vonWolfgang Koch 04.03.2010

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Die plastische Erfahrung des Seins und eine geradezu notorische Unlust an präzisen Formulierungen – ist das schon die ganze Bilanz des 1. Bands dieser Seinsphilosophie? Das wäre in der Tat wenig.

Nitschs theoretische (und praktische) Leistung besteht darin, den Seins-Begriff mit dem Werden auf eine Linie zu bringen. Er verbindet das ominöse Sein mit einer gerichteten Bewegung des Lebens – und zwar, um alle Verführungen des Vegetabilen, die er vornehmlich in östlichen Heilslehren ausmacht, zu verwerfen.

Mögen die Schwächen des Buches zahlreich sein – und sie sind das auch: Der Künstlerphilosoph unterscheidet nicht zwischen Alter und Neuer Schrift, zwischen Judaismus und Christentum. Seine Kenntnisse des Buddhismus sind antiquiert und beruhen größtenteils auf Schopenhauer-Lektüre. Wer sich je näher damit beschäftigt hat, weiß, dass sich keine der vielen buddhistischen Haupt- und Unterströmungen als eine »Mystik der Lebensverneinung« ansprechen lässt. Das sind nur typische Verzerrungen der eurozentrischen Perspektive.

Nitschs Formulierlust treibt ihn bisweilen zu Blüten wie dem »schleimflüssig zähen Panzer der Lauheit«, der fortan in jedes Handbuch österreichischer Heiterkeit gehört. – Doch, wie gesagt, mögen die Schwächen des Buches auch zahlreiche sein, Athene ist weise und gnädig. Das Rätsel lautet bei ihr immer: Was können wir wissen, was sollen wir tun?

Für den erklärten »Überwinder« Heideggers, für den Hammerschwinger der Kunstwelt ist Philosophie zunächst nichts als das Ingangbringen von Metaphysik. 200 Seiten später sieht die Sache dann etwas anders aus: nun soll sich Philosophie auch »erfüllen« – Seinsphilosophie à la Nitsch, das ist ein aus der Schauung destilliertes Programm, das in der Wirklichkeit aufgehen soll wie der berühmte Germteig in der warmen Stube.

Nitsch sieht sich als Denker nämlich am Endpunkt eines langen geistesgeschichtlichen »Abstraktionsvorganges«. Zuerst mühte sich die Menschheit ein paar Jahrtausende lang, ihre Existenzfragen in Kulten zu beantworten, dann kamen die Hochreligionen mit dem Monotheismus, dann die Philosophie – und dabei wurde und wird die Tatsache des im Sein-Seins immer virulenter. Für Nitsch ist die ganze Kulturgeschichte nichts als ein logisches »Entmythologisierungstheater«, eine Auseinandersetzung von Wunsch und Realität.

Interessant, dass er den Islam dabei für kompatibler mit dem Seinsdenken hält als andere Systeme des Eingottglaubens. Da es kein Mehr-als-Seiendes gibt, somit auch kein klassisches Göttliches, da kein Seiendes eine »Emanation«, also der Ausfluss eines göttlichen Ewig-Einen ist, wie noch im 3. Jahrhundert behaupteten Plotin konnte, macht die Einzelseele heute endlich den Fortschritt in der Weltseele.

In der Auseinandersetzung zwischen westlichen und östlichen Lehren stellt sich Nitsch demonstrativ auf die Seite des Westens. Auch wenn moderne Architektur und britische Küche für ihn des Teufels sind, so sieht der Prinzendorfer doch in Technik und Computer kein Höllenzeug. Nitsch will dazu beitragen, die Reste von Religion einerseits und von Kathederphilosophie andererseits zu überwinden. Alles Leben und Sterben ist bei ihm von einer einzigen zufälligen und heroischen Einmaligkeit, die es zu feiern gilt.

Wie lebensfroh aber ist dieses Denken wirklich? Das Thema Sexualität z. B. taucht erst nach 216 Seiten ungestillter Daseinsbejahung das erste Mal auf. In den mehrtägigen Spielen des O. M. Theaters geht es nun nicht mehr, wie noch in früheren Schriften, um die Katharsis des Einzelnen – das Drama der Psychoanalyse soll zur Ontologie werden.

