vonHelmut Höge 26.07.2010

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Der ostfriesische Hauptkommissar Enno Behrend studierte seine TO-Akten vornehmlich im Restaurant nach einem Matjesgericht.

Die eigentliche Aktenführung überließ er seiner langjährigen Mitarbeiterin Margret Engel, geborene Siederbohm.

1. Eine Akte anlegen und sie führen


Büttner: „Krimis können durchaus eine Lehrfunktion Richtung Polizei haben.“

Lehmann: „Auch Polizisten lesen Krimis.“

Scherer: „Und Krimiautoren studieren die Polizei, ihre Akten und was sie sonst von ihnen und ihrer Arbeit in Erfahrung bringen können – bis hin zu dem Handbuch speziell für Kriminalschriftsteller: „Von Arsen bis Zielfahndung“, das der Polizeihochschul-Dozent Manfred Büttner und die Krimiautorin Christine Lehmann kürzlich veröffentlichten.“

Hochheimer: „Im Endeffekt ist das ein geschlossener Kreislauf, oder?“


Gerade berichteten die Intelligenzblätter FAZ über den in den Ruhestand getretenen schwedischen Polizeikommissar Wallander so, als wäre Nelson Mandela gestorben. Dabei handelt es sich um eine fiktive Person – in den Krimis des Autors Henning Mankell – ein Kommissar, der  Verbrechen aufzuklären versucht, die in der Provinz Schonen spielen. Mankell hat ihn jetzt berentet weil er keine weiteren Wallander-Krimis mehr schreiben will. In vielen Ländern, so auch in Deutschland, gibt es eine „Fanpage“, auf der „sich alles um Mankells Wallander-Romane dreht“. Gut möglich, dass sie den Autor mit verbrecherischen Mitteln zwingen, Wallander weitere Kriminalfälle in Schonen zu lösen – notfalls auch als Rentner.

Mit den „Regionalkrimis“ wurde  indes bereits das schwedische Autoren-Duo Sjöwall/Wahlöö berühmt – und erfolgreich. Sie versuchten  mit ihren zehn Kriminalromanen, in denen ein „Kommissar Beck“ die Hauptrolle spielte und die zwischen 1965 und 1975 veröffentlicht wurden, ihre antikapitalistische Kritik an dem nur  scheinsozialistischen „Modell Schweden“ einer breiten Bevölkerung nahe zu bringen. Das gelang dem Ehepaar auch hervorragend – und weit über die Grenzen Schwedens hinaus. Sjöwall/Wahlöös  Literaturprojekt war ein geosoziales, nämlich über die Verbrechensaufklärung ihres Kommissars alle möglichen sozialen Gruppen des Landes in das allgemeine Blickfeld zu rücken. Die darauffolgenden Regionalkrimis mit Kommissar Wallander von Henning Mankell gelten der Kritik als subtiler, den ersten veröffentlichte er 1991, Krimis schrieb er jedoch schon seit 1973. In Deutschland fand die Regionalkrimi-Konjunktur zunächst abseits der seriösen Literaturverlage statt, diese öffneten sich jedoch schnell dem neuen Buchmarkt. Es gibt heute Regionalkrimis mit Auflagen von zigtausend – und ganze Verlage sowie Theater und Buchhandlungen, die sich auf Regionalkrimis geradezu  spezialisiert haben. Jährlich werden etwa 300 neue Krimis veröffentlicht, sie machen rund 25% des Umsatzes der deutschsprachigen Belletristikverlage aus. 400 ihrer Autoren sind in einem sogenannten „Syndikat“ organisiert, das alljährlich Preise für den besten Krimi vergibt und die „Criminale“ – ein „Krimi-Festival“ – organisiert.

Die Webseite „deutsche-krimi-autoren.de“ listet 105 Verlag auf, die Kriminalromane einschließlich „Kinderkrimis“  herausgeben. Erwähnt sei der 1984 gegründete „Emons Verlag“ in Köln, der mit seinen vierzig regionalen Krimireihen inzwischen laut Wikipedia  „Marktführer ist“. Er veröffentlicht neuerdings auch noch die erfolgreichen Folgen der  ebenfalls immer regionalistischer werdenden TV-Krimiserie „Tatort“ als Buch. Eine mediale Umdrehung, die bereits Woody Allen in ihrer Idiotie 1989 voraussah. Dem Verleger Hejo Emons sind im übrigen alle von Verbrechen handelnde Romane „Regionalkrimis“. Inzwischen werden diese schon mit Rezepten der jeweils regionalen Küche sowie mit Wanderwege-Karten verbunden. Ferner sei der ebenfalls auf Regionalkrimis spezialisierte Kasseler Prolibris Verlag von Rolf Wagner hier erwähnt. Ihm werden 4-500 Krimi-Manuskripte jährlich angeboten, sagt er. Sein Verlagsangebot ist regional sortiert. Ähnliches gilt für den Dortmunder grafit-verlag, der sich nicht einfach nur auf Regionalkrimis kapriziert, sondern auf „Ruhr-Krimis“ spezialisiert hat. Mit diesem „Lokalkolorit“ ist er geradezu „kriminell erfolgreich“, schreibt die Illustrierte „stern“.

Auch bei der vom linken „Argument“-Verlag herausgegebenen Krimi-Reihe „ariadne“ setzt man auf „Lokalkolorit“. Bei seiner Autorin Christine Lehmann stammt dieser aus Stuttgart. Dazu merkt der Krimi-Kolumnist Thomas Wörtche (auf „www.kaliber38.de“) an: „Ihre mit Ironie geschriebenen Bücher um die gendermäßig oszillierende Journalistin Lisa Nerz aus Stuttgart sind präzise Romane aus der Provinz und über die Provinz, ohne auch nur in die Nähe von ‚Regionalkrimis‘ zu kommen.“ Die Krimi-Rezensenten wissen da zu unterscheiden. „Noch nie ist ein Roman von Chandler oder Glauser oder Malet gekauft worden, weil er in Los Angeles, Bern oder Paris spielt. Bei Mankell mag es anders sein, den haben inzwischen diverse südschwedische Fremdenverkehrsämter für sich vereinnahmt, und dafür kann er einem leid tun,“ schreibt der Krimi-Autor Dieter Paul Rudolph (auf „www.krimi-couch.de“).  Aber das ist reine Distinktion – darüberhinaus ist natürlich klar, dass die „Provinz-Krimis“ aus den linken Verlagen Argument, Nautilus oder Rotbuch z.B. anspruchsvoller als die Regionalkrimis z.B. von Bastei-Lübbe sind. Aber die in diesem Kölner Verlag ihre Krimis veröffentlichende „TV-Producerin“ Henrike Heiland beackert ebenfalls die Provinz und ist auch nicht weniger „gendermäßig“ drauf. Ihre „Waffe“ ist jedoch nicht die Ironie, sondern die Esoterik, der sechste Sinn. Ihre Hauptperson, die Psychologin Anne Wahlberg arbeitet vorwiegend in Rostock und auf Usedom zusammen mit der dortigen Kripo an Kriminalfällen. Henrike Heiland ist Mitglied der „focus-online“-Mordkommission und rezensiert dort regelmäßig den „Krimi der Woche“. Während Christine Lehmann gerade zusammen mit ihrem Kollegen Wolfgang Büttner eine Nachschlagewerk für angehende Krimi-Autoren „Von Arsen bis Zielfahndung“ veröffentlichte, damit diese nicht ständig Begriffe wie „Vernehmung“ und „Verhör“ verwechseln und „Durchsuchungsbefehle“ z.B. einfach von Polizisten ausstellen lassen.

Auf die Frage von „frauenkrimis.net“, in welchem Verhältnis sie zu ihrer Hauptfigur, der „Schwabenreporterin“ Lisa Nerz, steht und wie ihre Leser diese sehen,  antwortete Christine Lehmann: „Die meisten wollen gern wissen, ob ich selbst mich in Lisa Nerz verwirkliche. Nebenbei auch, ob ich lesbisch bin. Natürlich hat Lisa Nerz Anteile von mir, aber sie ist nicht der Mensch, der ich gerne wäre oder gar bin. Als Detektivin muss sie frecher und agiler sein, sich in Todesgefahr begeben und hohe Risiken eingehen, ein Verhalten, das meiner bürgerlichen Seele fremd ist.“ In ihrer Kinder- und Mutterrollen-Ablehnung ist sie sich jedoch mit ihrer Romanheldin Lisa einig. Ähnliches darf man auch bei Henrike Heiland vermuten, wenn sie ihrer Romanheldin Anne bei einer Täter-Vernehmung sagen läßt: „Eins hab ich gelernt, wenn ein Mann sagt, dass er ein Arschloch ist, sollte man ihm das unbedingt glauben.“

Wenn man einen ganzen Schwung Regionalkrimis hintereinander wegliest, bekommt man den Eindruck, dass es sich bei den Autoren wenigstens zu einem großen Teil um „68er“ mindestens „78er“ handelt, die neben ihren politischen auch meist noch gleich ihre persönlichen Vorlieben fiktiv verwirklichen – in ihren Regionalkrimis. Dass dabei jede Menge Leichen anfallen, wird sozusagen billigend von ihnen in Kauf genommen. Anders als die der Suhrkamp-Literatur verpflichteten „68er“ und „78er“ haben diese Krimiautoren es augenscheinlich nicht nötig, sich dem Zeitgeist gemäß zu drehen und zu wenden, sondern können weiter in ihrer Trivialliteratur die Sau rauslassen. Der Zeitgeist spült ihnen dazu bloß die aktuellen Fallhäufungen und politischen Hysterien zu: Das sind militante Ökologen, die ein baden-württembergischen Kernkraftwerk  in den Ausnahmezustand treiben, und dabei vor Mord nicht zurückschrecken. Das sind südhessische Kinderschänder, Allgäuer Milchpanscher, die Russen-Mafia, die plötzlich in Ostfriesland einfällt und die japanische Mafia, die langsam aber sicher Kreuzberg durchdringt.

