Zwei sehr einprägsame Bilder prägen bis heute die Vorstellung des Comiccowboys und beinahe kein Album – ob innerhalb der regulären Serie oder als Hommage – kommt ohne diese aus: In dem einen reitet er dem Sonnenuntergang entgegen und singt sein berühmtes Lied vom „poor lonesome cowboy, and a long way from home“. Im anderen, meist auf dem Backcover befindlichen Bild steht er seinem eigenen Schatten gegenüber, den er gerade mit einer Kugel durchlöchert hat. Wie paralysiert steht der getroffene Schatten, die Hand über den noch im Halfter steckenden Colt ausgestreckt, während sein Ebenbild aus Fleisch und Blut eben einfach schneller war. Schmauch vor dem gezogenen Colt und eine gestrichelte Bewegungslinie, die von der Mündung des Revolvers zur Einschussstelle verläuft, deuten als indexikalische Zeichen das eigentlich Unmögliche, aber eben doch Geschehene an.
„Der Mann, der schneller zieht als sein Schatten“ ist nach Asterix mit allein in Deutschland mehr als 30 Millionen verkauften Alben und zahlreichen Trick- und Realverfilmungen die weltweit bekannteste und erfolgreichste Westerncomicfigur. Einerseits nomadisch lebender Viehhirte und damit meist außerhalb bzw. am Rand menschlicher Zivilisation lebend, andererseits als Kopfgeldjäger Recht und Ordnung verteidigend bzw. wiederherstellend, so verkörpert er in seiner Person einen im (Film-)Western häufig gesehenen Widerspruch zwischen Outlaw und Gesetzeshüter, der eine eindeutige gesellschaftspolitische Einordnung der Figur des Westerners immer schon schwierig gemacht hat. Im Kosmos des Lucky Luke sind die Ambivalenzen und Ambiguitäten aber noch zahlreicher, weil die Comicserie zunächst einmal ein Pastiche des Filmwesterns ist, das zwar stark zur Parodie des Westerns tendiert, diesem aber oft genug auch huldigt und sich allein schon in dieser grundlegenden Frage (Hommage oder Satire?) nicht wirklich festlegen lässt.
Vielleicht ist es das Ziel Georg Seeßlens, mit seinem Buch LUCKY LUKE. FAST ALLES ÜBER DEN (GAR NICHT SO) EINSAMEN COWBOY UND SEINEN WILDEN WESTEN dahingehend für mehr Klarheit zu sorgen, vielleicht interessiert ihn aber auch etwas ganz anderes. In einer Frage ist der Film- und Kulturkritiker Lucky Luke jedenfalls sehr ähnlich: er schreibt Texte schneller als mensch überhaupt lesen kann, mehr als 100 eigenständige Publikationen weist der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek für ihn aus, dazu kommen kaum zu zählende Texte für (meist links stehende) Zeitungen und Zeitschriften sowie für Hörspielfeatures, von denen die allermeisten auf Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur zu finden sind. Thematischer Schwerpunkt ist dabei der Konnex von Populärkultur, Gesellschaft und Politik. Obwohl erst gegen Ende des letzten Jahres erschienen gibt es für den vorliegenden Band aus der Feder des Autors bereits zwei Nachfolger: ein Buch beschäftigt sich mit der vergesellschaftenden Wirkung des Geldes, das andere – im Februar erscheinende – geht der Veränderung von Alltag und Kultur durch Künstliche Intelligenz nach.
Seeßlen versucht das Phänomen Lucky Luke aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick zu nehmen. Naheliegend für einen Filmkritiker erhält der Filmwestern, von seiner Entstehung im späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, ein Schwerpunktkapitel („Das Westernkino“). Dabei wird weniger chronologisch vorgegangen, als vielmehr nach Bezugspunkten zur Welt des Comicwesternhelden gesucht, was aus oben genannten Gründen sehr nachvollziehbar erscheint. Noch mehr als die Figuren und filmischen Motive sind es die verschiedenen Plots, die für die Lucky-Luke-Serie einen wichtigen Bezugspunkt bilden und in einem Extrakapitel („Der Westernkanon“) gewürdigt werden: der Bau der transkontinentalen Eisenbahn, der Kampf der Viehzüchter gegen Banditen, Auf- und Abstieg großer Familiendynastien, die Kriege gegen die „Indianer“, die Rache des Geschassten, Betrogenen usw., die Geschichten der Outlaws, der Sheriffs, der Grenzgänger, der Gauner und Betrüger – all das und noch vielmehr bildet in den Alben die erzählerische Grundkomposition mal als Alleinstellungsmerkmal, meist aber in Kombination verschiedener Plotvarianten. Zudem wird zu den – aus Sicht des Autors – meist misslungenen filmischen Adaptionen (von Terrence Hill zu Till Schweiger) klar Stellung bezogen („Vom Comic zum Film, zum Cartoon – und zurück“).