Das ist neu. Sensationell neu. Um die große Wandlung in seiner Werkphilosophie zu erläutern, dient Nitsch wieder einmal das Begriffspaar dionysisch/apollinisch. Dionysos: das ist das Sein als Akt; Subjektivität das dionysische Moment des Seins. Nitsch stellt sich das Dionysische als eine Art Zauberlehrling vor, den man, einmal gerufen, nicht mehr los wird. Mag das Ergebnis auch Zerstörung, Krieg oder Faschismus heißen.

Daß es im Dasein ein Drittes geben könnte, nämlich das an die Vernunft gebundene sokratische Prinzip, ja dass das Dionysische und das Apollinische erst mit dem Sokratischen jenes Dreieck bildet, innerhalb dessen sich die menschliche Existenz auf gesellschaftlicher Ebene bewegt, das leuchtet Nitsch nicht ein.

Interessanterweise bleibt er auch, was das Thema Aggression betrifft, 2009 hinter dem Vorstoß seines berüchtigten Traktates in der Zeitschrift Forvm von 1974 zurück. Anders als damals, verwechselt er heute selbst den organisierten Krieg mit dem Kampf als Prinzip des Lebens.

Vom einstigen Elan des Tragikers ist nichts mehr zu finden. Auf Seite 300 werden die Kriege der Menschheit (1) in einem leichtsinnigen Vergleich mit galaktischen »Kriegen zwischen Planeten« zunächst verkleinert, dann kommt (2) der dionysische Zauberlehrling ins Spiel, im dritten Schritt werden (3) Kriege zur »intensivsten Lebenssituation« der Betroffenen erklärt und zuletzt noch einmal (4) durch ähnlich »kampfartige Zustände« des Alltags relativiert. – Das ist es nicht das, was wir uns von einer kritischen Analyse erwarten.

Überhaupt sind die Einlassungen Nitschs zu den Themen Staat und Politik, Gewalt und Geschichte nicht zu empfehlen: auf diesem Gebiet agiert er weiterhin als der unverbesserlicher Anarchist, der brav seine Steuern zahlt und den Patriotismus »annullieren« will. Hier kommt eine durch und durch vorpolitische Haltung zum Ausdruck. Entsprechend oberflächlich suggeriert uns der Autor Hitler als einen bloß anmaßenden, halbgebildeten Dummkopf.

In demokratierelevanten Fragen ist nichts zu gewinnen. Dafür erfahren wir über Nitschs Jugend, dass er damals gegen fast alles gewesen sei; er habe sogar den Vatikan (vermutlich mit einer Schweineherde) einnehmen wollen. Dieses pubertäre Ungestüm hat sich in der Begriffsarbeit bis ins reife Alter erhalten. An mancher Stelle möchte man den Band verärgert zur Seite legen – doch man tut es besser nicht. Da würde man zwei kräftige Überraschungen zum Ende hin versäumen.

Auf Seite 311 beschreibt Nitsch erstmals ein schweres gesundheitliches Leiden, von dem er betroffen ist – die sogenannte Schlafapnose, welche bei dem Mann tagsüber zu beklemmenden Müdigkeitsattacken führt. Dass der viele genossene Alkohol (trockener Weißwein) dem Künstler auch hilft, sich wach zu halten, das dürfte selbst in Nitschs engster Umgebung nicht vielen Personen bekannt sein.

Im letzten Abschnitt des Buchs unternimmt Nitsch dann eine Neuinterpretation des Grals-Mythos. Das ist die zweite Überraschung. Zunächst macht er uns darauf aufmerksam, dass diese christliche Legende im 12. Jahrhundert exakt zu der Zeit entstanden ist, als in China und Japan der Zen-Buddhismus schlagend wurde.

Im Gral gehe um ein neues Symbol des Lichts, das aus sich selbst heraus leuchte; dieses Symbol stehe – so Nitsch – für ein intensives Ereignis des Seins, das durch uns selbst bewusst geworden sei. Hier nun dient in altbewährter Manier wieder der Mythologie zur Bekräftigung der These, dass sich die Menschheitsgeschichte gewissermaßen zum Selbst transformiert hätte.

© Wolfgang Koch 2010

Hermann Nitsch: Das Sein. Zur Theorie des Orgien Mysterien Theaters. 3 Bd. im Schuber, 1186 Seiten, ISBN 978-3-222-13271-1, Styria Verlag 2009, EUR 140,-

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