Zwischendurch breiten sie noch ihre persönlichen Vorlieben aus: trinken exklusive Whiskysorten, stopfen sich jedesmal eine andere Pfeife mit einem anderen seltenen Tabak, lassen sich seitenweise über den lokalen Weinanbau aus, kochen aufwendige exotische Gerichte, die genau beschrieben werden, reden mit ihrer Katze, beweisen großen Verführungscharme, begeistern sich für seltene Kampfsportarten, manchmal auch für teure Autos und setzen andauernd neuen Kaffee auf.

Gelegentlich sprang auch Behrends Frau ein, hier hat sie z.B. für das ganze MK-Team Kaffee gekocht und im Garten ihres Hauses bei Emden den Tisch gedeckt. Eigentlich wollten die sechs Ermittler schon längst da sein .Die Team-Besprechung war von ihrem Mann um 16 Uhr angesetzt worden.


2. Was heißt überhaupt Aktenführung?

Jedes wissenschaftliche, wirtschaftliche, künstlerische oder auch  kriminalistische Projekt braucht eine Aktenführung. Was bei den Bauvorhaben die Praktikanten in den Ingenieur- bzw. Architekturbüros erledigen – die „Projekt-Dokumentation“, übernimmt in einer Mordkomission (MK), die an einem „Fall“ arbeitet, der Hauptkommissar. Bei Personalmangel auch in „Personalunion“, d.h. dann ermittelt er auch noch „draußen“ mit. Als Aktenführer braucht er von allen und allem Protokolle, Kopien, Photos, Skizzen und ggf. Gutachten – zum Abheften.

Am Anfang ist die Akte noch erschreckend dünn, weil Spurensicherung und Pathologie erst noch ihre Untersuchungen beenden müssen. „Ich war just dabei, von der Akte eine Kopie für euch zu machen. So dick ist die ja noch nicht,“ sagt z.B. der Hauptkommissar einer MK in Norbert Horsts Regionalkrimi „Todesmuster“: Kirchenberg – zu zwei neu hinzugekommenen Kollegen, die noch nicht eingewiesen wurden. Der Autor ist Kriminalhauptkommissar gewesen und heute Dozent an einer  Polizeischule, war also selbst einmal und  wahrscheinlich sogar mehrmals „Aktenführer“. Weswegen er in seinem Krimi auch gerne aus der (fiktiven) „Akte“ seines Falles zitiert. Dieser besteht in „Todesmuster“ aus einem Mord in einer stillgelegten Mine in Nordrhein-Westfalen, nahe dem (fiktionalisierten) Dorf Ingsen. Und weil den Mineneingang nicht jeder kennt, deswegen spielt die Krimihandlung auch erst einmal vor allem in dem Dorf,  der Mine und ihrer Umgebung: „Ich glaube,“ sagt Chefermittler Kirchenberg, „der Täter kommt aus dem näheren Umfeld, deshalb machen wir eine ganz harte, offensive Pressearbeit, speziell für den hiesigen Bereich. Vielleicht haben wir jemanden, der was weiß oder gesehen hat, sich aber nicht traut. Also richtig auf die Sahne hauen, ans moralische Gewissen appellieren. Hier kennt doch jeder jeden, die wissen doch bestimmt mehr.“

Die eigentliche Aktenführung geschieht natürlich im Büro des leitenden Ermittlers im Polizeipräsidium. Von dort aus – und nicht vor Ort – sollten eigentlich auch die Ermittlungen geleitet werden, wie z.B. die Staatsanwältin in dem „Münsterland-Krimi“ von Stefan Holtkötter „Das Geheimnis von Vennhues“ ihrem Kriminalhauptkommissar (Hambrock) mehrmals vorhält. Der in Berlin lebende Autor Holtkötter ist auf einem Bauernhof in Westfalen großgeworden und seine bisherigen Regionalkrimis aus dem Münsterland, insbesonders seines moorigen Westteils, spielen ebenfalls jeweils in einem Dorf und unter Bauern.

Der Autor der „Havel-Krimis“ Jean Wiersch ist wie Norbert Horst ebenfalls im Hauptberuf Kriminalkommissar (in Brandenburg). Er läßt jedoch in seinen Romanen den leitenden Ermittler nie die Akte führen – auf den letzten Stand bringen. Dafür heißt es in fast allen Fällen, da polizeiliche Ermittler die Hauptrolle in einem Roman spielen: „Ich kuck noch mal in die Akte. Vielleicht haben wir was übersehen?“ Oder er oder sie „blättert zerstreut in der Akte und grübelt. Es geht irgendwie nicht weiter. Haben wir uns verrannt?“

Die Leiterin von Behrends Spurensicherungsgruppe (Spusi): Anke Bosdorf – während ihres Kuraufenthaltes in Bad Salzuflen.



In Akten werden alle wichtigen Informationen gesammelt, die für Verwaltungstätigkeiten von Bedeutung sind. Jede Verwaltung hat für die Aktenführung Vorschriften. Die wichtigsten Prinzipien sind die Vollständigkeit und die Schriftlichkeit.  Auf einer Webseite der Universität von Hamburg heißt es zum Stichwort Aktenführung: „Im Idealfall soll eine Akte ein objektives Dokument sein, das unabhängig von subjektiven Auffassungen der Personen, die in einer Verwaltung handeln, entstanden ist. Es soll außerdem so verfasst sein, dass es auch nach langer Zeit noch Auskunft über das Verwaltungshandeln gibt.“

„Quod non est in actis, non est in mundo – was nicht in den Akten steht, existiert nicht auf dieser Welt,“ sagt man unter Juristen. „Jurawiki.de“ führt dazu aus:“Was immer in Behörden geschieht, muss sich in den Akten lückenlos wiederfinden. Für die Führung von Akten gilt der Grundsatz der Wesentlichkeit und der Vollständigkeit. Im Prinzip muss sich jede Rücksprache, jedes Telefongespräch, jede Anordnung in den Akten widerspiegeln. So schreibt der große Lehrer des deutschen Verwaltungsrechts Hans J. Wolff in seinem Lehrbuch: ‚Kurzes mündliches, insbes. fernmündliches Vorbringen sowie amtliche Wahrnehmungen und Umstände, die für die Bearbeitung der Sache von Bedeutung sind, ferner mündlich erteilte Belehrungen, Anforderungen und Anordnungen sind, damit sie jedem anderen Sachbearbeiter bekannt werden, in einem Aktenvermerk mit Datum und Namenszeichen (Paraphe) kurz aufzunehmen.‘ In der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien, Allgemeiner Teil dekretiert der Paragraph 32: ‚Über die aus den Akten nicht ohne weiteres ersichtlichen Besprechungen oder Ferngespräche und über andere Ereignisse und Gesichtspunkte, die die Bearbeitung beeinflussen können, sind Aktenvermerke aufzunehmen. Der Stand einer Sache muss jederzeit aus den Akten vollständig ersichtlich sein‘.“

Von der zentralen Aktenführung unterscheidet sich die „dezentrale“. Über sie heißt es auf Wikipedia:“Eine dezentrale Aktenführung ist bei größeren Behörden unerlässlich. Die Akten werden nach Organisationseinheiten geführt, die die aktenführende Stelle bildet. Entsprechend zahlreich sind die Aktenbestände. Jeder Aktenbestand enthält nur das bei der jeweiligen Organisationseinheit angefallene Schriftgut und wird nach den Ordnungsvorschriften der Behörde einheitlich geführt, wobei der gesamte Aktenplan zur Verfügung steht. Die Aktenbestände aller aktenführenden Stellen einer Behörde ergeben dann theoretisch den Gesamtaktenbestand.“

Was ist ein Aktenplan? „Die Regelung der systematischen Ordnung des gesamten Schriftgutes (der Akten) einer Verwaltung, eines Unternehmens oder einer sonstigen Organisation. Ziel des Aktenplanes ist die übersichtliche, nachvollziehbare und wirtschaftliche Ordnung des Schriftgutes. Der Aktenplan ist Teil der Registraturordnung (RegO). Allerdings können Aktenplan und Registraturordnung auch getrennt voneinander existieren. In Deutschland müssen nach § 11 Abs. 2 Informationsfreiheitsgesetz (IFG) die Aktenpläne von Bundesbehörden allgemein zugänglich sein. Wenn ein Aktenplan ausschließlich für eine Organisationseinheit einer Behörde Gültigkeit hat, wird er als Teilaktenplan bezeichnet. Gilt der Aktenplan für die gesamte Behörde, spricht man vom Gesamtaktenplan. Der Einheitsaktenplan wird in mehreren Behörden angewandt.“ Neuerdings gibt es natürlich auch noch eine „elektronische Aktenführung“.

Im Gegensatz zu den polizeilichen Chefermittlern hat der Regionalkrimi-Autor bei der Führung einer Akte über den Fall, aus dem er gerade einen neuen Roman macht, sehr viel mehr Freiheiten. Deswegen gehören diese Schriftsteller  auch zu den „Kreativen“ – mit viel Phantasie. Die „Stuttgart-Krimi“-Autorin Christine Lehmann gibt in diesem Zusammenhang allerdings zu bedenken, das die Wirklichkeit oftmals viel interessanter und spannender ist als die Phantasie der Kriminalschriftsteller. Statt auf eine „Akte“ verlassen sich nicht wenige – wie auch schon der Soziologe Niklas Luhmann – auf einen „Zettelkasten“. Dazu sei die Lektüre von Markus Krajewskis Studie „Zettelwirtschaft: Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek“ empfohlen, in der es nicht nur um Niklas Luhmann, sondern auch um Arno Schmidt geht. Außerdem hat Krajewski mit „synapsen“ auch gleich noch eine digitale Version des Zettelkastens entwickelt.

Manche Krimiautoren gehen so weit bei einem neuen Roman, dass sie wie die MK (Mordkommission) bei einem neuen TO (Tatort) eine Pinnwand einrichten, auf denen sie mit Photos, Stecknadeln und mehrfarbigen Edingstiften eine Übersicht auf ihren Fall herstellen (wollen). Die Leiterin der Mordkommission, Beate Stein, in dem „Ruhr-Krimi“ von Sabine Deitmer „Scharfe Stiche“ läßt sich dazu von der Sekretärin ihrer Abteilung extra Photos von Personen aus der Boulevardpresse ausschneiden, die sie an der Pinnwand in ihrem Büro befestigt. Die Photos stellen die möglichen Täter dar und werden von ihr rund um das „Opfer“ gruppiert, das ein  Schweinekopf symbolisiert – weil es sich dabei um einen Schönheitschirurgen handelt, der bei einer Patientin eine Operation verpfuscht hat, die sich deswegen an ihn rächt, indem sie ihm Schweineohren annäht. Seine Leiche legte sie anschließend vor sein Institut.

