und Kühe mehr. Und dann passierte das, was immer in solchen Fällen passiert: Die flüchtigen Völker trafen auf verlassenes Land. Die Neuankömmlinge wurden natürlich von den Einheimischen geprüft, die Versuchung auf leichte Beute stirbt auch im Kaukasus nie aus. Bei den Kosaken aus Tschetschenien ging es ganz schnell. Die einheimischen Nachbarn kamen eines Abends, um den Neuen ihre Jagdgewehre zu präsentieren. Die Kosaken zeigten ihrerseits stolz, was sie aus Grosnij mitgebracht hatten: AK74, Vollautomatik, 600 Schuß pro Minute. Sie redeten noch ein wenig über das Wetter und die Aussichten auf eine gute Ernte, schließlich wünschten sie sich gegenseitig ein friedliches Leben und gingen auseinander. Auch die Armenier wurden respektiert, die Kurden zogen irgendwann weiter. Und so lebten sie in der Steppe, Sowjetunion hin oder her – es gab für alle viel Platz und wenig Staatsgewalt. Dann eines Tages, Mitte der Neunziger Jahre kamen die Chinesen.

Diese Völkerwanderung brachte sogar die gelassensten Kaukasier etwas aus der Fassung. Von den Chinesen hatte man hier bis dahin  nur aus dem Fernsehen gehört, wenn mal wieder davon berichtet wurde, daß sie im fernen Osten und in Sibirien bereits große Territorien bevölkert hätten. Oft illegal eingereist, gründeten sie in der Taiga Landkommunen, hackten Holz und verkauften es nach China. Die rechten russischen Zeitungen schlugen Alarm: „Unser geliebtes Vaterland wird von China überrannt!“ Im Süden machte man aber eher Witze darüber, wir werden hier schon über die Runden kommen, zumindestens bis die Chinesen kommen, hieß es ironisch im Volksmund.? Gemeint war: das wird nie passieren. Aber plötzlich waren sie da. Die Chinesen pachteten die ehemaligen Sonnenblumen- und Maisfelder, versumpften den Boden mit Wasser und pflanzten dort Lauch an. Die chinesischen Lauchzwiebeln waren musterhaft groß und wurden gerne auf den Märkten gekauft. Danach fingen die Chinesen an, Reis anzubauen Die Einheimischen schimpften über sie. Das Wasser in der Gegend ist salzig und mineralhaltig, die Erde, die mit solchem Wasser verseucht wird, bringt zwei bis drei Jahre eine gute Ernte, ist aber danach für mehrere Jahrzehnte unfruchtbar. Die verfluchten Chinesen versauen unseren ganzen Boden, regten sich die Einheimischen auf, sie haben überhaupt kein bezug zu dieser Erde. Die Chinesen wollten aber auch keinen Bezug dazu entwickeln, sie pachteten einfach ein neues Stück Land, wenn das alte nichts mehr hergab, ansonsten schufteten sie hart auf ihren Feldern – zwanzig Stunden am Tag, fleißig, alles per Hand ohne jegliche Technik. Von den Jagdgewehren der Einheimischen zeigten sie sich auch unbeeindruckt. Inzwischen ist die chinesische Gemeinde im Nord-Kaukasus eine feste Größe. Legal oder illegal, oft mit einem Paß für zwanzig Mann, leben sie dort. Und wenn die Ordnungshüter bei den neuen Pächtern vorbeischauen, werden sie mit Geld oder Waren geschmiert.

Nach einer Weile konnten die meisten anderen Völker sich mit den Chinesen vertragen, nur die Russen schimpfen. Weil die Chinesen ihre kurze Freizeit anscheinend nicht nur zum Schlafen und zur Erholung nutzen: Nach jeder Pachtsaison werden in den russischen Dörfern mehr chinesische Kindern geboren, im Volksmund werden sie liebevoll-rassistisch „Schlitzäuglein“ genannt.

lebende Chinapoller

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https://blogs.taz.de/chinesische_bauernkulturrevolutionjia_pingwa/

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