vonMario Zehe 29.08.2022

[ˈkɒmik_blɔg]

Der Comic – einst das Schreckgespenst des Bildungsbürgers, heute dagegen der (heimliche) Liebling des Föjetong.

Mehr über diesen Blog

„Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten.“ Je nach Gusto wird dieser Ausdruck wahlmüder Politikverdrossenheit Mark Twain, Kurt Tucholsky oder Emma Goldman zugeschrieben, freilich stets ohne jeden Beleg. Papa Dictator, dem struppig-kugelrunden Monster aus der gleichnamigen Comicreihe von Michael Beyer, mag das gleich sein, denn Wahlmüdigkeit ist dem oberfiesen Alleinherrscher einer fiktiven Bananenrepublik wahrlich nicht anzumerken. Obwohl – oder besser weil – er sich das obenstehende Argument durchaus zu eigen macht: Er setzt auf das Votum des Volkes, damit alles so bleiben kann, wie es ist.

Damit handelt Papa Dictator ganz im Zeichen der jüngsten autoritären, „illiberalen“ Wende in der Geschichte der Demokratie. Autokraten und Tyrannen (miss-)brauchen Wahlen und andere Plebiszite, um ihre faktische Diktatur demokratisch zu ummanteln. Dafür, dass alles auch genau so geschieht wie vorgesehen, muss dem Volk beim Wählen natürlich unter die Arme gegriffen werden. Es kann ja schließlich nicht einfach wählen, was bzw. wen es will.

Dazu dienen Papa Dictator in erster Linie die freundlichen, uniformierten „Wahlhelfer“ und „Wahlbeobachter“, die selbst noch in der Wahlkabine nach dem Rechten schauen, aber auch die höchstpersönlich verteilten Wahlgeschenke. Und dass eine Wahl nicht notwendigerweise auf einer Auswahl geeigneter Kandidaten beruhen muss, scheint auch selbstverständlich. Im Zweifel müssen etwaige Gegenkandidaten schon vor dem Wahltage auf der Strecke bleiben. Schwer en vouge ist auch das Raunen vom Wahlbetrug a priori, sollte sich wider Erwarten a posteriori doch eine Niederlage einstellen. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen aus Politik und Zeitgeschichte sind natürlich unbeabsichtigt und rein zufällig!

Seit beinahe zehn Jahren zeichnet und textet Michael Beyer furiose Bildgeschichten im Pixiformat über einen skrupellosen Despoten, der uns aufgrund seiner frappierenden Ehrlichkeit, entwaffnenden Tolpatschigkeit und gezeichneten Niedlichkeit mitunter gefährlich nahekommen kann. Denn mit dem Abrufen der Kategorie des Monströsen steht man immer schon tief im Reich der Projektionen: Das Bild, welches wir uns von den Trumps, Putins, Erdogans & Co. machen, hat eben auch damit zu tun, uns unserer eigenen politischen Werte zu vergewissern.

Dabei ist die Grenze zwischen Demokratie und Autokratie längst brüchig geworden, wie uns Papa Dictator mit seiner selbstbewussten Inanspruchnahme des Urnengangs – dem eigentlichen Markenkern der „Herrschaft des Volkes“ – sehr anschaulich vorführt. Das hat aber noch ganz andere, meist uneingestandene Konsequenzen. Denn wenn man den Blick gewissermaßen umkehrt, wohnen auch liberalen Demokratien zahlreiche autoritäre und regressive Momente inne (die zunehmende Elitisierung der Politik, die rigide Disziplinierung Arbeitsloser qua Hartz IV, die schamlose Plünderung und Ausbeutung des globalen Südens, das systematische Unterlaufen des Asylrechts durch sogenannte Pushbacks usw.). So gesehen wäre Papa Dictator das – wenn auch schwer entstellte – Spiegelbild unserer selbst und es stellte sich die Frage, wer hier eigentlich das Monster ist.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/comicblog/2022/08/29/das-monster-und-wir/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert