vonHelmut Höge 30.10.2010

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„Waffeln für die Hasenstrasse“ (Hamburger Soli-Parole)

Am 19.September wurden die Buchläden „Schwarze Risse“ (Mehringhof), „oh 21“ (Oranienstraße) und „M99“ (Manteuffelstraße) durchsucht – nach den linksradikalen Zeitschriften „Interim“, „Prisma“, „Radikal“, nach Plakaten und Flugblättern. Die betroffenen Kollektive müssen sich langsam was dagegen einfallen lassen. Sie planen erst einmal eine Veranstaltung: „Innerhalb des letzten Jahres wurden die Läden von Schwarze Risse fünfmal, der Infoladen M99 viermal und der Buchladen oh21 und der Antifa-Laden Fusion/Red Stuff zweimal durchsucht,“ heißt es dazu in einem Flugblatt der drei Buchläden.

Begründet wurden die Durchsuchungen  mit dem § 130a StGB „Anleitung zu Straftaten“ – mittels Schriften, die verbreitet werden oder mit Worten auf einer Versammlung. Dieser Paragraph wurde 1976 eingeführt – nachdem die Studentenbewegung zuvor bereits ihren Höhepunkt überschritten und einige kleine Gruppen sich radikalisiert hatten. Neu ist nun, dass die Vorwürfe „Anleitung zu Straftaten“ nicht mehr nur gegen die unbekannten Zeitschriften-Herausgeber, sondern auch gegen die Geschäftsführer der Buchläden gerichtet sind, die damit ein Strafverfahren wegen „Aufforderung zur Gewalt“ zu gegenwärtigen haben. Mit einer Einstellung des Verfahrens wie früher  ist nicht mehr zu rechnen. Die Staatsanwaltschaft bekräftigte auf Nachfrage eines Anwalts, dass es ihr Ernst ist mit diesem Vorstoß: „Sie strebt ein Gerichtsverfahren an, das die bisherige Rechtsprechung revidieren soll.“ Die von den Razzien Betroffenen und ihre Anwälte sprechen von einer „politischen Initiative der Staatsanwaltschaft“.

Um 2000 wurden die Läden noch von einer Hundertschaft heimgesucht, inzwischen sind es nur noch etwa 15, von denen 10 draußen bleiben müssen, um das Gelände weiträumig abzusperren. Die fünf Politbeamte, die mit einem Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten die Beschlagnahme der Druckerzeugnisse vornahmen, wissen inzwischen  genau, was sie suchen. Zuletzt  z.B. nur die Ausgabe 715 des Autonomen-Infos „Interim“, wobei die Richterin den Polizisten in ihrem Beschlagnahmebeschluss Zitathilfe gab: In der fraglichen „Interim“-Ausgabe heiße es auf Seite 7/8 – unter der Überschrift „3.Okt. 2010: Hauptsache es knallt!“ (…) „Unser Anliegen besteht darin, die Einheitsfeier zu einem Desaster zu machen!“ (…) „Vom Straßentheater bis zum Grillanzünder, wir können uns da ’ne Menge vorstellen…“ U.a. „Sabotageakte (…). Sachschaden: Farbe, Glasbruch, Buttersäure (…) Die politisch Verantwortlichen haben Namen, Adressen und oft auch schicke Autos vor der Tür (…) Ab Oberleutnant: Schienbein treten, Ohrfeige, Hauswand besprühen, Auto abfackeln, Empfänge versauen…“

Auch eine Vollzugsmeldung von Hamburger Autonomen gegen das Haus eines Bundeswehr-Offiziers, der gleichzeitig Bezirksbürgermeister ist, wurde als „Aufforderung zur Gewalt“ klassifiziert. Abschließend hob die Richterin hervor: „Nachteilige Folgen der Beschlagnahme stehen nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache, und ein überragendes entgegenstehendes öffentliches Interesse ist nicht erkennbar.“

Das sehen die betroffenen Kollektive anders: „Wie im Fall des §129a – ‚Bildung einer terroristischen Vereinigung‘ – haben wir es beim §130a mit einem sogenannten Ermittlungsparagraphen zu tun, dessen Zweck nicht zuletzt darin besteht die Szene zu durchleuchten.“ Und dies geschehe jetzt in einem „extremismustheoretisch genährten“ Umfeld, d.h. Linke und Rechte werden auf ein polizeiliches Problem der „Mitte“ und der „Mehrheit“ reduziert. Der § 130 richtete sich einmal insbesondere gegen diejenigen, die „zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstacheln oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordern oder die Menschenwürde anderer verächtlich machen“. Dies betrifft zumeist die Rechten, insofern sie gegen „Türken“, „Zigeuner“, „Juden“ usw. mobilisieren/hetzen. Instinktiv rücken jedoch Manager, Banker und Großprojektemacher die Linke in die selbe Ecke, wenn sie deren Kritik dahingehend abwehren, dass sie behaupten, sich gleich den Juden im 3.Reich von ihnen verfolgt zu fühlen und von einem „Pogrom“ gegen sie reden (im Rechtsanwaltschreiben eines Berliner Immobilienentwicklers war auch einmal von „Progrom“ die Rede). Der Staat und die ihn tragenden Parteien sprechen dagegen von einer „zunehmenden Gewaltbereitschaft“ (auf beiden Seiten) und dass es den Anfängen zu wehren gelte. In diesen Kontext passt eine vom Tagesspiegel-Journalisten Hasselmann verfaßte Meldung zu den Durchsuchungen: „Nachdem Interim die Anleitung für den Bau einer Bombe gebracht hatte, durchsuchten Beamte die Redaktion. Auch gegen einen rechtsextremen Online-Versand in Marzahn ging die Polizei vor.“ Über diese gerechte Teilung der (Staats-)Gewalt freut sich der Tagesspiegel, der sich anscheinend guter Kontakte zur Staatsanwaltschaft erfreut, einmal „schlug“ er sogar schneller als diese „zu“ – mit schlimmen Zitaten aus der  „Interim“.

