„If we’re to live up to our own time, then victory / Won’t lie in the blade, but in all the bridges we’ve made. / That is the promised glade, / The hill we climb , if only we dare it.“ (Amanda Gorman)
Da stehen sie nun: Der Bär, das Schaf, die Gämse, die Ameise, der Schneehase und der Oktopus. Alle scheinen genau zu wissen, wie der Berg, an dessen Fuße zu Land und zu Wasser verstreut sie allesamt leben, aussehen muss. Das Problem ist, dass noch niemand von ihnen je den Gipfel des Berges erklommen hat und jeder seine ganz eigene Lebenswirklichkeit in seine Vorstellung vom Charakter des Berges projiziert. Da kollidieren dann schnell unterschiedlichste Sichtweisen. Klar, dass das Bild des Oktopus ein ganz anderes sein muss als das des Schneehasen.
Das von Rebecca Gugger und Simon Röthlisberger, den Macher*innen des Kinderbilderbuches DER BERG, entworfene Szenario und der daraus resultierende und schnell eskalierende Streit kommen einem relativ vertraut vor: Das Leben in Informationsblasen und abgeschotteten sozialen Wirklichkeiten sowie die Tendenz zur Abwehr anderer, insbesondere konkurrierender Wirklichkeitsauffassungen ist ein prägendes Kennzeichen spätmoderner Gesellschaften mit allerlei Konfliktpotenzial. Dies korrespondiert auch mit der Art und Weise des Erzählens im Buch. Es gibt letztlich keine einheitliche Erzählinstanz, sondern ein Gefüge uneinheitlicher und inkohärenter Sicht- und Sprechweisen. Im Kampf um die Deutungshoheit wird permanent „gemeint“, „behauptet“ und „geblubbert“.
Der in dieser illustrierten Fabel entwickelten Diagnose – arg begrenzte Lebenswelten der Tiere, deren ich-bezogene Verallgemeinerung der Lebensrealität sowie wiederum deren konflikthafte Infragestellung durch die Konfrontation mit dem/den Anderen – folgt das Rezept. Die Pointe des Buches lautet nämlich, dass niemand mit seiner Sichtweise völlig falsch liegt und mit der Einbeziehung anderer Vorstellungen kein Weltbild vernichtet, dafür aber erweitert wird. Oben auf dem Berg wird so aus den selbstbezogenen Bewohner*innen der Insel (wie sich dort herausstellt) eine Art Gesellschaft, in der alle Sichtweisen Platz zu haben scheinen.
Da es sich um ein Kinderbuch handelt, kann man die hier entfaltete (politische) Moral gutheißen und als pädagogisch wertvoll qualifizieren. Das Zauberwort lautet Deliberation: alle unterwerfen sich der Vernunft – hier in Form einer übergeordneten Vogelperspektive, in der in Form eines herrschaftsfreien Diskurses allen der Blick aufs Ganze möglich wird. Will man das Buch und dessen Anliegen allerdings ernst nehmen, bleibt jedoch der Eindruck, dass es nicht unbedingt dahin geht, wo es wehtut. Was hier nämlich nicht existiert, sind Hartnäckigkeit, Beharren und Widerstand. Diese Verwerfung ist letztlich der Preis der „federleichten“ (so der Paratext auf der Rückseite des Buches) Inszenierung eines mehr als gewichtigen Themas.
So wäre es ja zumindest denkbar, dass der ein oder andere zum Einnehmen eines gemeinsamen Standpunktes nicht fähig oder gar nicht willens ist. Man könnte sich also vorstellen, dass der Oktopus sich weigert, das Wasser zu verlassen und in seiner „Bubble“ bleibt, die Ameise zwar ihre Fehleinschätzung einsieht, aber vor den Anderen nicht zuzugeben vermag, oder die Gämse sich von ihrem Trugbild nicht lösen kann und auf ihrem Standpunkt beharrt. Deliberation kann ganz schön anstrengend und (über-)fordernd sein.
Man könnte sogar noch weiter gehen, und bezugnehmend auf das Bild des politischen Philosophen Niccolò Machiavelli vom Herrscher als starken Löwen und schlauen Fuchs diese beiden Fabelwesen in einen alternativen Plot einbauen: Der Löwe eignet sich – mit den Anderen oben angekommen – durch Androhung oder Anwendung von Gewalt den Berg einfach an und zwingt die anderen Tiere aus seiner übergeordneten Position in die Knechtschaft. Oder der Fuchs nutzt die Übersicht, um die Tiere der Insel gegeneinander auszuspielen, indem er etwa behauptet, dass z.B. der Bär ein größeres oder schöneres Stück Land beansprucht, als ihm eigentlich zustünde…
Vernunft lässt sich eben auch instrumentell und aus egoistischen Motiven gebrauchen. Diese Einwände sollen aber dem Buch nicht gleich in Gänze die Qualität absprechen, sondern können auch als Anregung verstanden werden, nach dem (Vor-)Lesen des Buches die Geschichte weiter oder eben gegen den Strich zu denken und zu diskutieren. Um es mit Bertolt Brecht zu sagen: „Der Vorhang [ist] zu und alle Fragen offen.“