Um Schönheit geht es auch in dem „Stuttgart-Krimi“ der Literaturwissenschaftlerin Christine Lehmann: „Gaisburger Schlachthof“ – in dieser ehemaligen Tötungsfabrik hat sich ein Fitness-Studio für Reiche etabliert. Die Autorin nennt dieses Milieu, in dem dann eine Aerobic-Trainerin ermordet wird, „Die Welt der Wohltrainierten“. Umgekehrt verhält es sich mit der Dokufiction des Berliner Filmregisseurs Andrew Hood „Die Binningerbirne“: Er recherchierte das wirkliche Leben des Erfinders einer fast unsterblichen Glühbirne: Dieter Binninger, der mit seinem Flugzeug abstürzte. Zwar konnte Andrew Hood diesen „Unfall“ zur richtigen Zeit, Binninger hatte kurz zuvor bei der Treuhand eine Kaufooferte für das Ostberliner Glühlampenwerk abgegeben, nicht restlos aufklären, dafür verliebte er sich in die Tochter von Binninger, die als Aerobic-Trainerin in einem westdeutschen Fitness-Center arbeitete.

Es gibt auch noch einen „Berlin-Krimi“, der sich mit dem Mord an einen Schönheitschirurgen beschäftigt: „Operation Schönheit“ von Barbara Ahrens. Alle drei hier erwähnten Romane beschäftigen sich mit dem noch immer aktuellen Schönheitswahn, der immer mehr Menschen dahin treibt, sich einer oder mehrerer Schönheitsoperation zu unterziehen. Die Autorinnen haben sich dazu gründlich in diese „Problematik“ (bei Ahrens kommen noch „Brustkrebs“ und „Implantate“ dazu) eingearbeitet – und wahrscheinlich gleich mehrere „Akten“ zu diesem Thema angelegt.

Das gilt auch für viele andere Krimiautoren, die über die Medien von einem neuen  Phänomen erfahren (Russenmafia, Chinesenmafia, Stasi, Pädophilie, rumänische Banden,  Schulamokläufer etc.), und sich überlegen, ob sie daraus einen Kriminalfall machen sollen, den sie dann wie gewohnt in ihrer „Region“ passieren lassen. „Und wenn eine junge Lokaljournalistin reflexartig die Frage stellt: ‚Wie kommen Sie darauf, eine islamistische Terrorzelle in Christazhofen anzusiedeln?‘ antwortet der Regionalkrimi-Autor versiert: ‚Die Idylle trügt‘.“ (Christine Lehmann in einem Essay über den „Regionalkrimi“ in: „titel-magazin.de“. Sie sieht in diesem Subgenre eine „Diskrepanz: „den Gegensatz zwischen Fachwerkfassaden und Weltverschwörung“ am Werk)

Eine der vier Verdächtigen in diesem Fall. Vergeblich hat die Zielperson versucht, unerkannt zu bleiben.

Behrends beste Mitarbeiterin in der MK, Dorothea Wandler, observiert sie unauffällig.



Eine ganz ähnliche, aber weit weniger „lächerliche Dikrepanz“ tut sich in dem o.e. „Münsterland-Krimi“ von Stefan Holtköter „Das Geheimnis von Vennhues“ auf: Der Hauptkommissar Peter Bodenstein kommt aus Vennhues, wo er auch ermitteln soll und will. Dabei entsteht ein interessanter Konflikt zwischen der Moral der Dörfler und der der Polizei, welcher in diesem Fall bis in die Familie des Ermittlers reicht. Erstere Moral gehorcht, wenn man so will, einer Beziehungslogik und letztere einer statistischen. Land und Stadt: von außen kommender und nach draußen abgeschobener Sündenbock versus mit statistischen Möglichkeiten ermitteltes Täter-Profil. Der Autor ist für diesen Konflikt biographisch gut präpariert: im Dorf  einst aufgewachsen und jetzt in der Großstadt lebend bzw. schreibend.

Erst einmal mündet die Romandidee, der  „Anfangsverdacht“ des Schriftstellers, in das Anlegen einer neuen „Akte“, in die das  ganze „Hintergrundmaterial“ reinkommt. Dazu gehören dann auch Details über die „Scenen“ von Opfer, Tätern und Ermittler: d.h. „Milieustudien“. Die Dozentin Gabriele Dietze hat etliche Jahre lang am FU-Institut für Amerikanistik anhand der in US-Krimis geschilderten „Scenen“ versucht, eine sozioökonomische Analyse der amerikanischen Gesellschaft zu erstellen.

Bei Krimiautoren wie bei Kriminalermittlern heißt es irgendwann nach Anlegen solcher oder ähnlicher Akten, dass sie versuchen, „ein bisschen Ordnung in die Akte zu bekommen“. (Norbert Horst, „Todesmuster“, S. 110). Wobei erstere wie gesagt, freier als die letzteren bei der Bestimmung dessen sind, was diese Ordnung ausmacht. Sie können nach eigenem Gutdünken vorgehen oder auch die Übersicht dabei verlieren – wenn sie sich z.B. allzu viele Internet-Seiten ausgedruckt haben, die einsortiert werden müssen. Bei den Kriminalermittlern wird die Akte nicht zuletzt für die Staatsanwaltschaft angelegt, denn wenn es heißt „Morgen können wir den Fall abschließend – und dem Staatsanwalt übergeben“, dann geschieht das stets in Form einer „Akte“. In gewisser Weise endet jeder Kriminalroman mit dieser Akten-Übergabe. In den zwei „Regionalkrimis“ von Cäcilia Balandat ( „Tatort Altes Land“ und „Verratenes Dorf“), die beide unter den Obstbauern im „Alten Land bei Hamburg spielen, ist davon jedoch an keiner Stelle die Rede: Dafür ist die ermittelnde Hauptkommissarin Celia Dörfer mit dem Staatsanwalt Jaron Karloff liiert und statt einer „Aktenführung“ stößt man in ihren Krimis immer wieder auf seitenlange  Verführungscenen mit den beiden. „Der bundesdeutschen Wirklichkeit nähern wir uns so nicht,“ würde Christine Lehmann dazu wahrscheinlich sagen. Ähnliches gilt für den brandneuen „Eifelkrimi“ der Literaturwissenschaftlerin Ulrike Renk: „Lohn des Todes“, in dem es seitenlang ausgeführte Beziehungsstreitereien zwischen den  Protagonisten Constanze, eine Kinder- und Jugendtherapeutin und ihrem Freund Martin gibt, der an einem Institut für Rechtsmedizin arbeitet und an der Aufklärung von Mordfällen beteiligt ist. Als einer der an einer „operativen Fallanalyse“ beteiligten Kripo-Beamte Constanze um Mitarbeit bittet, sie aber unsicher ist, sagt er zu ihr: „Vielleicht hilft es dir, eine Entscheidung zu treffen, wenn du dich mit der Akte befaßt.“

Ganz in der Nähe haben zwei weitere Mitarbeiter in der MK von Behrend – Anne Postel und Elfi Jagsfeld – Posten bezogen. Anne Postel hat zur Tarnung (Gassigehen)  ihren Dackel mitgenommen.


3. Die Notwendigkeit mehrere Akten anzulegen

Theoretisch muß nur der polizeiliche Ermittler und nicht der Krimiautor „in alle Richtungen ermitteln“, praktisch ist es jedoch genau andersherum: Wie im Journalismus und in der Wissenschaft kapriziert sich auch der Kriminalkommissar nur allzu schnell auf eine „Hypothese“, die er dann auch schon bald „Spur 1“ nennt, was gleichbedeutend mit einem „Hauptverdächtigen“ ist, wobei er alle anderen „Spuren“ und Möglichkeiten vernachlässigt, während der Krimiautor in seiner Phantasie immer noch mehr Möglichkeiten durchspielt: „Wie soll es weitergehen?“

Im Folgenden ist von einer fatalen, vorschnellen Festlegung auf einen Hauptverdächtigen – in einem „True Crime“- die Rede:

In der Nacht von Freitag auf Faschings-Samstag wurden in  Volkartshain drei Frauen mit einem stumpfen Gegenstand bewußtlos geschlagen und dann mit einem Hirschfänger erstochen. Bei den Ermordeten handelte es sich um eine Großmutter, die Mutter und die zwölfjährige Tochter.

Ein Jahr zuvor hatte die Familie das Haus der anderen, bis dahin alleinlebenden Großmutter väterlicherseits verkauft. Diese hatte daraufhin im nahen Dorfteich Selbstmord begangen. Das Seltsame an ihrem Wassertod, den auf dem Land schon viele Frauen wählten, bestand nach Meinung der  Dorfbewohner darin, dass das Wasser im  Teich nur knietief war. Auch das scheint nichts Ungewöhnliches zu sein: 1992 berichtete Erwin Strittmatter von einem ähnlichen Wassertod einer alten Frau bei Gransee – in seinem letzten Buch “Vor der Verwandlung”. Vielleicht hat er dabei aber auch einfach den Volksartshainer Fall genommen und ihn in seinem Dorf gewissermaßen neu angesiedelt? Ein halbes Jahr nach dem Selbstmord der Großmutter im Dorfweiher starb ihr Sohn an einem Herzinfarkt. Nach der Beerdigung des Mannes fing die Frau an, die Landwirtschaft aufzulösen. Ein paar Tage vor ihrer Ermordung hatte sie den Traktor für 18.000 Mark verkauft, das Geld aber nicht auf die Bank gebracht, stattdessen hatte sie noch 2500 Mark abgehoben. Man vermutete deshalb einen Raubüberfall. Der Täter mußte das Geld gesucht haben, da alle Zimmer des Hauses durchwühlt waren.

