vonHans Cousto 24.04.2010

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Seit Jahrhunderten wird Stevia von der Urbevölkerung im Dreiländereck Paraguay, Brasilien und Argentinien, den Guaranís (Guarani Indianer), als Heilpflanze und zum Süßen von Mate-Tee (ein Stechpalmengewächs) gebraucht. Die Europäer kamen erst im Jahr 1887 in näheren Kontakt mit der süßen Pflanze Stevia – und ein gutes Jahrhundert später Verbot die Europäische Union die Nutzung dieser süßen Pflanze als Nahrungsmittel respektive als Nahrungsmittelzusatz. Da in den letzten Jahren die Patente für diverse Süßstoffe ausliefen (Aspartam 1992, Sucralose 2005), braucht die auf Rendite ausgerichtete Süßstoffindustrie neue Produkte. Also kam man auf eine geniale Idee, wie der Spiegel am 22. April 2010 berichtete: »Man gewinnt einen der Stevia-Süßstoffe, Rebaudiosid A, auf chemischem Weg und meldet auf diese Methode sowie auf die chemisch behandelten Substanzen eine Reihe von Patenten an. Die reine Pflanze bleibt als Lebensmittel verboten, der chemisch gewonnene Bestandteil hingegen wird zugelassen – und man kann Millionen mit den neuen patentierten Süßstoffen verdienen. Perfide, aber real.«

Die Pflanze – Geschichte und Botanik

Stevia wurde zum ersten Mal von Moisés Giacomo Bertoni klassifiziert. Er entdeckte die Pflanze im Nordosten Paraguays. Mosé Giacomo Bertoni (1857-1929) – oder wie er in Paraguay genannt wurde: Moisés Santiago Bertoni – war ein angesehener und vielseitig begabter Tessiner Wissenschafter. Seine Forscherneugierde trieb ihn dazu, sich nebst rein naturwissenschaftlichen Fragen auch mit dem damaligen sozialen und politischen Umfeld auseinanderzusetzen und 1884 nach Südamerika auszuwandern. Da er seine Utopien in Argentinien nicht verwirklichen konnte, gründete er 1894 am paraguayischen Ufer des Paraná-Flusses die Colonia Guillermo Tell, in einem 10.000 ha großen, von den Mbyá-Guaraní-Indianern bewohnten Stück Urwald im heutigen Gebiet der Distrikte Presidente Franco und Cedrales.

Bertoni hinterließ einen naturhistorisch und wissenschaftlich wertvollen Schatz. Sein Wohnhaus ist heute Bestandteil eines geschützten Naturparks (Monumento Científico Moisés S. Bertoni), der mit dem Rest des ehemaligen von Bertoni bewirtschafteten Grundstücks von noch 199 ha identisch ist und von der Dirección de Parques Nacionales y Vida Silvestre (DPNVS), einer Abteilung des paraguayischen Landwirtschaftsministeriums, verwaltet wird. Im Park und in der Pufferzone leben außerdem immer noch einige Gruppen der heute marginalisierten Mbyá-Indianer.

Seit Jahrhunderten wird Stevia von der Urbevölkerung im Dreiländereck Paraguay, Brasilien und  Argentinien, den Guaranís (Guarani Indianer), als Heilpflanze und zum Süßen von Mate-Tee (ein Stechpalmengewächs) genutzt und ist dort unter dem Namen Caá-heé (Honigblatt) oder Yerba dulce bekannt. Die Europäer kamen erst 1887 in näheren Kontakt mit der süßen Pflanze Stevia – ein gutes Jahrhundert später Verbot die Europäische Union die Nutzung der Pflanze Stevia rebaudiana Bertoni als Nahrungsmittel respektive als Nahrungsmittelzusatz.

Getrocknete Blätter können jahrelang aufbewahrt werden. Erst in jüngster Zeit erkannten Forscher den süßen Inhaltsstoff als ein Glykosid oder genauer als ein Steviosid, das aus dem Alkohol Steviol und drei Molekülen Glucose besteht. Steviosid besitzt die 300-fache Wirkung der Saccharose und enthält keinen Stickstoff.

