Neue Poller in Nordhausen: aus zerschredderten Trabis, Beton und polierten Kieselsteinen
„Die Ökonomie gibt den Ausschlag, sie diktiert dem Konsum ihre Befehle. In einer auf das Elend begründeten Gesellschaft haben die elendesten Produkte das naturnotwendige Vorrecht, dem Gebrauch der großen Masse zu dienen.“ (Karl Marx in: „Das Elend der Philosophie“). Das gilt jetzt erst recht, denn laufend sondern sich „edelste Produkte“ von den für die „große Masse“ bestimmten ab: Gerade ist ein zweites Internet, nur für Wohlhabende, die dafür zahlen, in Vorbereitung. Mit dem US-Betreiber Verizon hat der Suchmaschinenkonzern Google ein Abkommen ausgehandelt, welches zumindest für mobil übertragene Daten die Schlussfolgerung zulässt, Google wolle gern einen Premiumtransport für seine Inhalte. Und die Bundesnetzagentur warnt derzeit, weil Google und die Telekom wohl Gespräche über ein ähnliches Anliegen führen. Im Kern geht es um die Frage, ob alle im Netz gleich sind oder manche gleicher. Ob ein Frauenhaus, ein Freundeskreis oder Pro Asyl ein Recht darauf haben, dass ihre Daten genauso schnell im Netz befördert werden wie die eines Großkonzerns.
Eine ähnlich konsumistische Aufspaltung hat das Handy erfahren – mit dem weniger abhörbaren Mobiltelefon für die sogenannte Elite: „Blackberry“. Außerdem Immobilien: mit den immer autarker und sicherer werdenden Wohnparks für Reiche – „Gated Communities“ genannt. Ferner eine zunehmende Zahl von gesunden Lebensmitteln für Besserverdienende: „Bio-Food“, daneben Bio-Kosmetik, -Waschmittel etc., während auf der anderen Seite die industriell hergestellten Lebensmittel zwar immer billiger, dafür aber schlechter, geschmackloser und lebensschädigender werden. Eine ähnliche Entwicklung gibt es bei Medikamenten und Krankenhausbehandlungen. Bei Textilien, Möbeln, Autos und sogar beim Bafög. Um diesem Auseinanderdriften der bis zur Wende 1989 auf Gleichheit abzielenden BRD- und DDR-Politik auf den Grund zu gehen, hat der Wirtschaftsforscher Markus Grabka die Statistiken durchgeforstet – und ist dabei zu dem Resultat gekommen: „Die Reichen ticken anders“. So lautet dann auch die Überschrift zu einem Interview mit ihm im „Freitag“. Dass die Reichen, er spricht lieber von Wohlhabenden, „anders ticken“ erläutert er an einem Beispiel: „Es gibt da Menschen, die sagen, sie gehen ins Ausland, weil ihnen hier die Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftsteuern zu hoch sind: Schweiz, Monaco, und so weiter. Sie sagen aber, dass sie dadurch Deutschland etwas Gutes tun. Sie könnten sich schließlich nicht regelmäßig eine neue Yacht kaufen. Darum steckten sie ihr überschüssiges, mit den Steuerersparnissen noch vermehrtes Geld in ihre in Deutschland ansässigen Unternehmen. Und damit sorgten sie für Arbeitsplätze und Wohlstand.“
Zur Reichtumsvermehrung trägt auch das veränderte Bindungsverhalten der Wohlhabenden bei: „Früher hat ein Arzt oft die Krankenschwester geheiratet, heute heiraten der Arzt und die Ärztin. Da kommen dann zwei starke Einkommen und oft genug auch Erbschaften zusammen. Das entspricht der bereits mit Zahlen gut belegbaren Entwicklung, dass Mobilität und Durchmischung der Schichten in Deutschland abnehmen: Wer unten ist, bleibt dort – und wer oben ist auch. Das sollte uns übrigens noch mehr beunruhigen als die bloße Existenz von Armut.“ Seit 2002, so meint Grabka, „gibt es halbwegs akzeptable Aufstellungen zu den Vermögen in Deutschland. So verfügen die reichsten zehn Prozent über mehr als 60 Prozent des gesamten Nettovermögens in Deutschland. Auch die Zahl der Millionäre hat trotz Finanzmarktkrise deutlich zugenommen. Ganz neu ist jetzt die Erfassung der Anwartschaften in den Alterssicherungssystemen. Die enormen Ungleichheiten darin eingerechnet, klafft die berühmte Schere sogar noch weiter auseinander, denn durch die Altersvorsorgen werden die Nettovermögen noch einmal fast verdoppelt.“ Dass spätestens seit 2000 die Ungleichheit stark zugenommen hat führt Grapka nicht zuletzt auf „Veränderungen des Steuertarifs, die ja in Stufen kamen,“ zurück, sowie auch auf die „Veränderungen am Arbeitsmarkt“. Als bestes Beispiel für die Politik zur Umverteilung zugunsten der Reichen gilt Grapka „die letzte Kindergelderhöhung: Hartz-IV-Empfänger bekommen nichts, die Mittelschicht bekommt 20 Euro mehr, und die Bestverdiener erzielen über den Steuerfreibetrag ein sogar noch höheres Plus. Irrwitz.“
Zwar verzeichnen „zwei Drittel der OECD-Länder in den letzten Jahren eine wachsende Ungleichheit, aber in Deutschland wächst die Ungleichheit besonders stark und schnell,“ wahrscheinlich weil die BRD hier wegen der sozialistischen DDR sich erst ab 1990 erlauben konnte, diese neoliberale Entwicklung beschleunigt nachzuholen. Neben Markus Grabka gibt es noch einen weiteren „Elitenforscher“: Michael Hartmann. Dieser warnt bereits: „Es gibt keinen Fall in der Menschheitsgeschichte, in dem die als zu groß empfundene Ungerechtigkeit nicht zu einem Knall geführt hätte.“ Grapka ist da weniger optimistisch, dass es bald zu einem Knall kommt – wenn er z.B. in der Shoppingmeile Friedrichstraße sieht, wie da die Wohlhabenden in den Boutiquen einkaufen und die Armen die Mülltonnen nach Pfandflaschen durchwühlen: „Es sieht nicht aus, als stünden wir vor einem Knall,“ sagt er, fügt jedoch ein „oder?“ hinzu, so als würde er zwar den amtlichen Statistiken glauben, nicht aber seiner eigenen Wahrnehmung.
