Spätestens seit Platons Verriss der von Homer und Hesiod überlieferten altgriechischen Göttermythen in dessen Hauptwerk Politeía galt der Mythos im abendländischen Denken im besten Falle als etwas Zwielichtiges, im schlechtesten Falle als reines Blend- und Lügenwerk. Auf diesem Fundament baute einige Jahrhunderte später die christliche Kirche auf, um die mit ihrer Deutung der Schöpfungsgeschichte konkurrierenden germanischen, keltischen und graeco-romanischen Überlieferungen gewissermaßen als ›Fake News‹ zu diskreditieren und zu bekämpfen. Diese klitzekleine genealogische Rekonstruktion genügt, um zu verstehen, warum auch noch heute bei der Rede über den ›Mythos‹ bzw. die ›Mythologie‹ oft so etwas wie (Selbst-)Lüge oder (Selbst-)Täuschung gemeint ist.
Wenn nun, wie jüngst geschehen, einige Comicmacher*innen mythologische Formen, Stoffe und Inhalte aufgreifen und zu grafischen Erzählungen verarbeiten, nährt sich die prompt aufpoppende Kritik hieran nicht zuletzt genau aus diesen (Vor-)Urteil: So wird die »Hinwendung zu den Urstoffen der Menschheit« von Jungle-World-Autor Tobias Prüfer als Ausdruck einer Gegenwartsverunsicherung gedeutet, die nach Erklärungen nicht im Hier und Jetzt, sondern in einer »idealisierten Vergangenheit« sucht. Mit dem britischen Sozialtheoretiker Zygmunt Baumann als Stichwortgeber (»Retrotopia«) wird die (Wieder-)Entdeckung des Mythologischen in Comics mit jener gesellschaftspolitischen Regression in eins gesetzt, die auf die Zunahme von Komplexität und Differentialität in der Ära der (Post-)Moderne nicht anders als mit den altbekannten Reflexen von Ab- und Ausschließung zu reagieren vermag.
Leicht lässt sich die Tragfähigkeit solcher Kritik überprüfen, indem man einfach die Nase in ebenjene Comics steckt. Trübt das darin aufbereitete mythische Denken tatsächlich wie ein dichter Nebel das Bewusstsein der Comicleser*innen?
Das bei dem kleinen Berliner Jaja Verlag erschienene Album Monomythos des Illustrators Lennart Leibold nähert sich dem Mythos nicht anhand eines konkreten Stoffes, sondern nimmt die mythologische Struktur bzw. Form des Erzählens bzw. von Erzählungen in den Blick. Vermutlich würde nicht jeder dieses kunstvoll gestaltete Heft, in dem sich jedes Bild über je eine Doppelseite erstreckt, als Comic bezeichnen. Weil man es hier aber mit einer Bilderfolge – sowohl in zeitlicher als auch in logischer Hinsicht – zu tun hat, lässt es sich unter Berufung auf Scott McClouds kanonisch gewordene Comicdefinition als Bildsequenzen, welche »Informationen vermitteln und/oder ästhetisch wirken sollen« durchaus dem Comicgenre zuordnen.
Von zentraler Bedeutung ist in Monomythos die Figur des Helden (bei Leibold im generischen Maskulinum), dessen Motive, Verhaltensmuster und Etappen als narratologische Grundmuster von Leibold in surrealen Traumbildern vorgestellt werden. In starker Anlehnung an Christopher Voglers ›Zyklus der Heldenreise‹ werden in zwölf, jeweils betitelten Bildern entsprechende Archetypen präsentiert. Den Ausgangspunkt bildet die Tristesse und/oder die Unordnung, in die die ›Gewohnte Welt‹ des Helden geraten ist. Dem ›Ruf zum Abenteuer‹ folgen zahlreiche Stationen, die anzeigen, wie sehr das Erzählen im Grunde eine Verarbeitung innerer wie äußerer Konflikte darstellt: Der Held ziert sich zunächst, überschreitet dann doch eine imaginäre Schwelle und betritt einen Raum, den er ohne weiteres nicht mehr verlassen kann; er muss sich gefährlichen Bewährungsproben stellen, bis er in die ›Tiefste Höhle‹ vordringen kann und dort die Konfrontation mit seinem eigentlichen Antagonisten wagt. Im Falle des Gelingens wird die einst übertretene Schwelle nun wieder passierbar, der Held und seine Welt, in die er zurückgekehrt ist, strahlen im neuen Glanz. (Die Möglichkeit des Scheiterns wird scheinbar nicht aufgegriffen.)