Ende Oktober 2010 fand erneut eine Durchsuchung der linken Buchläden statt, die taz schrieb:

Es ist fast schon Routine: Die Ladentür geht auf, die Polizei drängt herein: „Wir haben einen Durchsuchungsbefehl.“ Teilweise sechsmal ging das den Besitzern linker Buch- und Infoläden in diesem Jahr bereits so. Dienstagmittag war es wieder so weit. In den zwei Buchläden der „Schwarzen Risse“ im Mehringhof und in der Kastanienallee, bei „oh21“ in der Oranienstraße und im „Infoladen M99“ in der Manteuffelstraße suchten Beamte nach Ausgaben der linken Untergrundzeitschrift Interim. In deren jüngster Ausgabe vom 15. Oktober hatten anonyme AutorInnen Anleitung zum Bau von Molotowcocktails gegeben.

Der Einsatz hatte wenig Erfolg, nur in einem Fall wurde die Polizei nach eigenen Angaben fündig. Die Buchhändler widersprechen: Die aktuelle Interim-Ausgabe sei in keinem der Läden gefunden worden. „Stattdessen hat die Polizei alte Ausgaben von 2007 mitgenommen“, so Frieder Rörtgen, Geschäftsführer der Kreuzberger „Schwarzen Risse“. Auch im M99 wurden ältere Interim-Exemplare beschlagnahmt. „Das läuft immer nach dem gleichen Schema ab“, zeigte sich der „M99“-Betreiber genervt. „Ich weiß nicht, was das bringen soll.“

Einmal vor Ort fielen den Beamten im „Schwarze Risse“ im Mehringhof Plakate zur Aktion „Castor Schottern“ ins Auge. Gern hätten sie die gleich mit beschlagnahmt – so weit wollte die Staatsanwaltschaft aber offensichtlich nicht gehen. „Die Polizisten bekamen keinen Beschluss“, so Rörtgen. Der Sprecher der Staatsanwaltschaft wollte dazu keine Angaben machen.

Für die „Risse“-Läden war es die sechste Durchsuchung in diesem Jahr, fürs „oh21“ die dritte, fürs „M99“ die fünfte. Die letzte Razzienrunde gab es Mitte September. Erst kürzlich hatten sich die linken Buch- und Infoläden in einer gemeinsamen Erklärung gegen die Durchsuchungen gewehrt. „Der heutige Tag zeigt aber, dass die Staatsanwaltschaft nicht locker lässt, Buchläden zu kriminalisieren und anzugreifen“, sagt Rörtgen. Die Ermittlungen richten sich dabei auch gegen ihn selbst und die anderen Geschäftsführer – wegen Anleitung zu Straftaten. Laut Paragraf 130a des Strafgesetzbuches drohen dafür Geldstrafe und Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren.

Als „Zensur durch Kriminalisierung“ bezeichnete Strafverteidiger Johannes Eisenberg die Polizeieinsätze. Dass auch gegen die Geschäftsführer ermittelt werde, sei ein „beliebter Umweg“ der Strafverfolger. „Wenn man an die eigentlichen Autoren nicht rankommt, wird das Umfeld kriminalisiert“, so Eisenberg.

Boris Bröckers, Strafrechtler an der FU Berlin, hält es für „nicht völlig abwegig“, dass auch ein Ladenbetreiber für strafbare Inhalte der von ihm vertriebenen Publikationen haftbar sein könnte. „Eine Verurteilung ist aber fraglich“, so Bröckers. Dafür müsste nachgewiesen werden, dass die Inhalte tatsächlich kriminell seien, die Geschäftsführer diese Inhalte gekannt hätten und ein Vorsatz zur Straftatanstiftung vorläge.

Die Buchläden zeigen sich trotzig: Man werde sich nicht einschüchtern lassen und auch nicht selbst zensieren, heißt es in ihrer Erklärung. Am Abend wollten Sympathisanten der linken Läden am Kreuzberger Mariannenplatz gegen die Durchsuchungen demonstrieren.

Am selben Tag, frühmorgens am 27. Oktober,  griffen Neonazis den Infoladen „M99“ an und steckten ihn in Brand, indymedia berichtete:

In der vergangegen Nacht gegen 3 Uhr wurde auf den Infoladen M99 in der Manteuffelstrasse 99 in Berlin Kreuzberg ein Brandanschlag verübt. Obwohl die Täter von einigen Zeugen gesehen wurden, sind sie entkommen. Hätten nicht sofort Nachbarn mit dem Löschen begonnen und hätte die Feuerwehr eine Minute länger gebraucht, wäre wahrscheinlich das gesamte Haus abgebrannt, wie ein Feuerwehrmann bemerkte.