Historisches zu Stevia rebaudiana Bertoni

Die Guaraní, die Urbevölkerung im Osten Südamerikas, verwenden die Stevia schon seit Jahrhunderten zum Süßen von Speisen und Getränken, längst bevor Spanier und Portugiesen sich in Südamerika ansiedelten. 1887 entdeckte der Tessiner Naturwissenschaftler Moisés Giacomo Bertoni die Pflanze an den Sumpfrändern Ost-Paraguays. 1905 ordnete er sie der Gattung Stevia zu. In den milden Gegenden Englands wurde ab 1941 Stevia angebaut, um die Zuckerknappheit während des Krieges zu lindern. In den 80er Jahren versuchten Drogisten in der Schweiz Stevia bekannt zu machen, ohne großen Erfolg. In Deutschland erreichte Stevia einen etwas höheren Bekanntheitsgrad.

Stevia als Süßstofff in den USA

Monsanto, Hersteller von Aspartam (synthetischer Süßstoff) finanzierte 1984 eine wissenschaftliche Untersuchung, die an der gesundheitlichen Unbedenklichkeit von Stevia Zweifel auftat. [Pezutto J. et al.: Metabolically activated steviol, the aglycone of stevioside, is mutagenic; Proc. Natl. Acad. Sci. USA 82 (1985) p. 2478-2488]

Danach sollte ein Abbauprodukt des Steviosids (Steviosid ist der süß schmeckende Inhaltsstoff von Stevia) mutagen (die Gene verändernd) wirken. Der inhaltliche Wert dieser wissenschaftlichen Untersuchung ist sehr umstritten. Trotzdem setzte Monsanto die amerikanische Gesundheitsbehörde weiter unter Druck. So kam es 1998 sogar zur öffentlichen Verbrennung von Rezeptbüchern mit Rezepten und Rezepturen, die Stevia als Komponente enthielten. Aufgrund dieser und weiterer Studien in den USA wurden 1991 Steviaprodukte und ihre Einfuhr in die USA von der Food and Drug Administration (FDA) verboten. Seit 1995 ist dieses Verbot teilweise aufgehoben, so dass Stevia-Produkte als diätetische Lebensmittelergänzungen verwendet werden dürfen, nicht aber allgemein als Lebensmittelzusätze.

Die bekanntesten Süßstoffe sind Saccharin, Aspartam und Cyclamat, welche synthetisch hergestellt werden. Diese synthetischen Süßstoffe haben jedoch Fragen hinsichtlich ihrer Nebenwirkungen aufgeworfen, so gilt Saccharin seit 1980 als ein Harnblasenkarzinogen- und Tumorförderer bei weiblichen Mäusen und Ratten. Aspartam verursacht Kopfschmerzen und Gleichgewichtsstörungen. Cyclamat, das in den Jahren 1950-1969 der weitverbreitete Süßstoff war, ist von der Food and Drug Administration (FDA) in den USA 1970 als Karzinogen von der Liste der absolut sicheren Lebensmittel (GRAS) gestrichen worden. Im gleichen Jahr erfolgte das Verbot in Japan.

Stevia als Süßstofff in der Europäischen Union (EU)

Am 5.11.1997 reichte Prof. Geuns vom Pflanzenphysiologischen Labor in Heverlee, Belgien, einen Zulassungsantrag für Stevia rebaudiana und Steviosid als neuartige Lebensmittel und Lebensmittelzutaten an die EU ein. Am 17.6.1999 wurde dieser Antrag vom Wissenschaftlichen Lebensmittelausschuss der EU abgelehnt. Am 22.2.2000 veröffentlichte die Europäische Kommission im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L61/1 ihren Entscheid über die Zulassungsverweigerung von Stevia rebaudiana Bertoni als Pflanze und den getrockneten Blättern als neuartige Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten gemäß der Verordnung Nr. 258/97.

Das von der EU verhängte Verbot bezieht sich auf Stevia rebaudiana (Blätter und alle daraus hergestellten Produkte inklusive Steviosid) als neuartiges Lebensmittel oder neuartigen Lebensmittelzusatz (Novel-Food-Verordnung Nr. 258/97). Die Begründung der EU lautet: Die gegenwärtige Informationslage sei nicht ausreichend, um eine umfassende gesundheitliche Unbedenklichkeit zu garantieren. Vorliegende wissenschaftliche Untersuchungen seien widersprüchlich und/oder entsprächen in ihrer Durchführung keinem derzeitig geltenden Standard.