Die antagonistische Struktur und die zum Kreis gekrümmte Zeitachse des mythologischen Denkens sind Comicleser*innen natürlich alles andere als fremd. Kaum ein populärer Comic kommt z.B. ohne eine(n) (Anti-)Helden bzw. Heldin und deren Widersacher*in aus: Die linksliberale Mafalda vs. die snobistische wie rassistische Susanita; der an sich und der Welt verzweifelnde Charlie Brown vs. die maligne Narzisstin Lucy van Pelt; Ordnungshüter Lucky Luke vs. die vier nihilistischen Daltonbrüder Joe, William, Jack und Averell; Asterix und die restlichen aufsässigen Gallier, die sich der römischen Besatzungsmacht mal eher trickreich, mal eher schlagkräftig entgegenstellen. Diese Aufzählung ließe sich ewig fortsetzen. Auffällig ist auch, dass die Persönlichkeiten dieser und anderer Figuren sehr zugespitzt, zur Karikatur neigend charakterisiert sind und eine nachhaltige (Weiter-)Entwicklung nur selten stattfindet. Mit dem Ende des jeweiligen Abenteuers bzw. dem pointenreichen Abschluss eines Strips werden die Zähler meist wieder auf Null gesetzt. Was ist das aber anderes als eine sublime Form der ›Wiederauferstehung‹, von Leibold in Monomythos sehr schön allegorisch visualisiert, die für den Mythos so bestimmend ist?
Der dänische Comiczeichner Søren Glosimodt Mosdal hat sich hingegen in Nastrand. Eine Geschichte aus der Edda mit einem konkreten Mythos auseinandergesetzt. Bei der Edda handelt es sich um eine im Spätmittelalter entstandene Anthologie teils deutlich älterer skandinavischer Götter- und Heldensagen. Nastrand (dt. Leichenstrand) ist der von Untoten bevölkerte Strandbezirk des germanischen Totenreichs (Helheim) und Aufenthaltsort der auf ewig verdammten Mörder, Ehebrecher, Betrüger etc. Genau hierhin hat es nun ›Meister‹ Thorkel und seine ›Lieblingssklavin‹ Deirdre verschlagen, nachdem sie in ihrer Heimat Opfer eines Komplottes geworden sind.
Dass aber der gutmütige und ehrenhafte Thorkel hier und nicht in Walhalla gelandet ist, in der nordischen Mythologie der Ruheort aller tapferen Krieger, bildet das Sujet, also das unerhörte Ereignis, welches den Stoff erst erzählenswert macht. Der mythologischen Grundstruktur von Heldenerzählungen folgend (s.o.) müsste nun Thorkel alles unternehmen, um die (unfreiwillig) übertretene Schwelle zum Jenseits erneut, nun jedoch in die andere Richtung zu überschreiten oder zumindest in Richtung Walhalla aufzubrechen. Zuvor wäre aber die germanische Totengöttin Hel zu stellen, die ihren ›Gast‹ sicher nicht freiwillig ziehen lassen würde.
All diese Aspekte finden im weiteren Verlauf der Handlung auch ihre Berücksichtigung. Doch das wirklich bemerkenswerte an dieser in düsteren Bildern gehaltenen grafischen Erzählung ist, dass Comicautor Mosdal eigentlich einen ganz anderen Fokus setzt und so den Heldenmythos absichtsvoll unterläuft. Nicht etwa weil Thorkels Bemühungen, Nastrand wieder zu verlassen, von Beginn an zum Scheitern verurteilt sind und sich auch keine wirkliche Gelegenheit ergibt, in der der ›Held‹ irgendeine seiner Qualitäten gewinnbringend einsetzen könnte. Ein tragisch scheiternder Protagonist gehört ja immerhin auch zum mythologischen Repertoire.
Mit Thorkels Begleiterin Deirdre wird aber eine Figur eingeführt, die sich mit der eben vorgestellten Herr-und-Knecht-Relation nicht verträgt. Sie ist vorlaut, bezeichnet ihren ›Meister‹ auch schon mal als ›Blödmann‹, und während dieser im Kampf mit einem von Hel geschickten Monster die Oberhand zu verlieren droht, stellt sie sich diesem furchtlos in den Weg. Die Selbstbestimmtheit und geistige Beweglichkeit Deirdres wirft angesichts der Unfähigkeit Thorkels die Frage auf, wer denn hier eigentlich der Held ist. Zudem stellt sich im Verlaufe der Geschichte heraus, dass sie freiwillig in den Tod ging, um Thorkel nach Walhalla zu folgen. Dass sie sich aber nun nicht dort, sondern am trostlosesten und finstersten Ort des Totenreiches befindet, stürzt die junge Frau wiederum in völlige Verzweiflung.
Das kann freilich auch als Warnung gelesen werden, irgendwelchen ›charismatischen Führern‹ und ›falschen Propheten‹ einfach blindlings ins Verderben zu folgen. Schon angesichts der düsteren Ton- und Stimmungslage kann im Falle des Comic Nastrand von einer idealisierenden Verklärung der Vergangenheit sicher nicht die Rede sein. Doch offensichtlich verfügt das Sujet auch über eine zeitpolitische Komponente, die zeigt, dass nicht jede Hinwendung zum Mythos automatisch gesellschaftliche Verblendungszusammenhänge reproduzieren muss, sondern durchaus auch ein Mehr an Erkenntnis hervorbringen kann. Die Frage ist nämlich nicht, was oder worüber erzählt wird, sondern wie.
Lennart Leibold: Monomythos, Jaja Verlag, Berlin 2018. 40 S. Softcover: 21 x 28cm. ISBN 978-3-946642-38-1
Søren Glosimodt Mosdal: Nastrand. Eine Geschichte aus der Edda, Verlag Edition Moderne, Zürich 2018. 64 S. Hardcover: 20x26cm. Übersetzung aus dem Englischen von Christoph Schuler. ISBN 978-3-03731-175-2