Mit zeitweise bis zu 40 Polizisten quartierte sich die Mord-Kommission im Dorfgemeinschaftshaus ein, ,,darunter drei der angeblich fähigsten LKA-Beamte: M. Engel, T. Treibel und C. Werner. Alle Telefone wurden abgehört, die Freiwillige Feuerwehr Grebenhain durchsuchte mit Leitern sämtliche Dachrinnen nach der Mordwaffe, ein paar Mal kreisten Hubschrauber über dem Dorf, der Jagdverein Oberer Vogelsberg durchkämmte die verschneite Umgebung nach Spuren. Im Haus hatte man nur ein Indiz gefunden: einen Fußabdruck, Größe 44. Jeder erwachsene Mann im Dorf mußte sich im Lithoverfahren einen Fußabdruck nehmen lassen, auch einige Frauen wurden nach ihrer Schuhgröße gefragt.

Als ersten Verdächtigen verhörte man den im Dorf nicht besonders beliebten Schäfer, der mit seinem Pkw in der Mordnacht durchs Dorf gefahren war. Er hatte seinen Sohn – einen Bäckerlehrling – zur Arbeit gebracht. Am vierten Tag ihrer Untersuchung fand die Polizei die 18.000 Mark. Das Geld war im leerste- henden Zimmer des ältesten Sohnes versteckt worden. Der Sohn sowie zwei weitere Geschwister lebten schon seit längerem nicht mehr im Elternhaus.

In der Mordnacht feierte der Volkartshainer Tischtennisverein eine Faschingsparty. Die zwölfjährige Tochter war bis zehn Uhr auf dieser Party gewesen. Als sie nach Hause ging, vergaß sie die Handtasche dort, die einige Mädchen ihr kurze Zeit später nachtrugen, aber sie fanden die Haustür bereits verschlossen vor.

Der Volkartshainer Ortsvorsteher Oskar fungierte als Vermittler zwischen dem ermittelnden Polizeistab und den immer unruhiger werdenden Dorfbewohnern. Da man an der Raubmord-Theorie festhielt, kam als Täter eigentlich nur jemand in Betracht, der von dem Bargeld gewußt haben mußte. Bald fühlte sich jeder im Dorf schuldig, und fast jeder war verdächtig. Während man einen Künstler, der oberhalb des Dorfes lebte, zum Verhör abholte, brannte ihm sein halbes Atelier ab, er war gerade beim Ofenreinigen gewesen. Ein weiterer Künstler von unterhalb des Dorfes stellte sich, während er verhört wurde, den Beamten als Phantom-Fußzeichner zur Verfügung. Jeder Erwachsene im Dorf bekam erst einmal ein Formular ausgehändigt, auf dem er sein Alibi für die Mordnacht aufschreiben mußte. Tagsüber standen die Leute in kleinen Gruppen auf der Dorfstraße zusammen und diskutierten den Fortgang der Ermittlungen. Einige schafften sich heimlich Waffen an, nachts wurden die Türen abgeschlossen und die Rolläden heruntergelassen. Diejenigen, die in abgelegenen Häusern wohnten, trauten sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr in ihre Scheunen, Besucher mußten sich mit einem vorher vereinbarten Hupsignal ausweisen.

Auf der Post sagte eine Frau: “Ja also, warum konnte der Täter nicht wenigstens das Kind leben lassen?” Eine andere: ,,Wenn so einer zu mir käme, ich würde ihm doch sofort das Geld geben. Geld bekommt man immer wieder, aber das Leben…”

Im letzten Haus auf der rechten Seite der Dorf-Hauptstraße nahm der kleine Sohn einen Telefonanruf entgegen: ,,Ihr kommt als nächstes dran!” wurde ihm gesagt. Die Familie war so verstört, daß zwei junge Leute aus der Nachbarschaft Nachtwache im Haus halten mußten.

Gegen Morgen hielt ein Auto im Dorf, der Fahrer stieg aus, leuchtete mit einer Taschenlampe das Haus gegenüber ab, ging dann zu seinem Wagen zurück und fuhr weg. Die Nachtwache beobachtete ihn durch die Vorhänge. Bei der Gederner Flugzeug-Firma meinten einige: ,,Das muß der Künstler von unterhalb des Dorfes gewesen ein!” Ein anderer widersprach: ,,Der, für den lege ich meine Hand ins Feuer!” Der Tankstellenwart in Hartmannshain war der Ansicht, die Polizei habe alles falsch gemacht, die hätte in der selben Nacht noch Spürhunde einsetzen müssen. Andere ergingen sich in neue Theorien über den Täter: Vielleicht war es ein kurz vor der Mordnacht aus dem Kölner Gefängnis ausgebrochener Gewalttäter, der zufällig in das Dorf gekommen war und eigentlich in ein ganz anderes wollte?! Es ging das Gerücht um, daß die ermordete Mutter in der Mordnacht nackt durchs Dorf gelaufen sei, von einem Betrunkenen verfolgt. Ein anderes Gerücht besagte, daß irgendjemand angeheuert worden war, die Großmutter zu töten, um an die Erbschaft ranzukommen, den Haustürschlüssel hätte der Täter von einem der drei außerhalb lebenden Enkel bekommen. Die Polizei verhörte den Verlobten der ältesten Tochter: Helmut Vogel.

Bei der Beerdigung der drei Toten, die von mehreren hundert Leuten besucht . wurde, kam es zu einem merkwürdigen Vorfall: Auf der großen Fichte nahe der Friedhofsmauer saßen drei schwarze Vögel. Als der erste Sarg heruntergelassen’ wurde, verschwand einet der Vögel, nachdem man die nächsten zwei Särge zusammen ins Grab gesenkt hatte, verschwanden auch die anderen beiden Vögel. Während der ganzen Beerdigungszeremonie kreiste ein Raubvogel über dem Friedhof. Mehrere Frauen aus dem benachbarten Völzberg waren von der Trauerfeier so mitgenommen, daß sie noch anderntags weinten. Die Pastorin sprach in ihrer Predigt davon, daß der Mörder hoffentlich bald gefunden werde, damit wieder Ruhe im Dorf einkehre, dann fügte sie noch hinzu, daß der Täter sich vielleicht sogar unter ihnen befände. Ein paar Tage später schimpfte der Ortvorsteher über den Bildzeitungs-Journalisten – ein so netter und freundlicher junger Mann, der sogar die Beerdigung besucht und dann so eine haarsträubende Geschichte geschrieben hatte, an der alles falsch war. ,,Da hat nichts zusammengepaßt – seine Nettigkeit und seine Verlogenheit.” Der Verlobte der ältesten Tochter wurde erneut verhört. In Freiensteinau fand ein Bäcker eine blutverschmierte Hose.

Im Nachbardorf hieß es: ,,In Volkartshain bringen sie sich gegenseitig um. Das sind sowieso alles Zigeuner dort.” (Das Dorf war vor Jahrhunderten einmal von Jenischen gegründet worden.) Der Krankenpfleger Walther besuchte eine Versammlung der Grünen in Grebenhain. Man redete an dem Tag gerade über die Solidarität mit dem Hungerstreik der RAF und über die Besetzung eines Büros der Wiesbadener Grünen durch RAF-Sympathisanten. Einem stillen älteren Herrn wurde das zu viel, er sprang auf und sagte erregt: ,,In Volkartshain bringen sie sich gegenseitig um und hier ist ja auch einer aus Volkartshain anwesend!” Dann verließ er den Saal. Ein Kneipenwirt aus Gedern meinte zu seinen Gästen: ,,Die Volkartshainer sind alles Zigeuner, die halten zusammen, deswegen wird das auch nie aufgeklärt werden.” Im Dorf erinnerte man sich an das alte Bauernsprichwort: Wenn ein Toter über Sonntag liegt, zieht er einen nach sich. Tatsächlich starben in den Wochen darauf zwei ältere Volkartshainer in der Nacht vom Freitag auf Samstag.

Die Polizei konnte mit Hilfe eines Orthopäden angeblich den Verlobten der ältesten Tochter als denjenigen überführen, von dem der blutige Fußabdruck stammte. Man hörte, er hätte ein Teilgeständnis abgelegt: Er hätte in der Mordnacht sehr viel getrunken und sei dann in dem Haus, in dem die Morde passiert waren, eingeschlafen und dann von den Schreien der Frauen aufgeweckt worden. In der Frankfurter Rundschau sprach ein Journalist sofort von dem ,,ehemaligen” Verlobten der Tochter. Die Volkartshainer waren dagegen überzeugt, daß die Tochter von der Tat ihres Freundes zumindest gewußt haben mußte: ,,Sie muß ihm doch die blutigen Socken und die Hose gewaschen haben! Oder wenn er sie verbrannt hat, dann muß sie doch gemerkt haben, daß die fehlen!”

Ein Zuhörer schüttelte bedenklich den Kopf – nicht nur, daß seine Freundin es nicht merken würde, wenn ihm sämtliche Socken und Hosen fehlen würden, selbst wenn er ihre nähme, würde sie es lange Zeit nicht bemerken. Diesen Einwand äußerte er jedoch nicht laut. Jemand bemerkte über den Umstand, daß der Täter vielleicht betrunken gewesen war: ,,Zwei Kisten Bier und vier Flaschen Schnaps, da kommt der am Ende noch in die Psychiatrie und wird behandelt.” Die Vorstellung einer solchen ,,Behandlung” des Täters wecke archaische Erinnerungen an alte Lynchjustiz-Tage. Verschiedene Methoden wurden kurz andiskutiert. Das ganze Gespräch erinnerte immer mehr an die Gründungsversammlung einer Bürgerwehr.