Mindestens eine Wohnung über dem Laden wird erst einmal unbewohnbar sein, zu Schaden kam aber durch ein paar glückliche Umstände niemand. Der Laden selbst wird eingeschränkt weiter geöffenet sein können.
Ob es sich bei den Tätern um Neonazis handelt, ist zunächst reine Spekulation gewesen. Um den Laden Brand zu setzen waren jedoch Hilfsmittel und etwas Geduld notwendig.

Noch ein Nachtrag:
Für den letzten Infoladen, der aus der Hausbesetzerzeit übrig geblieben ist, bedeutet die abgewendete vollständige Zerstörung aber kein Aufatmen, denn für heute hat sich die Bauaufsicht angegekündigt. Hintergrund: die neuen Besitzer (Berlin Property GmbH) und die betrügerische David-Hausverwaltung möchten den Laden raus haben. Ein Haus am Lausitzerplatz wurde von ihnen schon vor einigen Jahren halblegal entmietet und die Wohungen in Eigentumswohungen umgewandelt.
…. und gestern gab es zu dem die 52. polizeiliche Razzia.

Der Tagesspitzel titelte: „Kreuzberg und Neukölln kommen nicht zur Ruhe“:

Wieder sind Rechtsextreme in Neukölln und Kreuzberg unterwegs gewesen: In der Nacht zu Mittwoch wurden in beiden Bezirken erneut Neonaziparolen und verbotene Keltenkreuze an Wände geschmiert. Bei einem linksalternativen Laden in der Manteuffelstraße wurde Feuer gelegt. Gestern Abend gingen mehrere hundert linke Demonstranten gegen „den Naziterror“ auf die Straße. Es gab Rangeleien mit der Polizei und Festnahmen.
Die ebenfalls von Anzeigen abhängige „Zeit“ brachte den Überfall bei ihrem „Störungsmelder“ unter, eine Art bürgerlich-rechtsliberale Reaktion auf den „Bewegungsmelder“ der taz. Die Überschrift lautete dort: „Berlin. Brandanschlag auf Szenegeschäft in Kreuzberg“. Während der autonome Berliner Veranstaltungskalender „Stressfaktor“ von einem „linksalterntiven Laden“ sprach – und die taz am 28.10 von einem „Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf“. In ihrem Artikel heißt es:

Nur mit Glück konnte ein Übergreifen der Flammen auf den Laden und das Wohnhaus Manteuffelstraße 99 verhindert werden. Die Polizei zieht eine politische Tatmotivation in Betracht. Der Staatsschutz hat die Ermittlungen übernommen. Der Täter ist unbekannt. Der Betreiber des Ladens, Hans-Georg Lindenau, war zuletzt von vielen Seiten attackiert worden. Vom Vermieter. Vom Bauamt. Von der Polizei. Und von Nazis.

Seit 25 Jahren verkauft „HG“, wie alle den Ladeninhaber nennen, T-Shirts mit Aufschriften wie „Zahme Vögel singen von Freiheit, wilde Vögel fliegen“, Untergrundzeitschriften wie Interim und Radikal, Bücher über Feminismus und Kapitalismus. Das M99 ist eins der letzten Relikte der Kreuzberger Hausbesetzerszene der 80er Jahre.

Gegen drei Uhr hatten Unbekannte die Auslagenkästen vor dem Laden in Brand gesetzt. Fahnen und Markisen fingen rasch Feuer. HG arbeitete zufällig noch im Keller des Ladens. „Es wurde plötzlich so warm“, sagt eine Mitarbeiterin des Ladens, die im ersten Stock schlief. Zu der Zeit schlugen die Flammen schon an den Fenstern hoch. Ein Mieter, der gerade nach Hause kam, hupte laut vor dem Haus, um die BewohnerInnen zu warnen. Die Feuerwehr konnte Schlimmeres verhindern, das Innere des Ladens blieb verschont. Verletzt wurde niemand.

„Wäre die Feuerwehr ein paar Minuten später gekommen, das wäre hier alles weg gewesen“, sagt HG. Davon, dass er eigentlich in der Wohnung darüber geschlafen hätte und mit den Krücken – er ist seit 1988 gelähmt – kaum schnell genug die Treppen hinuntergekommen wäre, spricht er nicht.

HG ist sich sicher: „Das waren die Nazis.“ Tatsächlich hatten Unbekannte in derselben Nacht auch an einem Antifa-Laden um die Ecke, dem „Red Stuff“, die Buchstaben „NS“ aufgesprüht und ein Runenzeichen hinterlassen. Auch ein Jugendzentrum in Neukölln wurde laut Polizei mit rechten Symbolen beschmiert. Seit einem Jahr häufen sich solche rechtsextremen Attacken gegen linke Einrichtungen in Neukölln und Kreuzberg. Meist wurden Graffiti gesprüht, manchmal Scheiben eingeschmissen. Einen Brandanschlag gab es bisher nicht.

Lindenau, Urgestein der linken Szene, ist an Störungen aller Art gewöhnt. Erst am Dienstag hatte er die Polizei im Haus – zum 53. Mal. Diesmal suchten sie nach Ausgaben der Zeitschrift Interim. HG selbst wird der „Anleitung zu Straftaten“ beschuldigt, weil er die Zeitschrift im Regal hatte (taz berichtete).

