Die westdeutsche DDR-Forschung ist durchweg ekelhaft, aber die ostdeutsche kann einen mitunter begeistern! Über die Familie Fuchs z.B. ist schon viel geschrieben worden. Von Johannes R.Becher wurden ihre Mitglieder als die „Buddenbrocks von heute“ bezeichnet. Kürzlich erschienen erneut über den „Atomspion“ Klaus Fuchs drei Bücher, wie mir dessen Neffe Gerhard Fuchs-Kittowski mitteilte, der zwar seit 1998 in der Schweiz lebt, aber als Experte für jüdische Restitutionen nach wie vor in Berlin arbeitet, wo er mir 1995 seine ganze Familiengeschichte erzählte (sie erschien dann in dem Basisdruck-Buch „Berliner Ökonomie“ unter dem Titel „Der Investitionsverzögerer“). Sein Vater, Informatiker an der Humboldt-Universität und davor Assistent von Ernst Bloch in Leipzig: Klaus Fuchs-Kittowski wurde 2002 mit einer Festschrift geehrt.
Inzwischen weiß ich auch einiges über die DDR-Familie Leo. Es ist immer ein Vergnügen, wenn man eine Familie oder Gruppe nach und nach und von mehreren Seiten kennenlernt. So wie z.B. das kleine Moskauer Arbeitslager „Institut Mawrino“, in dem Solschenizyn, Kopelew und ein dritter Dissident, der Ingenieur Dimitri Panin, als Häftlinge an einem abhörsicheren Telefon für Stalin arbeiteten. Alle drei schrieben später dicke Bücher darüber: Solschenizyn hat ihre intellektuelle Zwangsarbeit in seinem Buch „Der erste Kreis der Hölle“ beschrieben, Kopelew in „Aufbewahren für alle Zeiten“ und Panin in den „Notebooks of Sologdin“.
Oder die „Wilnaer Gruppe“ jüdischer Widerstandskämpfer, die nicht nur in den grundlegenden Arbeiten über den jüdischen Widerstand ausführlich thematisiert wird, sondern auch in vielen Einzelstudien, zuletzt 1998 von Ingrid Strobl – in „Die Angst kam erst danach“. Es ist hochinteressant, auf diese Weise nach und nach fast die ganze Partisanengruppe kennen zu lernen.
Nun zur Familie Leo: Kurz nach der Wende lernte ich zunächst die Historikerin Anette Leo kennen, der damals zusammen mit der Historikerin Regina Scheer das Traditionskabinett vom Prenzlauer Berg quasi zugeschoben worden war, wo sie dann einige Veranstaltungen organisierten. Die beiden schrieben in der Folgezeit eine ganze Reihe von Büchern über das einstige jüdische Leben in Berlin. Sie arbeiteten damit einen Teil der Geschichte auf, von dem die Kommunisten nie etwas wissen wollten – beide waren in der Partei (im Gegensatz zu ihren Ehemännern). 1991 veröffentlichte Annette Leo, die zuvor beim „Neuen Forum“ aktiv geworden war, im „Basisdruck“-Verlag eine Biographie über ihren Großvater mütterlicherseits Dagobert Lubinski: „Briefe zwischen Kommen und Gehen“ (das Buch wurde 2008 im trafo-Verlag neuveröffentlicht). Der kommunistische Journalist und Widerstandskämpfer Lubinski, der 1928 die „Kommunistische Partei Opposition“ (KPO) mitbegründet hatte, wurde 1936 verhaftet und anschließend in Auschwitz ermordet.
Annettes Vater Gerhard Leo, ebenfalls ein Kommunist und Journalist, schloß sich 1940 als 17jähriger der „Résistance“ an. 2004 wurde er vom Präsidenten der französischen Republik zum Ritter der Ehrenlegion ernannt. In der DDR arbeitete er u.a. für das Neue Deutschland. Er schrieb eine ganze Reihe von Büchern. Nach der Wende lud ihn Dr. Seltsam mehrmals in seinen „Club Existentialiste“ ein. Über seine Partisanenzeit veröffentlichte Gerhard Leo 1988 das Buch „Frühzug nach Toulouse“, das 2006 erneut – im trafo-verlag – erschien. In diesem Verlag hatte er zuvor bereits „Das Tagebuch der Denise Bardet“ (über die Zerstörung der Gemeinde Oradour-sur-Glane 1944) veröffentlicht.