Die vom wissenschaftlichen Lebensmittelausschuss angeführten wissenschaftlichen Arbeiten belegen jedoch in ihrer gesamten Aussage die Vermutung der gesundheitlichen Unbedenklichkeit. In den letzten fünfzig Jahren wurden in der ganzen Welt keinerlei Fälle einer Überdosis oder Toxizität von Stevia beim Menschen gemeldet.

Dass Stevia bis heute als natürliches Mittel zu Süßen in der EU noch nicht zugelassen worden ist, hat folgende Ursachen:

1.  Stevia kann als Naturprodukt nicht monopolisiert werden. Entsprechend findet sich keine finanzkräftige Lobby, die eine Zulassung anstrebt.

2.  Die EU möchte den Binnenmarkt für Produkte aus Südamerika, China und Japan nicht eher öffnen, bis eigene Anbau- und Verarbeitungskapazitäten aufgebaut sind.

3.  Süßstoff- und Zuckerindustrie scheinen Einfluss auf die Entscheidungsfindung der zuständigen Kommissionen zu nehmen.

Am 14. April 2010 wurde jedoch von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority, EFSA) eine positive Bewertung zur Sicherheit von Stevia veröffentlicht, die eine baldige Zulassung in der EU höchstwahrscheinlich macht. Zugelassen werden soll jedoch nur das synthetisch hergestellte Diterpenglykosid Steviosid, nicht aber die Pflanze selbst und deren natürlichen Stoffe. Somit wird einer Selbstversorgung der Bürger ein Riegel vorgeschoben um den Konzernen ihre Rendite zu sichern.

Zucker und andere Süßstoffe

Zuckerkonsum lässt nicht nur Karies entstehen, sondern führt auch zu einer Entmineralisierung von Zähnen und Knochen, da zu seiner Verarbeitung im Stoffwechsel Kalzium benötigt wird. Häufiger und regelmäßiger Zuckerkonsum – die Deutschen verzehren durchschnittlich ein Kilogramm pro Woche und Kopf – ist daneben auch (mit-)verantwortlich für Blutzucker-Schwankungen, Altersdiabetes, Entzündungen der Magenschleimhaut, Vitamin-B-Mangel, Hyperaktivität bei Kindern, Schwächung des Immunsystems, Fettleber, Übergewicht, Krebs, Akne, Depressionen, Herzinfarkt, Colitis und Kinderlähmung.

Zucker ist ein isoliertes Kohlenhydrat und braucht zu seiner Verarbeitung im Stoffwechsel Vitamine der B-Gruppe, Zucker ist also ein Vitamin-B-Räuber. Die B-Vitamine sind aber für eine ausgeglichene Stimmung und ein stabiles Nervensystem unentbehrlich. Nur zwei Teelöffel Zucker vermindern die Aktivität der weißen Blutkörperchen für einen halben Tag um die Hälfte und schwächen damit das Immunsystem.

Viele Menschen sind sich der negativen Folgen des Zuckerkonsums für Gesundheit und Gewicht bewusst und greifen zu künstlichen Süßstoffen als einer scheinbar gesunden Alternative. Die Süßstoffindustrie lobt ihre Produkte als moderne, geschmacklich attraktive und gesunde Lebensmittel. Weltweit hat der Süßstoff-Markt ein Volumen von mehreren Milliarden Dollar. Eine Selbstversorgung der Menschen mit Stevia rebaudiana Bertoni würde die Geldausgaben für den einzelnen Menschen mindern und seine Gesundheit fördern – doch so bürgernah sind die europäischen Behörden nicht, um dies zuzulassen, dies verbietet ihnen die Nähe zu Konzernen und Lobbyisten.

Quellen: Eve & Rave Berlin: Pressemitteilung vom 24. November 2003: Die süße Pflanze Stevia. Das seltsame Verbot der Stevia rebaudiana Bertoni; Wikipedia: Stevia rebaudiana; Wikipedia: Stevia (Süßstoff); Wikipedia: Steviosid; Wikipedia: Moisés Santiago Bertoni

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