In anderen Kapiteln wird die Medialität, Materialität und Zeichenhaftigkeit der Westerncomicserie beleuchtet: Da sind zum einen die comicalen Bezugspunkte, von denen BLUEBERRY, MAC COY und MANOS KELLY im ernsthaften sowie YAKARI und KLEIN ADLERAUGE im komischen Register die wohl bekanntesten sind („Western-Comics“, „Die komischen Cowboys“). Seeßlen zeigt außerdem, dass die Geschichte der Distribution der Lucky-Luke-Comics in Deutschland nicht ohne Komplikationen verlief. Ende der sechziger Jahre verlor der berüchtigte Comicverleger Rolf Kauka wegen Deutschtümelei und schlechter Wortspiele in der Übersetzung die Lizenz für die Veröffentlichung im deutschsprachigen Raum. Was diesem zuvor bekanntlich schon aufgrund seiner revanchistisch-revisionistisch anmutenden Übersetzungen der Asterix-Comics widerfuhr („Lucky Luke in Deutschland und anderswo“). Etwas akademischer, wenn auch mit neckischer Überschrift („Lucky Signs“), geht in der Ausdeutung der comicalen Zeichenwelt des Lucky Luke zu. Hier betätigt sich der Autor ganz als Semiotiker und vermisst ausgestattet mit Lineal, Zirkel und Winkelmesser ausgewählte Bilder und Bildfolgen der Serie. Nicht zuletzt werden natürlich der Westernheld selbst („Wer ist Lucky Luke?“), seine Abenteuer („Durch den Westen und so weiter“), dessen Autoren Morris und Goscinny („Die Schöpfer von Lucky Luke“) sowie deren Nachfolger – aktuell Jul und Achde – vorgestellt („Die Erben, Erneuerer und Bewunderer“).
Dass eine solch beinahe allumfassende Monografie nicht auf mehr als die vorhandenen ca. 260 Seiten ausgewachsen ist, liegt am klaren Schreibstil des Autors, der Redundanzen weitestgehend vermeidet und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren weiß. Die gesellschaftspolitische Einordnung der Serie – eigentlich eine Stärke Seeßlens – leidet allerdings etwas unter der verkürzten Form. Der Feststellung zu Beginn des Buches, dass sich jeder Westerner (also auch Lucky Luke) zwischen den politischen Polen „Rechts“ (als Teil der Eroberung des Westens) und „Links“ (als Flucht vor ihr) bewege, folgt gegen Ende das etwas lapidare Fazit, dass Lucky Luke weniger als Veränderer als vielmehr als Bewahrer der (politisch-gesellschaftlichen) Ordnung anzusehen und deshalb eher „konservativ“ sei. Wie oben bereits gesagt repräsentiert Lucky Luke aber als Outlaw und Gesetzeshüter beide Lager in einer Person. Die neueren, explizit politischen Alben des letzten Jahrzehnts sowie manche der neueren Hommagen verorten ihn – im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus, Populismus, Sexismus und Homophobie – sogar tendenziell links(-liberal). Schließlich findet sich diese Ambivalenz selbst noch im Schatten des Cowboys, der ja nicht nur – in der Tradition der romantischen Literatur – für die andere, unheilvolle Seite des eigenen Selbst steht, sondern eben auch für die Möglichkeit sich davon zu befreien. Und dass Lucky Luke, der das für das Einfangen der Daltonbrüder und der anderen Banditen ausgelobte Kopfgeld stets zum Wohle der Gemeinschaft spendet, zu den Guten gehört, wird meines Wissens nach von niemandem angezweifelt.
Georg Seeßlen: Lucky Luke. Fast alles über den (gar nicht so) einsamen Cowboy und seinen Wilden Westen, Bertz + Fischer, 272 S., Paperback.
Klasse Beitrag :-)