Nun, 2009, erschien auch noch eine Geschichte über die ganze Familie Leo – von Gerhard Leos Enkel Maxim, dem ältesten Sohn von Annette Leo: „Haltet euer Herz bereit“. Ein wunderbares Buch – ohne große Eitelkeiten, Abschweifungen und Ausschmückungen. Der Autor ist Redakteur bei der „Berliner Zeitung“, wo auch schon seine Mutter arbeitete, die es dann jedoch vorzog, sich als Autorin selbständig zu machen, ähnlich wie ihr Mann Wolf, Maxim Leos Vater – ein freischaffender und parteiloser Künstler.
Maxim Leos „ostdeutsche Familiengeschichte“ hat nichts gemein z.B. mit dem Skandalroman über die Familie Havemann – von Florian Havemann, auch nicht mit anderen ostdeutschen Biographien, seltsamerweise am ehesten noch mit der westdeutschen von Richard D. Precht: „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“. An einer Stelle heißt es bei Maxim Leo – sinngemäß: Dass bei seiner Mutter und ihm die Beschäftigung mit der DDR erst in dem Augenblick ernsthaft begann – als sie verschwunden war.
Da noch etwas Freigeld übrig geblieben war, erbaute man anschließend auch noch diesen stolzen Hinweispoller. Leider verschwand er irgendwann.
Eher bescheiden macht sich dagegen dieser Wüstenpoller in Arizona aus – aber seine Botschaft bleibt rätselhaft. Soll sie die Wageninsassen vor dem Verschwinden im Nichts bewahren,
Und was wollte uns der Architekt mit dieser üppigen Polleranlage bei Barcelona sagen, die wie ein stiller Spielplatz aussieht, auf dem jemand alle Kinder durch Verpollerung zum Verschwinden gebracht hat – handelt es sich dabei etwa um eine subtile Gesellschaftskritik? Photos: Peter Grosse
Noch einmal – etwas ausführlicher – über das Verschwinden (aus einem Vortrag auf der Jungviehweide „Kalte Buche“ in der Rhön):
Schon Herodot sah im Nomadentum (der Skythen, d.h. der Barbaren) vor allem eine „Strategie“, die darin bestand, dass sie unfassbar waren (aperoi): Wenn man sie bekämpfte, zogen sie sich zurück. Und wenn man nicht mit ihnen rechnete, griffen sie an. Das gilt – bis heute – auch für alle Partisanenformationen und Verbrecherbanden, aber die Unfassbarkeit bzw. das Verschwinden wird für sie heute zu einem immer größeren „Problem“ – für das es viele Lösungen gibt und manchmal keine. Zudem stellt es sich nach Art eines Hase-Igel-Rennens immer wieder aufs Neue.
Hier wurde es zuletzt als „Untertauchen“ von „illegalen Gruppen“ diskutiert – und auch praktiziert. Am Beispiel der Tupamaro-Guerilla in Uruguay verwies Wolfgang Schöller dabei 1970 auf zwei Formen von subversiv langangelegter „Maulwurfstätigkeit“, indem er bei der Stadtguerilla „militante Aktionen“ und die „bewußte Arbeit im Apparat“ unterschied. Zusammen käme beides z.B. bei einem Banküberfall, wenn die einen von außen einbrechen oder reinstürmen und die anderen ihnen von innen zuarbeiten würden.