In der Lauterbacher Hohaus-Bibliothek fand sich ein alter Aktenordner ,,Volkartshain” – mit Zeitungsausschnitten. Über Bürgermeister Kempels erste Geldbörsen-Fabrik nach dem Krieg beispielsweise. (Warum bloß ausgerechnet ,,Geldbörsen”?) Dann über die zwei ,,Helden von Volkartshain” – zwei amerikanische Piloten, denen es gelungen war, bei einem Übungsflug ihr brennendes Flugzeug nicht über Volkartshain abstürzen zu lassen. Außerdem wurde der Ort mehrmals im Zusammenhang mit der Kampagne ,,Unser Dorf soll schöner werden” erwähnt. Ferner fanden sich einige Abschriften aus alten Kirchenbüchern: Welche Offiziere bei welchem Schäfer oder Bauern einquartiert waren, auf dem Rückzug der napoleonischen Truppen aus dem Osten. Dem Pfarrer hatte einer der französischen Offiziere eine persönliche Widmung auf die Rückseite eines Silbertellers geritzt. Und dann war noch von einer Volkartshainer Magd die Rede, die ihr neugeborenes Kind umgebracht hatte und die deswegen in Geldern aufgehenkt worden war. Der damalige Pfarrer sprach davon, daß man allgemein sehr zufrieden mit ihr war, da sie gefaßt und reuig auf den Richtplatz ging.

Im Lauterbacher Café sagte jemand am Nebentisch: Die Polizei hat in der Wohnung des Verlobten der Tochter 14.000 Mark gefunden – zwischen den Rolläden und im Werkzeugkasten versteckt. Tatsächlich hatte die Polizei das Geld bei einem Freund gefunden, wobei dessen Großvater ausgesagt hatte, er hätte die Summe seinem Enkel geschenkt.

Der Künstler unterhalb des Dorfes erkundigte sich auf einer  Fahrt nach Frankfurt bei einem Tankwart in Büdingen, ob es was Neues über den Volkartshainer Mord gäbe, woraufhin der Tankwart sofort der Polizei die Autonummer des Künstlers durchgab. Nach circa drei Wochen wurde der Presse der genaue Todeszeitpunkt bekanntgegeben: zwischen zwei und drei Uhr morgens waren die drei Frauen ermordet worden. Außerdem erwähnte der Polizeisprecher, daß sie eine ,,Rufprobe” im Haus durchgeführt hätten – man könnte draußen keine Schreie von drinnen hören. In zwei Monaten werde man Anklage gegen den Verlobten der Tochter erheben, der nach Ziegenhain überführt worden sei.

Die Lauterbacher Staatsanwältin ergänzte: Bei der Fußspur sei man sich aufgrund des orthopädischen Gutachtens nahezu hundertprozentig sicher. Die Polizei räumte das Dorfgemeinschaftshaus. In dem zum Partyraum umgebauten Schweinestall des Ortsvorstehers fand noch einmal eine Dorfversammlung statt. Später erfuhr man, daß die Tochter nach wie vor zu ihrem Verlobten hielt, desgleichen ihr älterer Bruder. Sie hätten ihm einen ,,exquisiten Rechtsanwalt” besorgt. Im Dorf konnte man es noch immer nicht fassen, daß der mutmaßliche Täter sowohl auf der Beerdigung als auch beim Gottesdienst anwesend gewesen war. Einige wollten ·gesehen haben, wie seine Hände zitterten und daß er die ganze Zeit am Grab den Kopf gesenkt hielt. Während der Trauerfeierlichkeiten hatten sich circa 100 Polizisten in der Umgebung versteckt gehalten, da sie hofften, der Täter würde sich während der Beerdigung zu erkennen geben. Helmut Vogel hatte mittlerweile sein Teilgeständnis widerrufen und noch kein neues abgelegt. Seine Nachbarin würde nach wie vor ihre Hand für ihn ins Feuer legen — ,,so ein netter Kerl! Der kann das nicht gewesen sein!” Ein Mann im Dorf meinte: ,,Wenn man mal drüber nachdenkt, der hat mehr als zwei Prozent der Dorfbevölkerung umgebracht.” (Volkartshain hat 157 Einwohner) Ein anderer sagte: ,,Vielleicht war er wirklich halb bewußtlos im Suff dort und ist dann durchgedreht, als die drei Frauen ihn entdeckten?!” Nach einer Weile fügte er hinzu: ,,Irgendwie scheint die Tragödie in der Familie schon damit angefangen zu haben, daß die Großmutter wegen des Hausverkaufs im Dorfteich Selbstmord beging…”

Am vierten Tag ihrer Untersuchungen hatte die Polizei die 18.000 Mark unangetastet in einer Schreibtischschublade im Dachzimmer des Hauses gefunden. Der leitende Oberstaatsanwalt Matzke kam wenig später in der “Fuldaer Zeitung” zu Wort: “Wenn der Täter nach 48 Stunden noch nicht gestellt ist, vermindert sich die Chance im Quadrat zur fortschreitenden Zeit”. Eine äußerst präzise Angabe eines Experten. Die Sonderkommission im Dorfgemeinschaftshaus hatte mittlerweile ihre ,,Spur 1″.

Bei ,,Spur 1″ handelte es sich um den Verdacht gegen Helmut Vogel, ein 22jähriger Tischler, den Verlobten der außer Haus lebenden ältesten Tochter der Ermordeten. Die beiden wohnten im Nachbardorf in Mauswinkel, in einem Neubau, den der Verlobte einige Jahre zuvor mit finanzieller Hilfe seiner Eltern errichtet hatte. Da es zwischen seinen Füßen und den am Tatort gefundenen Abdruck eine gewisse Ähnlichkeit gab, hatte man ihn zu Anfang schon einmal vernommen, aber er war in der Tatnacht auf der Generalversammlung der Freiwilligen Feuerwehr gewesen und besaß damit ein Alibi bis kurz vor zwei Uhr. Laut Gutachten eines Gerichtsmediziners mußten die Morde früher passiert sein. Nachdem man ein zweites gerichtsmedizinisches Gutachten eingeholt hatte, das die mögliche Tatzeit bis in die frühen Morgenstunden schob, konzentrierte man sich noch einmal und intensiver auf ,,Spur 1″.

In der dritten Woche ihrer Ermittlungen war die Polizei dann so weit: sie verhaftete den Verlobten als ,,dringend tatverdächtig”. In Volkartshain atmete man auf, endlich hatte sich ein Fahndungserfolg gezeigt. In Mauswinkel war man dagegen anfänglich nicht von der Schuld des Verhafteten überzeugt. Man kannte ihn als ,,fleißig, zuverlässig und ruhig”, er trank höchstens mal ein, zwei Cola-Cognac, gelegentlich fuhren seine Verlobte und er ins Nachbardorf Fischbom, um dort in einer Kneipe je einen Hamburger zu essen, die meiste Zeit und Energie steckten sie in ihren Hausbau. Er arbeitete im Dorf bei einem christlichen Tischler, der nur Positives über ihn berichtete. Als man von einem Teilgeständnis erfuhr, das er in seiner Aussage gemacht haben soll, redete man von einem möglichen ,,Black-Out”.

Der Angeklagte wird nach Fulda überführt. Seine Verlobte besorgt ihm einen Rechtsanwalt – Dr. Fischer aus Frankfurt – und der zieht wegen der Kompliziertheit des Falles einen zweiten berühmten linken Anwalt hinzu: Sebastian Cobler.

Helmut Vogel hat schon zuvor sein Teilgeständnis widerrufen. Der Staatsanwaltschaft ist das Motiv ,,nach wie vor unklar”. Desungeachtet eröffnet man nach über einem Jahr aufgrund der Indizien den Prozeß gegen Helmut Vogel.  Die beiden Anwälte sind von der Unschuld ihres Mandanten überzeugt und versuchen nachzuweisen, daß alle Experten, die gutachterlich die Rekonstruktion des vermutlichen Tatablaufs für die Anklage gegen Helmut Vogel abgestützt haben, nur unzulänglich die gravierenden Mängel der Ermittlung kaschieren. In detektivischer Kleinarbeit deckten die Anwälte an den ersten zehn Verhandlungstagen eine Fragwürdigkeit nach der anderen auf.

Das begann mit den Fußanalysen des Orthopäden, nachdem zuvor die Verteidiger nachgewiesen hatten, daß der Gutachter bei seiner Statistik geschlampt hatte und einmal sogar einen rechten Fußabdruck vom Tatort mit dem linken Fuß des Angeklagten verwechselt und dabei eine ,,hundertprozentige Übereinstimmung” festgestellt hatte. Schon zuvor war ,,Heiterkeit” im Gerichtssaal aufgekommen, als einer der als Zeuge aufgetretenen Alsfelder Kripo-Beamte, die die Untersuchung in Volkartshain geleitet hatten, aussagte: Mehrere seiner Kollegen hätten ,,wegen durchfeuchteter Schuhe” das Mordhaus auf Socken nach Spuren durchsucht. Diese Tatsache fand sich an keiner Stelle in der knapp l.OOOseitigen „Akte“ vermerkt.

Nur auf einem Foto, das die Alsfelder vom Tatort gemacht hatten, bevor die LKA-Spurensicherungstruppe aus Wiesbaden angerückt war, sah man einen bestrumpften Fuß, der aus Versehen mit aufs Bild gekommen war. Der Zeuge bestritt, daß es Absprachen unter den Beamten gegeben habe, dieses Detail vor Gericht zu verschweigen. Aber nur einer von ihnen hatte ,,für den Notfall” Abdrücke von seinen Füßen anfertigen lassen. Der Orthopäde, der anscheinend von der polizeilichen Präferenz für ,,Spur 1″ überzeugt werden konnte (er sprach im Gutachten bsp. vom ,,Fuß des Täters”, wenn von Helmut Vogels Fuß die Rede war), hatte die Fußabdrücke des Beamten gar nicht erst mit den am Tatort gefundenen verglichen.

Die Verteidiger beantragten die Ablehnung des orthopädischen Gutachters wegen Befangenheit. In der darauffolgenden Sitzung stellten sie erneut einen Antrag: auf Nicht-Verwendung der Aussagen ihres Mandanten bei den Vernehmungen durch die Alsfelder Polizei und der Lauterbacher Haftrichterin. Nach Studium der Protokolle darüber in der „Akte“ waren sie zu der Ansicht gelangt, daß Helmut Vogel. von den Beamten ,,getäuscht, genötigt und gequält” worden sei. Diese hatten ihn am 5. März ‘85 vom Frühstückstisch weg im Haus seiner Eltern verhaftet und mit Unterbrechungen 14 Stunden lang verhört. Schon auf der Fahrt zum Verhör sagte man ihm, daß man die Tatwerkzeuge schon finden werde, und wenn man dazu mit einem Bagger sein ganzes Haus und das seiner Eltern abtragen müsse. Für jemand, dessen Denken zu einem großen Teil um den Bau seines Hauses kreiste, eine fürchterlicheDrohung. Schließlich wurde ihm auch noch mitgeteilt, daß das Gutachten des Orthopäden zweifelsfrei seine Schuld bewiesen habe. Dem Zusammenbruch nahe begann Helmut Vogel anscheinend an seiner eigenen Wahrnehmung und Erinnerung zu zweifeln.

