Für die Jungle World schrieb ich einen Text über den Darwinfrosch und das globale Amphibiensterben, der ja schon vom Thema her natürlich auch in den Reptilienfonds eingerührt werden muss. Ich stelle hier die ungekürzte (und unredigierte) Originalfassung ein:
Es macht nicht den Eindruck, als wäre Charles Darwin während seiner berühmten Weltumsegelung auf der „Beagle“ sonderlich begeistert gewesen von seinem mehrmonatigen Aufenthalt im Süden Chiles: „1. Januar 1835. – Es erweckt keine trügerischen Hoffnungen; ein heftiger Nordweststurm mit beständigem Regen kündigt das erstehende Jahr an. Gott sei Dank, dass es uns nicht bestimmt ist, auch sein Ende hier zu erleben, sondern dass wir hoffen können, dann auf dem Stillen Ozean zu sein, wo eine blaue Luft uns sagt, dass es einen Himmel gibt – etwas jenseits der Wolken über unseren Köpfen.“ Zu dem Zeitpunkt waren Darwin und seine Leute auf der Insel Chiloe, in der Zone der kalten Valdivianischen Regenwälder. „Im Winter ist das Klima schaudervoll und im Sommer ist es nur ein wenig besser. Ich glaube, es gibt innerhalb der gemäßigten Zonen wenige Teile der Erde, wo so viel Regen fällt. Die Winde sind sehr stürmisch und der Himmel beinahe immer bewölkt. Es ist sogar schwer, auch nur einen einfachen Blick auf die Berge zu erlangen.“
In den Wäldern selbst allerdings stieß Darwin auf einen ihm bis dahin unbekannten Frosch, der sein besonderes Interesse fand. Er vermerkte in seinem Notizbuch: „Aussehen sehr hübsch & sonderbar; Nase fein spitz zulaufend; alle Tiere mit einem Zipfel am Gelenk der Hinterbeine; wunderbar kräftig grün.“ Andere der Tiere waren cremefarben oder laubbraun, manche auch alles auf einmal. Dieser Variantenreichtum auf engstem Raum faszinierte den Naturforscher. Er schickte die von ihm gesammelten Exemplare ans Naturkundemuseum in Paris, wo die Winzlinge kurz darauf ihrem Entdecker zu Ehren benannt wurden: Rhinoderma darwinii, der Darwinfrosch, aufgrund des charakteristischen kleinen Schnauzenfortsatzes auch Nasenfrosch geheißen. Dabei ist das hübsche Aussehen der Fröschlein längst nicht das Bemerkenswerteste an ihnen. Erst gute 150 Jahre nach ihrer Entdeckung entschlüsselten Forscher nach und nach die Geheimnisse dieser Amphibien und stießen auf bislang einmalige und ebenso bezaubernde wie bizarre Eigenheiten.
Die Darwinfrösche leben inmitten kalter, aber extrem feuchter Wälder. Sie hüpfen im Unterholz umher, in der Laub- und Moosschicht. Hier ist es so feucht, dass der Laich bedenkenlos an Land abgelegt werden kann. Zu diesem Zweck treffen die Frösche sich zu einem merkwürdigen Ritual. Zunächst verläuft alles, wie man es kennt: Das Froschmännchen ruft – eher ein vogelähnliches Trillern als ein froschiges Quaken –, das Weibchen lässt sich anlocken, anschließend betastet das Männchen die potenzielle Partnerin ausgiebig, wobei es ihr auch gern über die Nase streichelt. Ist sie schließlich in richtig in Stimmung, tritt sie zu, mit der ganzen Kraft ihrer Froschschenkelchen. Unsanft wird das Männchen von der Wucht des Tritts weggeschleudert, nur um anschließend wieder heranzuhoppeln und kurz darauf wieder durch die Luft zu segeln. Erst nach einigen Durchgängen entscheidet das Weibchen sich, ob es zu Weiterem bereit ist. Was nach abwegigen Sado-Maso-Praktiken klingt, dient vermutlich einem sehr pragmatischen Zweck, wie der Forscher Klaus Busse vom Museum Alexander Koenig in Bonn kürzlich herausgefunden hat: Das Weibchen untersucht gewissenhaft die Flugeigenschaften des potenziellen Partners. Ein kleines, schlankes Männchen fliegt im hohen Bogen durch die Luft, ein stattliches, massiges Exemplar dagegen rumpelt nur ein wenig durch den Matsch. Hat sich auf diese Weise ein Männchen als echter Moppel geoutet, geht es los mit dem Amphibiensex, denn die Dickerchen werden klar bevorzugt. Der Grund dafür liegt in der Fortpflanzungsstrategie der Nasenfrösche. Zunächst wird der Laich befruchtet und an einem feuchten Plätzchen im Laub oder Moos abgesetzt. Die Kaulquappen entwickeln sich in der Gallertmasse, bis sie schließlich groß genug sind, die Eier zu verlassen. In diesem Moment, etwa zwei Wochen nach der Eiablage, kommt das Männchen zurück – und schluckt die Kaulquappen herunter. Was nach Kannibalismus aussieht, ist in Wirklichkeit Ausdruck einer hochspezialisierten Brutpflege. Die Kaulquappen werden im Kehlsack des Männchens untergebracht und entwickeln sich dort, gut geschützt vor der gefahrvollen Umwelt und ernährt über den Vater, in aller Ruhe bis zur Metamorphose. Was dann folgt, ist einer der originellsten Geburtsvorgänge im Tierreich. Es sieht aus, als bekäme das Männchen einen schlimmen Schluckauf, dann scheint es sich übergeben zu müssen und speit schließlich einen fertig entwickelten Jungfrosch ans Licht der Welt, der sich kurz verblüfft umschaut und dann davonhüpft. Der Vorgang wiederholt sich meistens drei bis sechs Mal, bis alle Jungtiere dem väterlichen Hals entstiegen sind.