Die letzteren hatten zuvor bereits Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl auf der SDS-Delegiertenkonferenz 1967 im Blick gehabt, als sie den linken Studenten im Zusammenhang ihrer bürgerlichen Perspektive zu bedenken gaben: „Das Sich-Verweigern in den eigenen Institutionsmilieus erfordert Guerilla-Mentalität, sollen nicht Integration und Zynismus die nächste Station sein.“ Wenig später wurde aus diesem „verdeckten Einsatz“ (in Ämtern und Organisationen) die Strategie des „Langen Marsches“, wobei dieser ursprünglich chinesische Kraftakt im Raum (in der Horizontalen) unter der Führung von Mao tse Tung hier nun vertikal umgedacht wurde. Er bestand kurz gesagt darin, in die Institutionen einzusickern, dort voranzukommen und dabei kleine subversive Gruppen zu bilden – mithin als in der Öffentlichkeit agierende Linke zu verschwinden. Auch äußerlich, indem man sich z.B. die langen Haare abschnitt und statt Jeans und Parka dunkle Anzüge trug. Ein Outfit, der bereits von Adolf Loos als optimale Tarnung im städtischen Raum begriffen wurde: Das war keine Mimese (verstanden als Angleichung an den Hintergrund bzw. die Umgebung, um ununterscheidbar zu werden), also keine Anpassung von maoistischen Ex-Studenten an die Junior Executives in der City, sondern eher Mimikry: So wie z.B. eine ungiftige Schlange eine giftige im Aussehen nachahmt!
Demgegenüber riet die französische Feministin Luce Irigaray den militanten Frauen zur „Mimese“: Dabei gehe es darum, so sagte sie, „die Rolle freiwillig zu übernehmen. Was schon heiße, eine Subordination umzukehren in Affirmation, und von dieser Tatsache aus zu beginnen, jene zu verteiteln.“ Judith Butler sprach später ähnlich von „Strategien subversiver Wiederholung – denn eine gute Mimin geht nicht in dieser Funktion auf.“ In diesem Zusammenhang war dann auch von einer „nicht-bejahender Affirmation“ die Rede.
Zuvor hatte die RAF für ihr Verschwinden als urbane Guerilla die dafür passenden Räume durch eine situationistische „Entwendung“ bzw. Brechtsche „Umfunktionierung“ dessen gefunden, was der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser dann mit Alexander Mitscherlich als „die Schandflecke sozialer Anomalie in den Vorstädten, die Anonymität der Wohnblocks“ nennt, „wo keiner mit den Nachbarn redet und wo Einkaufen, Dienstleistung und Konsumbeziehungen die Lebensqualität definieren.“ In solch einer tristen Plattenbau-Wohnung richtete die RAF dann auch ihr „Volksgefängnis“ ein. „Nicht einmal der Hausmeister konnte sich später daran erinnern, wer genau darin gewohnt hatte.“ Es waren gerade solche „Nicht-Orte, wie Autobahnabfahrten, Straßenbahnkreuzungen in Vororten, Industriebrachen und ausufernde Wohnsiedlungen, die der RAF Deckung boten.“ Dazu benutzten sie noch durchweg BMWs, die bald als „Baader-Meinhof-Wagen“ bekannt wurden. Während sie dergestalt in der Ununterscheidbarkeit verschwanden, tauchten sie gleichzeitig überall in der Bild-Zeitung, auf Fahndungsplakaten und Polizeifotos wieder auf.
In Hannover nannte man Anfang der Siebzigerjahre eine linke Kneipe „Langer Marsch“ und in Berlin machte der SDSler Tillmann Fichter daraus erst eine Zeitung: „Der lange Marsch“ und ging dann selbst mit gutem Beispiel voran – durch die ganze SPD-Hierarchie. Anders als z.B. die Trotzkisten „integrierte“ er sich jedoch darin – und fiel damit noch hinter Ernst Jüngers antiamerikanischem Individualpartisanen zurück, den dieser nach dem verlorenen Krieg als einen „Waldgang“ skizziert hatte, als den er Martin Heideggers „Holzweg“ umdeutete – zur Existential-Utopie eines Vereinsamung riskierenden Unbeugsamen. „Der Wald ist der Ort des Widerstands, wo neue Formen der Freiheit aufgeboten werden gegen neue Formen der Macht,“ so faßte Ernst Jüngers Verlag dessen „Waldgang“ im Klappentext 1951 zusammen. Carl Schmitt kritisierte daran das Unpolitische: „Dann kann schließlich jeder Einzelgänger oder Non-Konformist ein Partisan genannt werden, sofern er auf eigene Rechnung und Gefahr Position bezieht und Partei nimmt“.