Zu diesem Zeitpunkt der Vernehmung, bei der sich mehrere Beamte abwechselten, wollte die Verlobte Helmut Vogel einen Zettel zukommen lassen, auf den sie geschrieben hatte, daß sie weiter zu ihm halte und einen Anwalt besorgen werde. Den Zettel bekam er nie ausgehändigt. Anscheinend war der Beamte, der ihn verhörte, ungehalten über diese Unterbrechung gewesen: ,,Jetzt, wo wir ihn gleich so weit haben!” Der Haftrichterin warf die Verteidigung vor, die Ergebnisse einer solchen polizeilichen Vernehmung verwertet und außerdem, ihn nicht zuvor selbst vernommen zu haben, wie es die Strafprozeßordnung vorschreibt. Als anderntags der Staatsanwalt gegen den Antrag  auf Nichtverwertung dieser Aussagen Stellung nahm, und u.a. darlegte, daß Helmut Vogel genügend Pausen bei seiner Vernehmung eingeräumt worden seien, protestierte der Angeklagte zum ersten Mal laut.

Am 9. Verhandlungstag ging es um den Nagel im rechten Vorderreifen des VW-Polo der Schwester des Angeklagten. Mit diesem Wagen soll Helmut Vogel angeblich zum Tatort gefahren sein. Laut seiner Aussage war aber der Reifen schon am Vorabend der Tat platt gewesen. Hierzu war von den LKA-Sachverständigen für Werkzeugspuren zu klären, ob möglicherweise der Angeklagte den Nagel nach der Tat selbst in den Reifen getrieben hatte. Tests ergaben, daß dies mit einem in der auch als Werkstatt benutzten Garage asservierten Gummihammer nicht möglich gewesen wäre, wohl aber mit einem Metallhammer, den hatte man nur nicht sichergestellt. Es gab jedoch den Orginalnagel.

Der Angeklagte hatte dazu zu Protokoll gegeben, daß er einige Tage vor dem Mord beim Arbeiten an der Hobelbank in der Garage ein Kästchen mit diesen Nägeln aus Versehen heruntergestoßen habe. Mit zehn ausgesuchten ähnlichen Nägeln stellten daraufhin die Sachverständigen ein – diesem Mißgeschick nachempfundenes – Wurfexperiment in der Garage an, wobei sie dann mit einem VW- Polo mehrmals über die Nägel fuhren – keiner der Nägel wurde dabei in den Reifen getrieben. Sodann wurden mehrere Versuche mit Vergleichsnägeln im Reifen gefahren, je 20 km auf unterschiedlichem Pflaster, um anschließend die dabei auf den Nagelköpfen entstehenden Spuren mit denen am sichergestellten Nagel zu vergleichen. In weiteren Versuchen ging es darum herauszufinden, wie lange ein Reifen mit Nagel drinne die Luft hält.

Die Verteidiger kritisierten, daß man derlei Experimente ca. l.OOOmal durchführen müsse, um zu verwertbaren Ergebnissen zu kommen. Der Sachverständige rechtfertigte seine Arbeit: ,,Wir wollten ja nur Ergebnisse bekommen,die den sichergestellten Spuren ähnlich sind!” Dazu merkte der Gutachter Dr. Maisch an: ,,Wissen sie, was sie da eben jetzt gesagt haben?” Ein anderer Sachverständiger ·führte aus, daß er keine Spuren von Gewaltanwendung am Schloß der Haustür des Tathauses in Volkartshain festgestellt hätte, allerdings hatte sein Auftrag nur gelautet, das Schloß der Haustür zu untersuchen, so daß Balkon- und Kellertür sowie die Fenster nicht untersucht worden seien. Am 10. Verhandlungstag verkündete das Gericht seinen Beschluß zu den Anträgen auf Nichtverwertung der Aussagen der ersten Vernehmung und vor der Haftrichterin: Die Verwertung des Teilgeständnisses wurde für unzulässig erklärt, weil unter erheblichen Drohungen und Druck zustandegekommen. In den nächsten Verhandlungen beantragte die Verteidigung eine Ablehnung des orthopädischen Gutachters wegen Befangenheit. Danach nahmen sie sich weitere  Experten vor: ,,Es gibt eine geradezu beängstigende Beziehung zu dieser Art von Begutachtung (gemeint ist hier die des Orthopäden) und dem weiteren Fortgang der Ermittlungen” -so einer der Anwälte.

Am 4. August – einem Montag – werden im nordhessischen Philippstal bei Fulda zwei kleine Mädchen ermordet. Die Geschwister Carola und Melanie Weimar – sie waren fünf und sieben Jahre alt. Die Öffentlichkeit reagiert heftig: Eine ganze Hundertschaft von Journalisten belagert fortan den Ort und das ,,Mordhaus”. Die Behörden sorgen für Verwirrung. Erst wird die Mutter der beiden Mädchen, eine 28jährige Krankenschwester, als Tatverdächtige festgenommen. Dann wird sie freigelassen und der Vater, ein 34jähriger Bergwerksschlosser, festgenommen. Auch er wird vom zuständigen Haftrichter wieder auf freien Fuß gesetzt. Es mangele am ,,dringenden Tatverdacht”. Danach fühlt sich die ·Journaille vor Ort verpflichtet, den Mörder auf eigene Rechnung zu fangen, der Philippstaler Ortsteil Röhrichshof-Nippe ist aber schwer zu finden. Unbekannte haben den Wegweiser umgehauen. Das ,,Mordhaus” steht abseits, eines von drei Häusern, die in der 50er Jahren für die Arbeiter des nahegelegenen Kali-Bergwerks gebaut wurden. In der Siedlung wohnen heute ungefähr 60 Menschen in ihren Eigentumswohnungen.

Die Szene ,,vor Ort” in der vorigen Woche: Überall stehen Autos. Der Hessische Rundfunk dreht einen Bericht für die ‘Hessenschau. Die Bewohner der Siedlung schauen aus allen Fenstern. Die Mutter der beiden ermordeten Mädchen lebt in einer Parterre-Wohnung. Auch sie lehnt im Fenster und wird gerade von einem Reporter der ‘Bild am Sonntag’ interviewt. Im Haus lebt außerdem ihre Familie – samt den angeheirateten Männern. Die öffentliche Meinung wirft ihr vor, daß sie während der Mordnacht möglicherweise ihren amerikanischen Freund, einen GI, im nahegelegenen Bad Hersfeld besuchte. Die Großgemeinde Philippstal liegt direkt an der Grenze zur DDR und ist deshallb für GIs verboten, ,,off limits”. In Bad Hersfeld und Fulda streiten Polizei, Staatsanwaltschaft und Haftrichter um die mutmaßlich Tatverdächtigen. Der Leiter der Sonderkommission (Soko), die in dem Mordfall ermittelt, läßt durchsickern, daß er die Eltern nicht für die Täter halte. Er setzt sich damit in Gegensatz zur Staatsanwaltschaft. Mittlerweile wünscht er sich ,,nichts sehnlicher, als einen anderen großen Fall irgendwo im Bundesgebiet”. Inzwischen sitzt er allerdings unentwegt am Telefon und beantwortet – ausweichend – Fragen der zahlreichen Journalisten. Die vor Ort recherchierenden Presseleute logieren schon seit Wochen alle im Bad Hersfelder Kurpark-Hotel. ,,Es ist das einzige mit Schwimmbad”, sagt der Reporter der ‘Bild am Sonntag’. Der örtliche ‘Kreisanzeiger’ mutmaßt, daß die angereisten Kollegen nach dem Motto ,,Geld spielt keine Rolle” arbeiten. Beim Ausstellen der Schecks für Interviews und Fotos sind die Vertreter der Regenbogenpresse nicht kleinlich. Es ist von ,,drei- bis vierstelligen Summen” die Rede. Schwierigkeiten, an Informationen zu kommen,gibt es nur, wenn die örtlichen Banken geschlossen haben. Anscheinend bevorzugen die Philippstaler Bargeld.

Auf offizieller Seite ist einzig der ,,Fremdenverkehrsverband Waldhessen” in der Lage, diesen ganzen Rummel unter einem positiven Aspekt zu sehen. Der Bürgermeister ist zurückhaltender. Er hätte sich ,,eine bessere Werbung” für seinen Ort gewünscht. Die Spekulationen im Ort sind vielfältig. Ein Tankwart ist davon überzeugt, daß der amerikanische Freund der Mutter der Mörder gewesen ist: ,,Der soll doch sowieso ein Neger sein!” Beim örtlichen Bundesgrenzschutz meinen fast alle, die Mutter sei die Täterin gewesen. Es komme jetzt darauf an, daß die Frau ,,aufhört zu lügen”. ,,Die hat viel gelogen und ihren Mann beschuldigt.” Man hält sie für ,,dominant, kaltherzig und berechnend”. Dem Vater traut keiner den Mord zu. Der ist inzwischen zu seinem Bruder, der ebenfalls Schlosser im Bergwerk ist, ins Nachbardorf gezogen. Insgesamt ziehen sich die widersprüchlichen Einschätzungen durch den ganzen Ort. Drei Bewohner des ,,Mordhauses” wollen die Kinder am Vormittag des Tattages – gegen 11 Uhr – auf dem zur Siedlung gehörenden großen Spielplatz gesehen haben. Der Gerichtsmediziner Hugermeier dagegen ist sich vorerst sicher, daß die beiden Mädchen in den frühen Morgenstunden getötet wurden.  Nachbarn sagten aus, sie hätten nachts eines der Mädchen weinend auf der Straße gefunden und ins Haus zurückgebracht. Die Siedlungs-Kneipe ,,Zur Erholung” hat wegen des ganzen Trubels um den Mord jetzt schon ab mittags geöffnet.