Das alles ist nicht nur – zumindest nach bisherigem Kenntnisstand – einmalig unter Amphibien, die Vorgänge sind auch noch längst nicht gut verstanden. Wie genau die Ernährung und die Versorgung der Quappen mit Sauerstoff funktioniert ist ebenso unbekannt, wie sich zahlreiche weitere physiologische Fragen aufdrängen. Grundlagenforschung, die ungeahnte Nebenprodukte zeitigen könnte. Schon zahlreiche Medikamente und chemische Substanzen konnten gerade aus dem Repertoire der Amphibien gewonnen werden, allein mit einem Schmerzmittel aus der Haut des südamerikanischen Blattsteigerfrosches Epipedobates tricolor wurden bislang zweistellige Milliardenumsätze erzielt, und die Forschung steht bei der Entschlüsselung der amphibischen Substanzen noch ganz am Anfang.
Klaus Busse aber trieb lediglich die Forscher-Neugier, er wollte die Evolution dieser Brutstrategie besser erklären. Dazu sollte ein naher Verwandter dienen, der weiter nördlich in in deutlich trockeneren Regionen Chiles an kleinen Fließgewässern lebende Halbschwimmer-Nasenfrosch. Bei ihm tragen die Männchen die Kaulquappen nur kurze Zeit im Kehlsack, bevor sie die etwas gereiften Kaulquappen in einen Bach entlassen, wo sie ein ganz normales Quappenleben führen. Vermutlich stellt der Halbschwimmer also eine evolutive Zwischenstufe zum Darwinfrosch dar. Zu den vergleichenden Studien kam es aber nie. Als Busse sich im Jahr 2001 um Tiere für seine Forschung bemühte, fand er keine, nirgends. Die Frösche waren wie vom Erdboden verschwunden. Zahlreiche weitere Expeditionen ganzer Zoologengruppen folgten in den Jahren danach, aber nichts änderte sich. Es scheint so, als sei der Halbschwimmer-Nasenfrosch einfach so ausgestorben. Die Biotope, in denen er früher gefunden wurde, sind leer. Die Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel.
Ein Rätsel, dass in den letzten rund 25 Jahren zahlreichen Herpetologen – also Amphibien- und Reptilienkundlern – Kopfzerbrechen bereitete. Herrschte anfangs noch ungläubiges Staunen und schlichtes Nichtglauben vor, als aus aller Welt die Meldungen über Froschpopulationen aufkamen, die in kürzester Zeit einfach verschwanden, ohne dass ihre Lebensräume sichtbar beeinträchtigt gewesen wären, herrscht inzwischen blankes Entsetzen. Die Wissenschaftler sprechen heute davon, dass wir womöglich vor dem größten Aussterbeereignis seit dem Verschwinden der Dinosaurier stehen. Froschart um Froschart verschwindet sozusagen vor unseren Augen, in den südamerikanischen Anden ebenso wie im Nebelwald Mittelamerikas, in Australien wie in Nordamerika. Eine ganze Reihe von Arten stirbt ganz aus, andere erleben dramatische Populationseinbrüche, einige wenige sitzen zufrieden daneben und sind völlig unbeeindruckt.