Auch am Tag nach dem Brand bleibt keine Zeit zum Durchatmen: So schnell es ihm sein Rollstuhl erlaubt, räumt HG mit Freunden die Brandspuren beiseite, denn die Bauaufsicht hat sich angekündigt. Das Gesundheitsamt will zuvor gravierende Sicherheitsmängel in Laden und Wohnung festgestellt haben.

„Die ganzen Um- und Anbauten sind nicht genehmigt“, sagt ein Mitarbeiter der Bauaufsicht. Im Laden gibt es eine Treppe zur Wohnung, an der Fassade ein selbst gebautes Vordach. Jahrzehntelang hat das niemanden gestört. „Der Vermieter will mich raushaben“, sagt HG. Das vermutet auch sein Anwalt, Burkhard Draeger: „Immer mehr Mietern wurde in letzter Zeit gekündigt, aus diversen Gründen. Das Haus soll offensichtlich leergewohnt werden.“

Trotz Razzia, Brandanschlag und Bauaufsicht – HG hat seinen Laden auch am Mittwoch geöffnet. Kunden kommen, kaufen Mützen, T-Shirts, Zeitschriften. HG lässt den Rollstuhl draußen stehen, erklimmt auf allen vieren die Stufen zu seinem Laden. „Der ist sein Leben“, sagt Anwalt Draeger, der HG seit Jahrzehnten vertritt, „wenn er den verliert, das wäre eine Katastrophe.“

Am 29.10. hieß es in der taz: „Demo nach Anschlag auf Laden“:

Rund 150 linksautonome Demonstranten haben am Mittwochabend in Kreuzberg randaliert. Bei einem spontanen Marsch vom Heinrichplatz Richtung Schlesisches Tor warfen sie Steine und Flaschen auf Polizisten und zündeten bengalische Feuer und Feuerwerkskörper, wie die Polizei am Donnerstag mitteilte. 180 Polizisten gelang es schließlich, die Krawalltäter zu stoppen. 47 Menschen wurden vorläufig festgenommen. Ein Mann wurde verhaftet, weil gegen ihn bereits ein Haftbefehl wegen Landfriedensbruchs vorlag. Er ist inzwischen wieder frei.

Hintergrund der nicht angemeldeten Demo war ein Brandanschlag auf das Geschäft M99 in Kreuzberg in der Nacht zuvor (taz berichtete). Der Krawall begann gegen 20 Uhr am Heinrichplatz, als sich Linksautonome, die zum Teil vermummt waren, sammelten. Auf dem Weg durch die Skalitzer Straße flogen nach Polizeiangaben immer wieder Flaschen und Steine. Erst als die Polizisten Verstärkung erhielten, endete der Marsch vorläufig. Gegen 23 Uhr kehrte Ruhe ein. Ermittelt wird wegen Landfriedensbruchs, Körperverletzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt. Größere Schäden seien nicht entstanden. (dpa, taz)


Die dpa-meldung dazu lautete ursprünglich:

Rund 150 linksautonome Demonstranten haben am Mittwochabend in Berlin-Kreuzberg randaliert. Bei einem spontanen Marsch vom Heinrichplatz Richtung Schlesisches Tor warfen sie Steine und Flaschen auf Polizisten und zündeten bengalische Feuer und Feuerwerkskörper, wie die Polizei am Donnerstag mitteilte. 180 Polizisten gelang es schließlich, die Krawalltäter zu stoppen. 47 Menschen wurden vorläufig festgenommen. Ein Mann wurde verhaftet, weil gegen ihn bereits ein Haftbefehl wegen schweren Landfriedensbruchs vorlag. Hintergrund der nicht angemeldeten Demonstration war wohl ein Brandanschlag auf ein Geschäft der linken Szene in Kreuzberg in der Nacht zuvor. Der Krawall begann gegen 20.00 Uhr am Heinrichplatz, als sich Linksautonome, die zum Teil vermummt waren, sammelten. Auf dem Weg durch die Skalitzer Straße flogen nach Polizeiangaben immer wieder Flaschen und Steine. Erst als die begleitenden Polizisten Verstärkung erhielten, endete der Marsch vorläufig. In der Oranienstraße kam es dann erneut zu kleineren Zusammenstößen und Festnahmen. Gegen 23.00 Uhr kehrte Ruhe ein.

Ermittelt wird jetzt wegen Landfriedensbruchs, Körperverletzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt. Polizisten wurden nicht verletzt, größere Schäden seien auch nicht entstanden, hieß es.

Wegen der polizeilichen Durchsuchungen der linken Buchläden und des Infoladens „M99“ verfasste der Hamburger Verlag „Association A“ ein Protestschreiben:

Liebe Freundinnen und Freunde,

liebe KollegInnen und Kollegen,

von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt ist es in den letzten Monaten zu einer Welle von Durchsuchungen linker Buchhandlungen in Berlin gekommen, die in der jüngeren Geschichte beispiellos ist. Allein in diesem Jahr fanden sechs Mal Razzien gegen engagierte Läden in Berlin statt. Es drängt sich geradezu auf, diese präventiven Repressionsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Neuaufschwung sozialer Protestbewegungen zu sehen – so z.B. gegen Gentrifizierungsprozesse, die Mietraum unerschwinglich machen, gegen Castortransporte und den regierungsamtlichen Kotau vor der Energiemafia, gegen unsinnige Großprojekte wie Stuttgart 21 oder die Hamburger Elbphilharmonie, gegen Sozialabbau und zunehmende Verarmung.