Inzwischen sind die meisten Aktivisten aus den Sechzigerjahren auf eine ähnliche Weise wie der SDSler Fichter aus der Linken „verschwunden“. Das Gegenteil wäre ein numerisches Verschwinden gewesen – indem mit Ausweitung der Kämpfe die Aktivisten darin quasi auf- bzw. untergehen („Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern,“ so sagten es die Situationisten). Stattdessen geschah das „Fading-Away“ der Bewegung jedoch vor allem durch Single-Issue-Projekte und Vereinzelung bzw. Anpassung und Karriere. Etwas anders war es bei den Tupamaros, die laut Abrahàm Guillén den Fehler machten, ihre „Kampfkolonnen“ aus der Stadt abzuziehen und aufs Land – in die Wälder – zu schicken, wo sie sich in „Tacuteras, einer Art von unterirdischen Kasernen, verbargen“. Dadurch zersplitterten sie nicht nur ihre Kräfte, das Verschanzen in „Tacuteras“ war auch ein Fehler, da diese leicht eingekreist und eingenommen werden konnten. Die Guerilla muß unter allen Umständen beweglich bleiben, „so dass jedes gegen sie gerichtete militärische Unternehmen damit endet, dass das Kampfobjekt verschwindet“, wie bereits Karl Marx betonte. Der Tupamaro León Dúter erklärte der Journalistin Gaby Weber 1989: „Meine Gruppe ist zuerst in die Gegend von Paysandú gegangen, in den Queguay-Wald, für uruguayische Verhältnisse ist er sehr groß, aber für einen wirklichen Schutz reicht er nicht aus.“
Mit ihrer Aufspaltung in Stadt- und Landformationen und deren partieller Vernichtung setzte gleichfalls ein Verschwinden der Tupamaros ein. Die meist ländlichen Guerillabewegungen hat der Wald ansonsten jedoch eher vor dem Verschwinden – im Sinne von Aufgerieben-Werden – geschützt. Von dort – aus dem Unsichtbaren heraus – griffen sie dann auch immer wieder an. Der Wald war stets ihr zuerst „befreites Gebiet“. In Polen mußten sich die Aufständischen in ihrer Geschichte mehrmals in die Wälder zurückziehen. In Warschau verschwanden sie nach den letzten Aufständen 1943 und 1944 durch die Kanalisation – und versuchten von dort ebenfalls in den Wald zu gelangen. In Burma, Sri Lanka, auf den Philipinen und in Lateinamerika halten sich noch heute größere Partisanenverbände in Wäldern versteckt. In Nicaragua veröffentlichte der Sandinisto Omar Cabezas seine Erinnerungen unter dem Titel: „Der Wald ist mehr als eine große grüne Hölle“. Nicht nur provisorisches Rückzugsgebiet, sondern auch Ort ihrer Klärung, Zweifel und Einsamkeit. Gleichzeitig bietet er ihnen Nahrung und gibt ihnen die Möglichkeit, die komplizierten Lebensverhältnisse und -stile im Wald zu verstehen.