An der Theke schimpfen einige Gäste über die schlampige Arbeit der Ermittlungsbehörden. An einem Tisch wird über die Höhe der Schecks der Journalisten gerätselt und wieviel Geld die wohl selbst für ihre Arbeit bekommen? Der ‘Bild’- Reporter hat sein logistisches Basislager gleich in dieser Kneipe aufgeschlagen. Von dort aus telefoniert er laufend mit dem Fuldaer Oberstaatsanwalt Matzke und den Bad Hersfelder Rechtsanwälten des Ehepaars Weimar, Die ‘Abendpost Nachtausgabe’ aus Frankfurt will herausbekommen haben, daß Staranwalt Bossi ,,für 50.000 DM oder Abtretung der Filmrechte die Verteidigung des Vaters übernehmen wolle. Auch die Philippstaler Grund- und Hauptschule ignoriert den Mord nicht. Dort steht im Fach Sozialkunde der 6. und 7. Klassen eine Wochenstunde ,,Mord” auf dem Unterrichtsplan: Die Schüler müssen Mappen mit allen Zeitungsartikeln anlegen und Gerücht und Wahrheit herausanalysieren.

Die beiden Mädchen gingen allerdings noch in den Kindergarten. Dort ist eine kleine Gedenkstätte errichtet worden – dekoriert mit Bildern und Blumen. . Nachdem anfangs angenommen worden war, daß die beiden Kinder vom Spielplatz weg gekidnappt wurden, überdachte die Philippstaler Gemeinde die Sicherheit der Kinder in der Arbeitersiedlung. Sie beschloß dann, die zwei Kilometer entfernte Schulbus-Haltestelle in die Siedlung zu verlegen.

Inzwischen schlägt der Behördenstreit in Fulda weiter hohe Wellen. Gegen den Beschluß des Haftrichters, weder die Mutter noch den Vater festzusetzen, reichten Oberstaatsanwalt Matzke und sein untergebener Staatsanwalt in Bad Hersfeld, Sauter, umgehend Beschwerde ein. Das Gericht in Fulda entschied jedoch in der vergangenen Woche, diese Beschwerde abzulehnen. Matzke hatte zuvor in Interviews mehrmals erklärt, er sei der Meinung, der Fall sei ,,kriminalistisch gelaufen”. Es fehle jetzt ,,nur noch” der ,,justizförmliche Nachweis” der Schuld des Vaters.

Der ‘Spiegel’ schrieb dazu verärgert: ,,Als käme es im Rechtsstaat nicht ausschließlich auf eben diesen Nachweis an. Matzke werden auch in anderen Fällen schwere Pannen, Fehler und Schlampereien nachgesagt. Im nahegelegenen Volkhartshain brachte er einen jungen Tischler vor Gericht, der drei Frauen ermordet haben soll. Dessen Unschuld sei, sagen Prozeßbeobachter und Juristen, inzwischen so gut wie erwiesen. Auch dort vertrat er die Anklage mit ungebrochener Überzeugung. Dennoch ließ  er den Volkartshain-Prozeß anfang des Monats kurz unterbrechen, um der ‘Bild’-Zeitung ein schnelles Interview zu geben, in dem er den Ablauf des Dramas von Philippstal so enthüllte: ,,Carola (5) sah die Schwester sterben, dann war sie selbst dran!” Als die Nachbarn das Kind nachts ins Haus zurück brachten (.. .die Mutter war bei ihrem amerikanischen Geliebten…), hielt sich ,,vermutlich der Vater im Schlafzimmer versteckt“. Er habe dann seine Tochter ,,mit einem Kissen” erstickt. Das andere Mädchen habe er schon vorher umgebracht.

Viele Beobachter der letzten Wochen in Fulda meinen, daß Oberstaatsanwalt Matzke unter Erfolgszwang stehe und deshalb seine Theorien zum Tathergang als gesicherte Erkenntnisse ausgebe. Der ‘Gießener Anzeiger’ vermutet dagegen, daß auch Matzkes Bad Hersfelder Kollege Sauter ,,offensichtlich Karriere-Chancen” wittere.”

Jahrelang fuhr ich immer wieder zu dem Prozeß nach Fulda. Das Gericht ließ sich mit seiner Urteilsverkündung bis Ende 1987 Zeit. Dann wurde der Angeklagte Schreiner Helmut Vogel freigesprochen. Seine Verlobte hatte sich schon lange von ihm getrennt und im Dorf wurde er auch weiterhin mißtrauisch beobachtet. Er zog  weg. Seitdem hat man nie wieder was  von ihm gehört. Die U-Haft und der Prozeß haben sein Leben zerstört.

Gerhard Mauz schrieb im Spiegel: ” Die Neigung zu Fußschweiß wird von den Betroffenen aus naheliegenden Gründen als ärgerlich empfunden. Der Schreiner Helmut Vogel, 25, hat das Glück, Schweißfüße zu haben. Denn seine Füße ruinierten ein schwerwiegendes Indiz der Anklage, unter der er seit dem 22. April 1986 (!) vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Fulda stand. Sie lautete auf dreifachen Mord.  Jetzt ist Helmut Vogel freigesprochen worden. Seit dem 5. März 1985 hat er sich in U-Haft befunden. Das Urteil wurde vom Publikum, das den Saal überfüllte, empört aufgenommen. Die Mehrheit der Mitbürger steht auf dem Standpunkt, daß es besser ist, einmal zuviel als einmal zuwenig zu verurteilen. War das Urteil falsch, so kann man es immer noch der Strafjustiz um die Ohren schlagen. Die Justiz soll unabhängig sein, aber doch, bitte, nicht völlig unbeeindruckt vom Volksempfinden, das schließlich ein sicheres Gefühl dafür hat, wer der Täter war. Die Anklageschrift vom 30. Oktober 1985 schien ein stabiles Papier zu sein. Am 10. Dezember 1985 ließ die Schwurgerichtskammer die Anklage zu und eröffnete das Hauptverfahren.  In den Blutspuren seien 39 Fasern gefunden worden, Fasern, wie sie auch in fast allen Schuhen Helmut Vogels festgestellt werden konnten: Schließlich wurden die im Tathaus vorgefundenen  blutigen Fußabdrücke mit Abdrücken der Füße des Angeschuldigten verglichen. Hierbei stellte der Gutachter Prof. Dr. med. Joachim Eichler, Leiter der Orthopädischen Klinik in Wiesbaden, eine Übereinstimmung für den rechten Fuß von 94 % und für den linken Fuß von 85 % fest. ”

Auch hatte der Sachverständige, außer den Fußabdrücken auf Strümpfen, am rechten Fuß von Helmut Vogel “eine personenspezifische charakteristische linsenförmige Schwielenbildung an der Innenseite der rechten Ferse sowie an der Außenseite des Großzehengelenks” festgestellt. Diese “personenspezifischen Charakteristika” habe auch die am Tatort gesicherte Fußspur vom rechten Fuß aufgewiesen.  Diese – und andere, hier nicht angeführte – Indizien machten die Anklageschrift in der Tat zu einem Papier, nach dem die Überführung und Verurteilung Helmut Vogels völlig unproblematisch schien. Und vor allem war da auch noch das, was Helmut Vogel am Tag seiner Festnahme “eingeräumt” hatte. Die Anklageschrift muß hier noch einmal ausführlich zitiert werden. Heute ist sie ein Trümmerhaufen. Vor der Hauptverhandlung erschien sie in ihrer Kompaktheit als ein unüberwindlicher Wall.

In seiner Vernehmung vom 5. März 1985 hat der Angeschuldigte eingeräumt, daß er in der Tatnacht in Volkartshain gewesen sei. Er sei nach dem Feuerwehrfest nach Hause gegangen, habe sich kurz auf das Bett gelegt und begonnen, eine Zigarette zu rauchen; dann habe er den Entschluß gefaßt, noch einmal mit dem Pkw seiner Schwester wegzufahren. Er sei mit dem Pkw losgefahren, Richtung Fischborn, über Reichenbach, Radmühl und dann zur Bundesstraße in Richtung Hartmannshain und schließlich nach Volkartshain. Dort habe er den Pkw etwa 500 Meter vor dem Ort in einen Seitenweg abgestellt. Er sei zu Fuß in den Ort hineingegangen und habe noch Licht im Dorfgemeinschaftshaus gesehen. Er sei zu dem Anwesen seiner Schwiegermutter gegangen und durch die nicht verschlossene Eingangstür eingetreten. Im Flur habe er am Telefontisch einen abgebrochenen Schippenstiehl stehen sehen. Er habe sich in das  Wohnzimmer gesetzt. Dabei habe er auch das Licht im Wohnzimmer angemacht. Er habe dann plötzlich Stimmen gehört, und danach könne er sich an nichts mehr erinnern. Es sei plötzlich alles wieder ruhig gewesen und er habe vor dem Haus unter einer Laterne gestanden. Er sei schließlich mit dem Pkw zurück nach Mauswinkel gefahren. Den Plattfuß am Pkw seiner Schwester habe er erst am nächsten Morgen, nachdem er aufgestanden war, bemerkt … Im Haftprüfungstermin am 9. Mai 1985 hat der Angeschuldigte dann diese Einlassung widerrufen und erklärt, daß er in der Tatnacht nicht in Volkartshain gewesen sei und daß seine ganzen Angaben zuvor erfunden gewesen seien. Er habe diese Angaben nur gemacht, um aus dem Polizeigewahrsam zu gelangen.

Die Kripo hat Helmut Vogel am 5. März 1985 in einer Weise zugesetzt, die schwer zu fassen ist. Mehr als um sich selbst machte sich Helmut Vogel um seine alten, kranken Eltern Sorgen. Das ist gegen ihn benutzt worden. Nur dadurch, daß er aussage, daß er wenigstens einräume, am Tatort gewesen zu sein in der Tatnacht, könne er verhindern, daß man das Haus der Eltern durchsuche, es auf den Kopf stelle. Da werde kein Stein auf dem anderen bleiben. “Wenn es sein muß … dann lassen wir eben einen Bagger kommen.”