Linke Gegenöffentlichkeit war immer Voraussetzung und unentbehrlicher Bestandteil sozialer Protestbewegungen. Die Geschichte der Versuche, sie durch Durchsuchungen, Razzien und Strafverfahren einzuschüchtern, zu drangsalieren und letztlich zu kriminalisieren, ist ebenso lang wie unrühmlich. Vorverlagerung des Staatsschutzes nannte man dies früher.

Dass die jüngste Verschärfung staatlicher Zensurmaßnahmen ausgerechnet in einem Bundesland stattfindet, das sich mit dem Label einer rot-roten Regierung schmückt, halten wir für einen beispiellosen Skandal. Dies ist entweder ein Ausweis dafür, wie sich Rot-Rot das Verhältnis zu den sozialen Protestbewegungen vorstellt, oder ein – nicht minder erschreckender – Beleg, dass der Berliner Regeirungskoalition die Kontrolle der politischen Polizei völlig entglitten ist.

Wir protestieren aufs schärfste gegen die jüngsten Repressionsmaßnahmen gegen linke Buchhandlungen in Berlin und solidarisieren uns ausdrücklich mit den Betroffenen. Wir fordern die kritische Öffentlichkeit auf, sich diesem Protest anzuschließen. Den Parteigliederungen der Berliner Regierungskoalition legen wir nahe, das polizeiliche Vorgehen umgehend zum Gegenstand der innerparteilichen Auseinandersetzung zu machen.

Was tun?

sich organisieren – so?



Vom 30.10, also ab heute, bis zum 3.11. zeigt der Anarchist und Filmvorführer Hansi im „Lichtblick“ (Prenzlauer Berg) die Arnold-Hau-Periode von F.K. Waechter, Robert Gernhardt, Bernd Eilert, Arend Agthe. In der Vorankündigung schreibt Besagter:


Unter dem Titel „Die Wahrheit über Arnold Hau“ erschien Mitte der 60er Jahre ein Buch, dessen Texte und Zeichnungen einem Mann namens Arnold Hau zugeschrieben wurden, in Wirklichkeit aber aus der Feder von Fritz Weigle (F.W. Bernstein), Robert Gernhardt und F.K. Waechter stammten. Zum Zwecke der Filmproduktion vereinigten sich Waechter und Gernhardt wenige Jahre später mit Arend Agthe und Bernd Eilert zur Hau Coop. In hemmungsloser Selbstausbeutung drehten die Filmemacher zwischen 1969 und 1982 zahlreiche Low-Budget-Filme, die einander überhaupt nicht ähnlich sahen. Sie wurden verstreut, waren fast unauffindbar, gerieten in Vergessenheit: Das wird nun anders!

oder so?


Nicht weit vom Kottbusser Tor, im Festsaal Kreuzberg, findet heute um 20 Uhr im Rahmen der „Marx Herbstschule“ eine Diskussion mit Stefanie Hürtgen, Robert Kurz und Ricardo Bellofiore statt. Die Überschrift lautet: „‚…hier bricht das Manuskript ab‘. Klasse und Krise: Wie geht es weiter?

und so?

oder so?


Am Kreuzberger Heinrichplatz, von wo aus die Antifa-Demo nach dem Brandanschlag auf den Infoladen „M99“ losmarschiert war, findet am 1.November in der als Weltkulturerbe grundsanierten Kneipe „Goldener Hahn“eine Veranstaltung des Neuköllner Anarcho-Verlags „Karin Kramer“ statt. Dazu heißt es in einer Rundmail:

Liebe Angeschlossene unseres Netzwerkes in Sachen Text,

Am 1. November treffen sich ab 19.30 Uhr in der gottlosen Schankwirtschaft „Zum goldenen Hahn“ drei Autoren, um mit allem abzurechnen. Kirche, Kapital und Krise. „Lektionen“. Die Anarchisten Bernd Kramer und Max. P. sowie Christian Beilfuss werden in der Tradition spiritueller Kleinzirkel die Welt erklären zu versuchen. Mit geistigen Getränken und unheiligen Gesängen. Mit Balkanbeats und Körpereinsätzen, die unsere Welt sprengen werden. Sind halt lebenslange Anarchisten. Es gibt nichts zu verlieren außer dem Glauben. An Aldi, Amok, Andere.

Ich freue mich auf die Trümmer

Text flex

und so?


Abschließend zwei unmaßgebliche Gedankengänge:

1. Auf dünnem Eis

Mitte September fand in der Neuköllner „Astra Stube“ eine Antifa-Belehrung über das rechte Netzwerk in Mitte, Wedding, Weißensee und Kreuzberg statt – mit Fotos, Namen und Daten ausgewählter Neonazis. Für nähere Details wurde man auf die Internetseite „zusammengegendienpd.blogsport“ verwiesen. Es gibt mehrere solcher Internetseiten, die man z.T. abonnieren muß. Sie werden immer polizeywissenschaftlicher, aber auf keiner wird eine (gesellschaftliche bzw. soziale) Analyse der  Neonazi-Bewegung versucht. Fast hat man den Eindruck, dass es sich dabei um einen „Style-Kampf“ – ähnlich dem frühen von  „Exis“ und „Rockern“ und dem späten von „Mods“ und „Teds“, zwischen zwei Jugendgangs also – handelt:  Antifas contra Neonazis, mit Toten und Schwerverletzten allerdings.