Ein Widerstandskämpfer (aus dem Zweiten Weltkrieg), Shmuel Ron, schreibt in seinen „Erinnerungen“: „Vor allem aber brannten wir darauf, uns den Partisanen in den polnischen Wäldern und in Weissrussland anzuschließen.“ Ähnlich äußerten sich 1995 auch die „Waldpartisanen“ Jack und Rochelle Sutin, denen Ende 1942 die Flucht aus einem schlesischen Ghetto gelang: „Wir teilten uns in kleine Gruppen auf und machten uns daran, in den Wäldern zu überleben. Wir hofften noch immer, uns russischen Partisanen anschließen zu können, aber wir hatten keine Ahnung, wo sie sich aufhielten…Tief im Wald begannen wir, einen Bunker für den Winter zu graben…Unser Zeitplan sah so aus, dass wir um zwei Uhr nachts zu kochen begannen, dann aßen und tagsüber schliefen.“ Diese Waldgebiete in Nordosteuropa waren zu groß, als dass die Deutschen sie systematisch hätten „säubern“ können – im Gegenteil, umfaßten die „befreiten Gebiete“ bald mehrere tausend Quadratkilometer. Sie boten Sicherheit und die Möglichkeit, sich mit anderen Partisaneneinheiten, vornehmlich sowjetischen, zu vereinen, um die Deutschen von da aus gemeinsam und besser bewaffnet zu bekämpfen. So entstand z.B. ab Herbst 1943 unter den jungen Widerstandskämpfern im Ghetto von Wilna eine regelrechte „Waldideologie“, wie Rachel Margolis dies in ihren „Erinnerungen an den jüdischen Widerstand in Litauen“ nennt. Immer mehr junge Leute „träumten davon,“ schreibt sie, „mit uns in den Wald zu gehen.“ Als ihre Gruppe nach mehrtägigen nächtlichen Märschen ihre Ziel endlich erreicht hat, notierte sie: „Im Wald herrschte eine feierliche Stille. Riesige Kiefern und Tannen umgaben uns. Wie wunderbar war das Gefühl von Freiheit.“
Anders im eher baumarmen Süditalien – wo der Wald, die macchia, u.U. zu einer Falle werden kann: Dort führte z.B. Carmine Donatelli Crocco 1861 „seine Brigantenarmee gegen die Scharen des italienischen Nationalhelden Garibaldi in einen Krieg ohne Chance,“ schreibt Thomas Hauschild in seinem Buch „Magie und Macht in Italien“. Der Ethnologe lebte 20 Jahre lang in Ripacandida, wo der Aufstand der Briganten seinen Anfang nahm. Nicht weit davon – im Wald unter dem Gipfel des Vulture und über den Almseen am Heiligtum von Sankt Michael – fanden sie vier Jahre lang Schutz vor den berittenen Truppen, wobei sie von den Bauern und Hirten der Umgebung unterstützt wurden. Schließlich gelang es der Armee jedoch, die „wüsten Waldmenschen“, wie Hauschild sie nennt, einzukreisen und zu vernichten: Etwa 18.000 von ihnen, Männer und Frauen, wurden hingerichtet.
Die Asymmetrie der Waffen wirkt sich meist zu Ungunsten der Aufständischen aus. Um trotzdem dem Gegner gewachsen zu sein, versuchen Mensch und Tier es laut Roger Caillois mit „mimetischer Magie“, um damit „Gleiches durch Gleiches zu erzeugen“. So berichtet z.B. der holländische Kurdologe M.M. van Bruinessen: „Eines Tages sah ich den Scheich ein ganz besonderes Amulett eines berühmten Typs anfertigen: ein gulebend – d.h. einen Kugelfänger. Scheich Osman ist einer der ganz wenigen Scheichs (vielleicht der einzige noch lebende), der die Fähigkeit (und erforderliche Heiligkeit) besitzt, diese nützlichen Prophylaktika gegen Kugeln und Sprengkörper herzustellen. Der Mann, der darum gebeten hatte, war ein irakischer Kurde, ein Lehrer aus einem Dorf, das regelmäßig bombardiert wurde (dies war während des Krieges 1975/76). Das Amulett bestand aus einem langen Text, Beschwörungen und Koranversen. Der Scheich gab es zwischen zwei kleine viereckige Kartonstücke, wickelte es in Rohbaumwolle und ließ es in Stoff einnähen. Er sagte dem Mann, er solle es sich an den Oberarm binden und in der Achselhöhle aufbewahren, sobald Gefahr drohe, es jedoch nach oben drehen.“
Thomas Hauschild berichtet Ähnliches über die italienischen Aufständischen: „Bei vielen toten und eingekerkerten Briganten hat man ‚Schutzbriefe‘ gefunden, von Priestern geschrieben, die Zettel sollten sie unverwundbar machen.“ Und es gelangen ihnen auch immer wieder erfolgreiche Aktionen bis hin zur Einnahme ganzer Städte. Das war dann ein magischer Moment – „il momento magico, über den in Italien so viel gesprochen wird, das Aufgehen im erfolgreichen Tun.“ Auch bei den zwei großen Aufständen gegen die weißen Kolonisatoren in Zimbabwe 1890 und 1970 war Magie im Spiel: Diese Guerillakriege wurden von der bereits 500 Jahre zuvor gestorbenen Prophetin Mbuya Nehanda angeführt, indem sie den Kämpfern als „Medium“ bzw. als „Orakel“ diente.