Höhepunkt der Befragung jedoch an jenem Tag, in der Anklageschrift im Hintergrund verschwunden, nun aber in den Mittelpunkt gerückt, war, daß Helmut Vogel mit der Behauptung konfrontiert wurde, es seien Fußspuren von ihm gefunden worden. Helmut Vogels Antwort, “dann müsse er wohl in der Wohnung gewesen sein”, wurde nicht kritisch aufgenommen. Das war schlimm …  Denn die Fußspuren wurden für die Anklage zu einer Katastrophe: Die Verteidigung hat den Sachverständigen Professor Eichler erfolgreich wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Im Beschluß des Gerichts hieß es unter anderem, beim Angeklagten habe der Eindruck entstehen können. “der Sachverständige sei bestrebt, ihn notfalls auch mit unzureichenden Mitteln – nämlich mit kaum auswertbaren Fußspuren, bei denen er sich noch von Dritten, möglicherweise sogar von den Ermittlungsbehörden zeigen lassen müsse, was nun blutige Fußspur und was Linoleummuster ist – zu überführen, und er setze dabei ohne Skrupel auch unzulässige Mittel ein – nämlich eine von ihm selbst für unzulässig gehaltene Statistik -, um das Gericht im Sinne seines Ergebnisses zu beeinflussen”.

Die Anklage hat in der Hauptverhandlung eine unglückliche Rolle gespielt. Oberstaatsanwalt Rudolf Ferdinand Matzke, 59, vertrat sie nicht von Anfang an. Er zog erst ein, als Staatsanwalt Lothar Wilbers ausgeschieden war, um fortan als Richter zu wirken. Man mag dem Ankläger Matzke nicht gram sein, er ist ein Haudegen, ein Leitfossil, das tief in die Historie der Strafverfolgungsbehörde zurückführt. In 42 Minuten hatte er seinen Antrag auf Lebenslang begründet. Für ihn hatte die Hauptverhandlung nichts Neues außer einer dreisten Verteidigung erbracht, die in ihre Schranken zu weisen das Gericht versäumt habe.

Ungesühnt seien drei Morde geblieben, hieß es. “Doch es ist wohl besser, daß Schreckliches ungesühnt bleibt, als daß wir ohne zwingende Beweise verurteilen. Vielleicht wird diese Tat doch noch einmal aufgeklärt.”

Dies geschah jedoch nicht, der Fall wurde eingestellt, aber weil das Fuldaer Gericht mit seinem Freispruch den Oberstaatsanwalt Matzke brüskiert hatte, mußte es ihm beim darauffolgenden Prozeß – gegen die “Kindesmörderin” – im Strafmaß entgegenkommen.  Monika Weimar wurde zu lebenslänglicher Haft  verurteilt. Gerhard Mauz schrieb bei Prozeßbeginn im Spiegel: “Oberstaatsanwalt Matzke steht vor einigem, vor seiner Behörde und vor der Polizei. Und er steht gegen alles, vor allem gegen das Chaos, das da in Gestalt von zwei Frankfurter Verteidigern hereingebrochen ist. Der Oberstaatsanwalt ist das personifizierte Exempel dafür, was die Strafsache Vogel in Fulda und Umgebung angerichtet hat. Einem Landgerichtsbezirk widerfahren Einbrüche wie im Fall Vogel nicht, ohne schwerwiegende Spuren zu hinterlassen.  Sie mögen gemildert werden im weiteren Lauf des Verfahrens, sie lassen sich vielleicht zugänglich machen, doch nicht einmal eine Verurteilung am Schluß der Hauptverhandlung könnte sie rechtfertigen. Völlig unkritisch wird kein Gericht, das bei Sinnen ist, der Polizei und der Staatsanwaltschaft begegnen, doch gibt es schon eine breite Zone, in der man sich aufeinander verläßt, in der man gewisse Mißgeschicke verständnisvoll behandelt.”

Die Frankfurter Prozeßbeobachterin der taz, Heide Platen, veröffentlichte 1988 ein Buch über “Den Fall Weimar” mit dem Titel “Kindsmord”. Im April 2008 berichtet  die taz noch einmal, ein letztes Mal über Monika Weimar:

“Die Frauenbewegung ist am Grund der Gesellschaft angekommen. Zwei Tagesereignisse sind das Indiz: Monika Böttcher, geschiedene Weimar, wird mangels Beweisen von der Anklage des Kindesmordes freigesprochen. Und: Frauen aller Bundestagsparteien fordern, die Vergewaltigung in der Ehe ohne Widerspruchsklausel zu bestrafen. Als das Fuldaer Landgericht Monika Böttcher 1988 zu lebenslanger Haft verurteilte, skandierte die Menge vor dem Gebäude: “Hexe! Hexe!” Für sie stand fest: “Die Amihure war es.” Monatelang war Monika Böttcher als mordende “Mutter Weimar” von der Regenbogenpresse vorverurteilt worden. Sie entsprach nicht dem gängigen Bild der Ehefrau in einem hessischen Dorf. Sie ging als Nachtschwester arbeiten, ging in Diskotheken, suchte sich einen Liebhaber. Die Anklage warf ihr eine “ehebrecherische Beziehung” vor. Das alles spielte bei der Wiederaufnahme des Prozesses kaum eine Rolle mehr. Das gesellschaftliche Klima hatte sich geändert: Mütter, die tagsüber arbeiten und abends tanzen, werden nicht mehr aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen. 1997 erlebte die Angeklagte keinen Hexenprozeß mehr, sondern einen sachlichen Indizienprozeß. Auch die Sensibilität gegenüber männlicher “Privat”-Gewalt ist in dieser Zeit gewachsen. Für Männer wie Reinhard Weimar, der seine Frau Monika jahrelang schwer mißhandelt hatte, gibt es inzwischen Sonderdezernate bei Staatsanwaltschaften. Die Frauenbewegung bringt längst nicht mehr die Massen auf die Straße. Dafür bewegt sie das gesellschaftliche Rechtsempfinden.”

Bei Wikipedia heißt es über Monika Böttcher (geschiedene Weimar): „Sie wurde wegen der Ermordung ihrer beiden Kinder Melanie und Karola Weimar nach einem Indizienprozess im Jahre 1988 zu lebenslanger Haft  verurteilt. Der Fall sorgte bis Ende der 1990er Jahre für großes Medieninteresse. Zudem ist die Chronologie der Gerichtsverfahren gegen Monika Böttcher (vormals Weimar, von Boulevardzeitungen „Mutter Weimar“ genannt) mit der wiederholten Aufhebung der Urteile, unter anderem durch den Bundesgerichtshof, aus juristischer Sicht bemerkenswert. Sie wurde am 18. August 2006 vorzeitig aus der Haft entlassen.

Sowohl für Helmut Vogel als auch für Monika Weimar gilt, dass die schweinösen Ermittlungsmethoden der Polizei , ihre Aktenführung und die Prozessführung in der fürchterlichen Katholen-Hochburg Fulda das Leben der beiden Tatverdächtigen zerstört haben. Nachdem man sie aus der U-Haft bzw. aus dem Gefängnis entlassen hatte verschwanden sie. Ihre „Akten“ wurden geschlossen, die Suche nach der Wahrheit, nach den wahren Mördern, eingestellt.

Noch einmal Christine Lehmann – über ihre Motivation, ein Handbuch für Krimischreiber zu veröffentlichen: „Was mir wahnsinnig gegen den Strich geht, wie die Polizei in Krimis mit Zeugen und Tatverdächtigen umgeht. Viele Krimis funktionieren ja so, dass die Ermittler irgendwann anfangen, einen, der eigentlich als Zeuge geladen ist und ganz harmlos dasitzt, ohne Vorwarnung zu überführen. Sie schreien ihn an, sie setzen ihn unter Druck, sie bedrohen ihn, sie tricksen ihn sogar aus. Und er hat keine Chance, und denkt auch gar nicht daran, dass er einen Anwalt dazu holen kann. Das stört mich sehr.“

Die Interviewerin von „titel-magazin.de“ meint daraufhin: „Es fragt sich ja auch, wie weit die Fiktion nicht wieder auf die Realität abfärbt.

Woraufhin der Ko-Autor von Frau Lehmann, Manfred Büttner, sagt: „Das ist gar nicht so weit hergeholt, aber wenn es sich um eine entsprechend dramatische Sache handelt – Kapitaldelikte in irgendeiner Form -, dann sind überwiegend erfahrene Fachleute dabei, weil das sehr sehr institutionalisiert abläuft. Da kommt es nicht vor, dass jemand vernommen wird und der Anwalt sitzt nicht dabei. Das gibt es einfach nicht. Das ist nur im Fernsehkrimi so.“ Anscheinend aber auch im Vogelsberg und in Fulda!

Photo: vision-vogelsberg.de. Die Mittelgebirgsregion Vogelsberg – wo das Dorf Volkartshain liegt. Es gibt bisher noch keine Regionalkrimis aus dem Vogelsberg, weil diese Region fälschlicherweise der Rhön zugeschlagen wird. Man sagt „Vogelsberg an der Rhön“. Selbst die Krimiautorin Anne Chaplet (Cora Stephan), die im Vogelsberg-Dorf Mücke ein Haus hat und ihre Romane auch dort spielen läßt, läßt diese unter „Rhön-Krimis“ firmieren. Vor kurzem erzählte sie dem „stern“: „Einmal warf mir jemand sogar eine Molotow-Cocktail-Attrappe in den Schuppen“ – mit einer Warnung auf einem „Zettel: „Nimm dich in Acht!“ Sie wird im Dorf als „Hexe“ bezeichnet –  wegen ihrer roten Haare? Mit der Warnung auf dem Zettel wollte  man ihr wahrscheinlich krimimäßig mitteilen: „Wir können auch anders…Wenn Du nicht bald deine Bücher als ‚Vogelsberg-Krimis‘ annoncierst. Ich tippe deswegen auf den Touristenverband Vogelsberg als Tätergruppe.

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https://blogs.taz.de/das_europa_der_regionalkrimis/

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