Das war in der Studentenbewegung anders: Nach dem Mauerbau 1961 zogen viele Industriebetriebe und auch die reichsten Westberliner nach Westdeutschland. Zurück blieben – vor allem in Kreuzberg und Neukölln – die „Fußkranken“, Eierdiebe, Alkoholiker und Gelegenheitsjobber. Sie waren alle mehr oder weniger rechts, mindestens antikommunistisch, das galt auch für die damals noch etwas „moderneren“ Rocker. Die Linke begriff sie als agitationsempfängliches Subproletariat und in ihrer Marcuseschen „Randgruppenstrategie“ sogar als eine Art „historisches Subjekt“.

Das begann – ähnlich wie jetzt z.B. auf die „Astra-Stube“ und „Tante Horst“ – mit Überfällen von Neonazis auf Kneipen, in denen sie linke Studenten und Ausländer vermuteten. So wurden z.B. die Besitzer – ein Deutscher und ein Libanese – der zwei einzigen Restaurants in S.O. 36: „Stiege“ und „Samira“ von einer Rockerbande vertrieben. Ein erst aus Israel und dann aus einem Beiruter Lager vertriebener Palästinenser, Ahmed Seoud, übernahm ihre Läden. Sein Bruder Mahmoud erinnert sich: „Die Rocker hatten ihr Clubheim im stillgelegten und heute zugemauerten U-Bahnhof Dresdner Straße – unter dem jetzigen Alfred-Döblin-Platz. Später sind sie dann in die Waldemarstraße umgezogen. Da steht heute noch der Satz am Haus „Das Wort hat die Genossin P38″. Auch zu uns kamen sie dann. Wir haben damals 1974 richtig gegen die Rocker gekämpft. Dabei haben wir uns mit anderen Kneipenbesitzern, die sich ebenfalls bedroht fühlten, zusammen getan. Auch unsere Gäste, Linke, Künstler und Studenten, hielten zu uns. Die Polizei hat dagegen nie geholfen, sie hat uns nur ermutigt: ‚Weiter so!'“

Umgekehrt halfen „die Palästinenser“ dann dem zuvor besetzten „Tommy-Weisbecker-Haus“, einen Neonazi-Überfall abzuwehren. Ähnlich war es bei dem 1971 von Lehrlingen, Trebegängern und Schülern besetzten „Georg-von-Rauch-Haus“: Zum Schutz vor Neonazi- und Polizeiüberfällen rückten jede Nacht Genossen aus dem Moabiter „Sozialistischen Zentrum“ an. Es kam hier jedoch zu keinem Überfall, jedenfalls so weit ich erinnere.

Die Neonazis wurden immer weniger, die Altnazis sowieso und die Rocker gaben irgendwann klein bei. Zuletzt wurde sogar das Lokalverbot für sie aufgehoben, allerdings kamen sie in die „Stiege“ und in das „Samira“ nur ohne ihre Jacken rein, die voller „Nazi“-Embleme waren. Eine Bande nannte sich „Kettenhunde Berlin“, die andere „Phönix“, und dann gab es noch die „Hell’s Angels“. Ihren Club, den  „Jodelkeller“ in der Adalbertstraße, gibt es bis heute, nur dass die Geschäftsführerin inzwischen eine Semipalästinenserin ist: Leila, und die Rocker, die inzwischen alle 60 oder 70 sind, statt mit Motorrädern mit Fahrrädern  oder sogar mit Rollator vorgefahren kommen.

Ende der Sechziger, Anfang der Siebzigerjahre hieß es: Nach 45 Antifa zu sein, zeugt bloß noch von feigem Mut. Man konnte damals den Eindruck gewinnen, dass die linke Bewegung  sich immer weiter ausbreitet, d.h. immer mehr soziale Gruppen erfaßt. Im selben Maße wurden die letzten Neonazi- und Rockergruppen aus Kreuzberg und Neukölln verdrängt. Aus den autoritären Banden der letzteren schlossen sich Einzelne sogar den „Antiautoritären“ an, im Westberliner SDS gelangte z.B. der aus dem Ruhrgebiet stammende Bodo Saggel zu – verdientem – Ruhm. Er zog sich irgendwann nach Lüchow-Dannenberg aufs Land zurück – und meditierte. 2000 kam er nach Berlin zurück, 2003 fiel er in seiner Kreuzberger Stammkneipe tot vom Barhocker.

Erwähnt sei ferner die Schöneberger Lehrerin Irmgard Kohlhepp, die eine „Rockerkommune“ gründete – und dabei immer wieder herbe Rückschläge (u.a. Wohnungszertrümmerungen) einstecken mußte. Sie war Mitgründerin der Alternativen Liste (AL), wurde später jedoch  als „Rechte“ aus der „Grünen“ Partei  ausgeschlossen. Mit einem Ex-Republikaner hatte sie inzwischen eine Organisation für liberalsoziale Ordnung gegründet. Die Antifas nennen sie eine „Querfrontstrategin“.