Der englische Soldat Stuart Hood, der im Zweiten Weltkrieg aus einem norditalienischen Gefangenenlager floh und sich dann zusammen mit einem Kriegskameraden den toskanischen Partisanen anschloss, entschied unterwegs zunächst ebenfalls auf „magische Weise“, welches Versteck einigermaßen sicher zu sein schien und welcher Bauer sie nicht verraten würde. Der bereits erwähnte jüdische Partisan Jack Sutin hatte eines Nachts im Waldbunker einen Traum – mit „magischer Wirkung“: Eine Stimme – sie klang wie die seiner Mutter, sagte ihm, dass er in den Wäldern seine Jugendfreundin Rochelle finden werde und dass sie zusammenbleiben würden. Drei Monate später tauchte Rochelle tatsächlich im Partisanenlager des Naliboki-Waldes auf. Seitdem leben die beiden zusammen.
Der Kulturwissenschaftler Simon Shama hat in einer Studie über „Den Traum von der Wildnis“ den polnischen „Urwald von Bialowieza“ (Podlasien) historisch „durchforstet“ – die „Rumpfheimat des Wisent, aber auch der polnischen Outlaws und Partisanen. Ferner Jagdgebiet der Könige – und Ausgangspunkt der polnischen Forstwirtschaft bzw. -wissenschaft, die wiederum oft Beziehungen zu den Partisanen in ihren Wäldern unterhielt“. So gehörte z.B. zu den Partisanen, die sich nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands Ende 1830 und der Auflösung Polens in die Wälder von Podlasien – der puszcza – zurückzogen, auch Emilie Plater, „eine Soldatin, aus deren Familie zu Beginn des Jahrhunderts mehrere Forstbeamte gekommen waren.“ 100 Jahre später erklärte die Pilsudski-Regierung das Waldgebiet zum ersten polnischen „Nationalpark“. In ihm begannen die ersten Gefechte zwischen Nationalökonomie und -ökologie. Die nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen als Partisanen in diesen letzten europäischen Urwald geflüchteten Juden – kamen „in eine neue Welt“, schreibt Simon Shama, „… die Veteranen, die sich als ,Wölfe‘ bezeichneten, waren von allen Generationen der ,Puszcza‘-Kämpfer die verzweifeltste“.
In Südfrankreich wurde das Wort für Buschwald – „Maquis“ – sogar identisch mit der Eigenbezeichnung der Partisanen. Ein deutscher Journalist – Gerhard Leo, der sich 1942 dem Maquis bei Toulouse anschloß, berichtet – als er seine Leute gefunden hatte und sie im Wald untertauchten: „Über uns breiten sich die Kronen der Eichen, Buchen, Kastanien und Kiefern wie ein schützendes Dach.“ Von dort aus griffen sie zusammen mit anderen Partisanengruppen eine deutsche Garnison an. Als die Deutschen Verstärkung bekamen, mußten sie sich jedoch wieder zurückziehen: „Wir rennen zu den schützenden Bäumen des Waldes rechts von der Straße. Über uns zerbrechen Äste unter den Salven…Der Wald wird dichter…Wir sind noch mal davongekommen…In die Wälder, die gepanzerte Fahrzeuge schwer durchqueren können, wagen sie sich nicht…Die Wälder beherrschen wir noch, aber nicht mehr die Ortschaften und die Straßen.“ Wie sie machte auch Alex Faitelson die Erfahrung: „Die Nazis fürchteten den Wald wie die Pest.“
Den Partisanen, die in die Wälder gingen, wurden diese zunehmend vertrauter. In vielen Partisanenbiographien wird davon berichtet. Erwähnt sei eine Sammlung von Erinnerungen deutscher und sowjetischer Partisanen, einer, Sepp Gutsche, gab seinem Bericht den Titel „Der Sumpf – Freund der Partisanen“. Eine Autobiographie der Partisanin Donia Rosen hat den Titel: „The Forest, my Friend“. Einige Autoren sprechen in ihren Büchern vom Wald als von einem „Verbündeten“, andere – wie der weissrussische Partisanenführer Alexej Fjodorow – von einem „natürlichen Freund – aber auch diese Beziehung muß entwickelt und erarbeitet werden“.