In den letzten Jahren wurde fieberhaft geforscht, und die Ergebnisse sind alles andere als beruhigend. Nach wie vor ist die direkte Lebensraumzerstörung der größte Feind von Frosch und Kröte, aber bei aller Dramatik kann man diese Vorgänge wenigstens verstehen: Wo kein Wald mehr, da kein Frosch. Das geheimnisvolle Verschwinden aus scheinbar ungestörten Biotopen jedoch versetzt die Forscher in Alarmstimmung. Die genauen Zusammenhänge sind nach wie vor ungeklärt, aber es schält sich allmählich ein Bild heraus. Der Hauptverursacher der Katastrophe ist offenkundig ein Pilz. Batrachochytrium dendrobatidis heißt der Froschkiller, in Fachkreisen einfach nur angstvoll „Chytrid“ genannt. Die genauen Ausbreitungswege und die Evolution dieses Pilzes sind Gegenstand zahlreicher Theorien. Gab es ihn immer schon unter den Amphibien und ist er durch irgendwelche Umstände plötzlich zur tödlichen Bedrohung geworden? Oder wurde er durch das Wirken des Menschen aus einem stillen Winkel der Welt plötzlich global verbreitet? Etwa, so wird diskutiert, über den afrikanischen Krallenfrosch, der Mitte des vorigen Jahrhunderts weltweit für Schwangerschaftstests eingesetzt wurde und deshalb weltweit in den Laboren paddelte und mancherorts auch in die Freiheit gelangte? Oder waren es gar die Froschforscher selbst, die den Pilz bei ihren Untersuchungen von Tümpel zu Tümpel über die ganze Welt verschleppt haben?
Lange Zeit unklar bliebt auch, warum der Pilz in einigen Populationen wütet, in anderen aber keinen Schaden anrichtet. Und noch merkwürdiger wurde es, als sich zeigte, dass manche Frösche mit dem Pilz lange problemlos leben können, dann aber plötzlich von ihm dahingerafft werden.
Inzwischen ist klar, dass es nicht der Pilz allein ist, der die Amphibien meuchelt. Hinzu kommen äußere Stressfaktoren, die das Immunsystem der Tiere schwächen, sodass das Chytrid seine tödliche Kraft entfalten kann. Der womöglich wichtigste, auf jeden Fall aber bedrohlichste dieser sogenannten Stressoren ist der Klimawandel. Dabei sind es weniger die vergleichsweise kleinen mittleren Temperaturerhöhungen, sondern seine Auswirkungen auf das Lokalklima. Heißere und längere Trockenzeiten etwa als gewöhnlich bedeuten Umweltstress für Amphibien und führen zum Ausbruch der Pilzkrankheit. Wenn das zutrifft, sieht die Zukunft für die Frösche düster aus. Denn weder gegen Pilz noch Klimawandel kann kurzfristig etwas unternommen werden. Deswegen wurde eine Zwischenlösung ins Leben gerufen, die einer Verzweiflungstat gleicht: die Amphibienarche. Bei dem internationalen Projekt werden reihenweise besonders gefährdete Frösche in Zoos und Stationen untergebracht und unter künstlichen Bedingungen vermehrt. Wie auf der Arche Noah sollen die Arten also in Sicherheit gebracht werden, während draußen der Sintflut gleich Pilz und Klimawandel die Biotope leerfegen.
Auch für den Darwinfrosch ist ein solches Projekt ins Leben gerufen worden, denn das Verschwinden seines nördlichen Verwandten und der Nachweis von Chytrid in seinen Populationen lässt Schlimmes ahnen. Seit letztem Jahr werden die Tiere in einer Schutzstation, die der Zoo Leipzig in Zusamenarbeit mit der Universität Concepción errichtet hat, vor Ort nachgezüchtet, während die Wissenschaftler fieberhaft weiterforschen, um die Zusammenhänge zu entschlüsseln.
Immerhin, ein kleines Zeichen der Hoffnung wurde auf dem Deutschen Herpetologentag im September 2010 im Senckenbergmuseum in Frankfurt/Main bekannt. Forscher berichteten von Untersuchungen in Panama, bei denen sie unverhofft auf einige Frösche stießen, die seit vielen Jahren nicht mehr gesehen worden waren. Möglicherweise, so wird jetzt spekuliert, könnten bei einigen schon als ausgestorben geglaubten Arten eben doch einzelne Exemplare die Pilzattacke überlebt und Resistenzen ausgebildet haben, die nun allmählich zur Neubildung sozusagen pilzfester Populationen führen könnten. So hoffnungsvoll das zunächst auch klingt, einige Arten, soviel steht fest, werden wohl für immer verschwunden sein. Es bleibt zu hoffen, dass der Darwinfrosch mit seiner einmaligen Fortpflanzungsbiologie nicht auch bald zu ihnen gehören wird.