Es ist gut möglich, dass die Neonazis in diesen üblen Restaurationszeiten auf dem  Vormarsch sind, als Frontschweine der Sarrazinisten quasi, während in der Linken umgekehrt das Renegatentum epidemisch geworden ist. Der Altgenosse Hans-Dieter  Heilmann übertrieb nur wenig, als er unlängst bemerkte: „Komisch, am Anfang waren wir im SDS höchstens zu zwölft – und jetzt sind wir wieder nur zwölf“. Aber dann bliebe immer noch zu fragen, ob sich die Herrschenden nicht högen, wenn Linke und Rechte in Dauerkämpfe verstrickt sind und mit schon polizeywissenschaftlicher Akribie Daten vom Gegner sammeln. Auf der  obigen Antifa-Belehrung wurde abschließend zu einer Demonstration im Wedding „Nazis auf die Pelle rücken“ aufgerufen und außerdem zu „Action Weekends“ in einigen anderen Bezirken. Die Parole dafür lautete: „Nazis Bullen Religiöse Freaks Macht euch vom Acker!“ Aber wo sollen sie denn hin? Soll man vielleicht Reservate oder gar GULags für all diejenigen schaffen, die es nach „Rassereinheit“ verlangt? Das wäre doch eine völlige Verkennung der derzeitigen Machtverhältnisse und ihrer Entwicklung. Ich erinnere nur an den Beruhigungs-Spruch des drittreichsten  Mannes der Welt Warren Buffett – im  Jahresbrief an die Investoren seines Fonds „Berkshire Hathaway“: „Wenn Klassenkampf in Amerika geführt wird, gewinnt meine Klasse klar.“

Nach der Wende gab es bis 1993 eine branchenübergreifende „Betriebs- und Personalräteinitiative“, in der fast alle großen DDR-Unternehmen vertreten waren, um sich gemeinsam gegen die Abwicklung ihrer Arbeitsplätze durch die Treuhandanstalt zu wehren. Einer ihrer wissenschaftlichen Begleiter, der  FU-Soziologe Martin Jander, kam  hernach zu dem Schluß, der aktionistische Anti-Treuhand-Protest der Initiative transportiere undemokratische und antihumanitäre Parolen: „So hing z.B. auf ihrem Betriebsräte-Kongreß ein riesiges Transparent an der Wand: ‚Wer von der Treuhand nicht reden will, der soll von Rostock schweigen!‘ Keiner der Anwesenden protestierte gegen diese glatte Rechtfertigung des Pogroms in Rostock. Verzweifelte ‚Avantgarden‘ ohne Massen und hilflose Betriebsräte scheuen sich offenbar nicht, mit Pogromen zu drohen.“

Das Transparent wurde  für eine Demonstration der Betriebsräteinitiative gegen die Treuhand-Polltik bereits im Dezember 1992 angefertigt, und keiner aus der Initiative sah etwas Verwerfliches in diesem abgewandelten Horkheimer-Zitat, das original in etwa „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der soll vom Faschismus schweigen“ lautete. „Rostock“ bezog sich natürlich auf den dortigen Neonazi-Überfall auf ein Wohnheim von Vietnamesen 1992. Und gemeint war damit – durchaus im Sinne des Adorno-Zitats, dass der Faschismus einen kapitalistischen Hintergrund hat, ohne den er nicht zu verstehen ist. Aktuell auf den Neonazi-Überfall bezogen, dass der Adressat ihrer Wut und  Enttäuschung, wenn schon aufs Lokale reduziert, dann doch die Rostocker Treuhandniederlassung hätte sein müssen. Das er das nicht war, sondern sich gegen eine Minderheit richtete, die noch viel beschissener dran war als sie, ist erst einmal ein Problem mangelnder Aufklärung. Und gereicht den Herrschenden zur Freude, denen deswegen  daran gelegen ist, dass der völlig verblödete Plebs übereinander herfällt – und sie gefälligst in Ruhe läßt. Dies war mit der Transparent-Parole gemeint. Dem FU-Soziologen Jander sei in diesem Zusammenhang gesagt, dass die „Political Correctness“, die er mit seiner Interpretation einklagen wollte, genau eines der Probleme ist, mit denen wir es derzeit zu tun haben.

