Nach einem Bericht des Abenteurers und Mitbegründers der Kolonie Jamestown, John Smith, soll sie sich schützend über ihn geworfen haben, als dieser von Kriegern der Powhatan gefangen genommen wurde und angeblich hingerichtet werden sollte. Die Tochter des Wahnungsenacawh („Häuptling“) habe sich seit ihrer ersten Begegnung mit Smith und anderen Siedlern für eine friedliche Koexistenz zwischen indigenen Ureinwohnern und den europäischen Neuankömmlingen eingesetzt. Als sich die Beziehungen zwischen den sozialen Gruppen drastisch verschlechterten, entschied sie sich für ein Leben in der Kolonie, konvertierte zum Christentum und besuchte sogar den englischen Königshof, bevor sie noch vor ihrer geplanten Rückkehr nach Amerika im Alter von 21 Jahren verstarb. Die Legende der Pocahontas steht im Zentrum eines Geschichtsmythos über die angeblich friedlichen Absichten der Europäer bei der Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents.
Das großformatige Comicalbum „Pocahontas“ setzt vierzehn Jahre nach der ersten Begegnung zwischen John Smith und Pocahontas bzw. drei Jahre nach deren Tod ein. Lieutenant Pitt, einstiger Vertrauter Smiths, sucht den Kontakt zu Pamuik, Pocahontas‘ Bruder und nach dem Tod ihres Vaters neuer Wahngsenacawh der Powhatan, um diesen zu Friedensverhandlungen nach Jamestown einzuladen.
Der Stammesanführer und seine Gefährten blicken skeptisch drein, aus Pamuiks Worten sprechen Misstrauen und Unverständnis über das bisherige Verhalten der europäischen Siedlerkolonisten seit ihrer Ankunft.
Fortan wird der hier begonnene Dialog, der in Form einer beinahe devot vorgetragenen Bitte des Europäers eröffnet wird, in die comicale Reinszenierung des Pocahontasmythos hineinragen und diesen von seinem Ausgang her kommentieren. Von der Ankunft der Europäer am heutigen James-River über die immer spannungsvolleren Begegnungen zwischen ihnen und den Ureinwohnern bahnt sich die Geschichte mehr oder weniger geradlinig ihren Weg zu der verhängnisvollen ersten Begegnung zwischen Smith und Pocahontas, aus der sich eine kurze romantische Beziehung entwickelt, samt oben skizzierten tragischem Ausgang.
Patrick Prugne erzählt den Pocahontasmythos mittels stimmungsvoller, sorgfältig aquarellierter Bilder neu, ohne diesen allerdings wirklich neu zu erfinden. Obwohl es dafür keine stichhaltigen Belege gibt, bleibt der Comicautor bei der Version einer – wenn auch nur angedeuteten – Liebesbeziehung zwischen der „Häuptlingstochter“ und dem Mitbegründer von Jamestown. Neben anderen kleineren Abweichungen vom Original-Mythos bzw. den historischen Quellen erscheint Pocahontas zudem – wie schon in Disneys Zeichentrickversion von 1995 – wesentlich älter als in den Quellen beschrieben, offensichtlich weil die Darstellung einer Beziehung eines zehn- bis dreizehnjährigen Mädchens zu einem beinahe dreißig Jahre alten Mann mit heutigen Vorstellungen von Einvernehmlichkeit nicht mehr zu vereinbaren wären.
Prugne knüpft mit seiner gemalten Bilderzählung an die Tradition der frankobelgischen Comics der 1970er und 80er Jahre an. Im Stile der Couleur directe arbeitet der Zeichner mit seinen Aquarellfarben direkt auf den detaillierten Vorzeichnungen und erzielt so eine impressionistisch-expressive Wirkung. Ständige Perspektiv- und Einstellungswechsel innerhalb der einzelnen Szenen (mit dem Comictheoretiker Scott McCloud gesprochen: „subject-to-subject“ und „aspect-to-aspect“) changieren zwischen Betonung des Handlungsverlaufs und der Einfühlung in die Gefühls- und Gedankenwelt der Figuren.
Mit der Ankunft der „weißen“ Siedler im Jahre 1607 zerbrach die zyklisch-mythologische Weltauffassung der Powhatan. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts hatten diese die benachbarten Stämme auf dem Gebiet des heutigen Virginia entweder mit Gewalt unterworfen oder diplomatisch an sich gebunden. Die ca. 30 Stämme umfassende Powhatan-Konföderation befand sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Nicht nur hier zeigt sich eine Parallele zur Unterwerfung und Zerstörung der Kulturen der Azteken (im heutigen Mexiko) und Inkas (Peru) durch die spanischen Conquistadoren Hernan Cortez und Francisco Pizarro einige Jahrzehnte zuvor:
Aus einem zunächst eher friedvollen Neben- und Miteinander von Ureinwohnern und europäischen „Entdeckern“ bzw. Siedlern wird aufgrund des herrischen Auftretens und der unstillbaren Gier der Letzteren ein Jahrzehnte andauernder militärischer Konflikt. Doch trotz mehrfacher Angriffe auf Jamestown mit sehr hohen Opferzahlen gelang es den Powhatan letztlich nicht, die Engländer zu vertreiben. Ganz im Gegenteil.
Mitte des 17. Jahrhunderts brach die einst mächtige Powhatan-Konföderation mit der Ermordung ihres letzten Wahngsenacawh endgültig auseinander. Das schrittweise Verschwinden ihrer Stämme bildet den Auftakt eines beinahe dreihundert Jahre andauernden Genozids an den nordamerikanischen Ureinwohnern.
Prugnes „Pocahontas“ liefert schließlich keine Dekonstruktion des Pocahontasmythos, der den Völkermord einstmals zu legitimieren half. Er verpasst zwar einerseits die Historisierung des Mythos, zeigt jedoch andererseits die wahren Motive und das zum Teil grausame Vorgehen zumindest eines Teils der europäischen Siedler auf. Die vermeintlichen „Entdecker“ entpuppten sich bald als Diebe und Mörder.