In der „Freitag“-Debatte wird dieses Stillhalten der „Masse“, die man in eine nahezu „kaufkraftbefreite Unterschicht“ herabdrückt, als „deutsche Krankheit“ bezeichnet, wobei hinzugefügt wird, das dies „natürlich nichts mit irgendeinem wesensmäßig angelegten ,Nationalcharakter‘ o.ä. zu tun hat, sondern damit, dass wir in diesem Land eben niemals eine erfolgreiche Revolution gehabt haben.“ Dagegen spricht, dass diese „Brasilifizierung“ der Gesellschaft in vielen Ländern stattfindet, damit ist ein Zerbröseln der Mittelschicht gemeint, von der ein kleiner Teil mit der Globalisierung den Anschluß an die Oberschicht schafft, und ein immer größerer Teil in die Unterschicht absinkt. Der ehemalige US-Arbeitsminister Reich schätzt, dass nur etwa 1/5 der Weltbevölkerung von der neuen Wirtschaftsordnung profitieren werde, dem Rest wird es dagegen immer schlechter gehen. Bleibt also die Frage, wann dieser „Rest“ – die „multitudo“ Spinozas – den Gehorsam gegenüber ihrer Pauperisierung verweigert. Ansätze dazu gibt es überall. Meist richten sie sich gegen große Investitionsprojekte (wie Autobahnen, Kraftwerke, Schlachthöfe, Messen, und Mastbetriebe), die am Ort eine Verminderung der Lebensqualität bedeuten, weswegen der jeweilige Protest von unten sich ökologisch artikuliert und dann auch vor allem von den Umweltschutzorganisationen aufgegriffen wird, die den Konflikt ins Allgemeine wenden, während die meisten Parteien und Gewerkschaften an diesen Großprojekten wegen der damit verbundenen Arbeitsplätze festhalten.
Ein Teilnehmer an der Debatte über die „Eliteforschung“ von Grapka hat sich das Wort „reich“ etymologisch vorgenommen: Es kommt aus dem Althochdeutschen und ist verwandt mit „recht“. Das Verwandtschaftsverhältnis von recht und reich gilt bis heute in unserem Justizsystem: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Die Oligarchie ist die Geißel der Menschheit!“ Ein anderer Teilnehmer sieht in dieser Entwicklung, die die einst von Ludwig Erhard angestrebte „Abschaffung von Arm und Reich“ zugunsten einer „breitgeschichteten Massenkaufkraft“ umdreht, „einen neuen Feudalismus“ aufkommen. „Unter der Regierung Merkel ist die Zahl der Millionäre/Milliardäre von 600.000 auf fast 1 Million gestiegen!“ Auch in nationalpolitischer Hinsicht sind wir schon wieder bei 1914 (Sarajewo) angelangt.
Dementsprechend werden auch die Konflikte weltweit wieder gerne mit religiösen Argumenten (bzw. Gefühlen) ausgetragen. Wahlweise werden sie auch als „Gender-Konflikt“ wahrgenommen: Vor allem in den USA häufen sich Studien, mit denen festgestellt wird, dass junge Frauen in Schulen und an Universitäten langsam die jungen Männer derart abgehängt haben mit ihren Leistungen, dass sich bereits die Frage stellt, ob diese neue Wirtschafts- und Weltordnung überhaupt noch das Richtige für die letzteren ist. Es häufen sich die Gewaltdelikte, wobei 92% auf das Konto von Männern gehen. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass sie zurückschlagen, weil sie den alten Zustand ihrer zuletzt nur noch scheinbaren Überlegenheit wieder herstellen wollen.
Photos: Susanne Gannott