2. Auf Zeit spielen

„Die Zahl der Pilzvergiftungen ist in diesem Jahr laut dem Göttinger Giftinformationszentrum (GIZ-Nord) stark angestiegen,“ meldet der Bonner General-Anzeiger. „Amazon“ offeriert 212 Pilzbücher. Wir waren doppelt gewappnet: Zum Einen hatten wir eine Pilzkennerin unter uns und zum anderen das gediegene   Pilzbestimmungsbuch aus dem Ulmer-Verlag, das sich allerdings über Rauschpilze vornehm ausschweigt. Wir waren aber sowieso hinter Eßpilzen her – blieben jedoch bei jedem Pilz stehen und versuchten anhand der Abbildungen und Beschreibungen die Art zu bestimmen. Es gab jedesmal mindestens drei Meinungen. Den Ausschlag gab deswegen stets die Pilzkennerin. Aber wir wunderten uns weiter über die Diskrepanz zwischen der Pilzzeichnung und dem Aussehen der realen Pilze auf dem Waldboden, wo sie sich vielfach ihrer Umgebung angepaßt hatten, aber dabei  verbogen, verfärbt, verschrumpelt, lädiert worden waren. Selbst das gute Pilzbuch aus dem Ulmer-Verlag fiel nach unserer Pilzesammlung auseinander. Es hatte die ganze Zeit geregnet. Als ich später Wladimir Kaminer davon erzählte, machte er Folgendes aus der Geschichte: „Freunde von mir sind Pilze suchen gegangen und haben nach mehreren Stunden im Wald aus Frust den Pilzratgeber zerrissen, weil kein einziger Pilz so aussah wie er im Buche steht. Ihnen geht das seit der Wende so, schimpften meine Freunde. Früher als die Mauer noch stand, sahen die guten Pilze saftig und rund aus, die schlechten waren irgendwie dünn und richtig gefährlich. Im Wald der Gegenwart aber gleicht kein Pilz dem anderen, jeder hat seine eigene Farbe und Form . Oft machen die Guten einen schlechten Eindruck, die schlechten möchte man dagegen sofort in den Korb legen. Alles ist nach dem Fall der Mauer durcheinander gekommen…“

Korrigieren möchte ich hieran: dass wir nicht nach guten und schlechten Pilzen unterschieden hatten. Wir versuchten jeden Pilz anhand des Pilzbuches zu bestimmen, irgendwann gingen wir jedoch ökonomisch vor – und konzentrierten uns auf (zwei) eßbare Arten, das stimmt. Kaminer kommt von da aus wie gewohnt auf den Unterschied zwischen Deutschen  und Russen – in diesem Fall beim Pilzesammeln – zu sprechen: „Die Deutschen suchen mit einem Ratgeber, die Russen handeln nach Gefühl. Während der Deutsche zweifelt und oft mit einem leerem Korb nach Hause geht, nimmt der Russe erst einmal alles mit.“

Wenig später fand ich noch einen weiteren Unterschied in bezug auf Pilze: In ihrem Buch „Phänomene der inneren Topographie“ behauptet die Hamburger Künstlerin Gabi Schaffner (sie beruft sich dabei auf die „Betrachtungen eines Pilzforschers“ von Wladimir Solouchin), dass es eine „Analogie zwischen den Gesetzen und Eigenschaften der Pilzwelt und der Struktur eines ‚untergründigen Denkens'“ gibt. „Und ähnelt ein schöner, giftiger Gedanke nicht einem Fliegenpilz in allem, sogar noch in der Wirkung zwischen Rausch und Brechreiz?  Ein ungenießbarer Pilz ist wie ein falscher Gedanke am richtigen Ort.“

Dies steht im krassen Gegensatz zu dem, was z.B. der „Pilzberater“ des Berliner Botanischen Gartens in einer Broschüre schreibt: „Stolz präsentieren die Sammler ihre Funde, und neugierig sind sie, was der Nachbar im Korb trägt. Mit ihren Kenntnissen wollen sie imponieren oder einfach dazulernen. Selten kommt noch einer mit der Bitte, nur Eßbares aus einem wüsten Sammelsalat auszusortieren. Pilzberatung muß zur Entzauberung beitragen.“ Schreckliche Worte! Im Berliner Naturkundemuseum zeigte der dort angestellte wissenschaftliche Zeichner der Weißenseer Kunststudentin Hanna Zeckau „eines Tages“ einen Überseekoffer mit 18.000 Schmetterlingen aus Lateinamerika, die der Naturforscher Arnold Schultze in den Dreißigerjahren gesammelt hatte. Der Koffer war irgendwann in einem Schrank im Treppenhaus des Naturkundemuseums gelandet – und niemand hatte sich bisher damit beschäftigt. Das tat die Künstlerin nun, indem sie daraus ihre Abschlußarbeit und zusammen mit Hanns Zischler ein Buch machte. Die Süddeutsche Zeitung interviewte sie daraufhin. U.a. wollte die SZ wissen, was es mit dem „wissenschaftlichen Zeichner“ auf sich hat:

„Nehmen wir an, ein Mitarbeiter des Naturkundemuseums hat eine neue Froschart [mit Worten] beschrieben, die er auf einer Expedition gefunden hat. Dann zeichnet der wissenschaftliche Zeichner den Frosch. Er schaut ihn sich durch das Mikroskop an und stellt ihn in einer vergrößerten Form dar. Der Wert der wissenschaftlichen Zeichnungen liegt darin, dass der Zeichner die charakteristischen Merkmale ausarbeitet. Ein Foto würde nur das Individuum abbilden. Deshalb wäre es nicht repräsentativ für die neue Art.“

Im Gegensatz zum wissenschaftlichen Zeichner des Naturkundemuseums, dessen Name die Künstlerin nicht erwähnt, gab es im Botanischen Garten einen wissenschaftlichen Zeichner –  namens Oskar Huth, der die Diskrepanz zwischen Individuum und Art nicht mitmachte. Er ging 1939 in den Untergrund – und stellte Lebensmittelkarten her, die, mit einem Wasserzeichen versehen, echter als die echten waren. Über   100 versteckten Juden sicherte er  damit ihr Überleben.

Essenspause der Hostessen des Konfuzius-Kongresses, der gerade in Quzhou, Provinz Zhejiang, zu Ende ging.

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