In und um Odessa operierten die Partisanen statt von den Wäldern, die es dort kaum gab, von den riesigen Katakomben aus, die sich fast unter der ganzen Stadt ausdehnten. Und die vietnamesischen Bauernpartisanen gruben sich selbst ein umfassendes Netz unterirdischer Versorgungslager und -tunnel, das heute zu den großen Touristenattraktionen des Landes zählt. Daneben griffen sie jedoch auch – ebenso unsichtbar – aus den Wäldern heraus an, wobei sie zunehmend die Flora und Fauna zu nutzen verstanden: nicht zuletzt zu Heilzwecken. Während umgekehrt die US-Luftwaffe immer mehr Entlaubungsgifte über den Wäldern versprühte – 80 Millionen Liter insgesamt, um sie wieder ins Sichtbare zu zerren und zu vernichten. Der deutsche Psychiater Erich Wulff, der zu Zeiten des Krieges in Hué arbeitete, schrieb in seinem Buch „Lehrjahre in Vietnam“: Am Anfang war der „Vietkong fast ein Phantom“, aber nach und nach nahmen immer mehr Leute aus seiner Umgebung in Hué „Kontakt mit der Befreiungsfront“ auf, die irgendwo „da draußen auf dem Land bzw. im Dschungel“ war. Bald rückte die „befreite Zone“ jedoch näher: „Das Maquis war nicht mehr, wie 1964, ein Kuriosum, wo man seine Neugierde befriedigte. Es wurde immer mehr zum geistigen, politischen und organisatorischen Zentrum für die Orientierung der Menschen in der Stadt“.
Nach dem demoralisierenden „Deutschen Herbst“ 1978 wurde auf dem Berliner „Tunix-Kongreß“ das Unsichtbar-Werden qua Sich-Entfernen fast wörtlich genommen: Als Abhauen aus diesem Land. Wenn man weggeht, wird man immer kleiner! Die französischen Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari, die man auf den Tunix-Kongreß eingeladen hatte – sprachen in ihrem Buch „Anti-Ödipus“ – ähnlich von einem „Klein-Werden Schaffen“, sodann – in ihrem Buch „1000 Plateaus“ und ausgehend von Kafkas „Verwandlungen“ – von einem Frau-Werden, Schwarz-Werden und Tier-Werden sowie von einem Molekular- bzw. Bakterie-Werden – und schließlich von einem gänzlich „Unwahrnehmbar-Werden“.
Diese „Strategie“ kam bereits im Maji-Maji-Aufstand“ zum Tragen, der von 1905 bis 1908 in Ostafrika stattfand – und sich gegen die deutsche Kolonialherrschaft richtete. Maji heißt Wasser. Gemeint ist damit aber eine „Kriegsmedizin“ auf der Basis von Wasser, die der „Prophet Kinjikitile“ den Kämpfern u.a. in einem Amulett mit auf den Weg gab, gleichzeitig startete er eine großangelegte „Flüsterkampagne“ – mit einer geheimen Kriegsbotschaft, die gegen Bezahlung weiter gegeben wurde. Die Medizin sollte die Kämpfer – verbunden mit einer neuen Moral: Keuschheit und Besitzlosigkeit – vor den Kugeln der deutschen Gewehre schützen: die Krieger also unverwundbar machen. Als das Maji bei Angriffen nicht half, konnten die Boten des Propheten zunächst argumentieren: Ihr wart nicht enthaltsam genug und geplündert habt ihr auch. Der Aufstand vereinigte erstmals zwanzig Stämme, die sich zuvor teilweise bekriegt hatten. Einige Stämme wiesen die Maji-Medizin jedoch zurück, mit der Begründung, ihre eigenen Heiler hätten ebenso brauchbare Mittel – z.B. solche, die sie und ihre Dörfer im Falle einer Gefahr unsichtbar machen würden, indem sie sie in Termitenhügel oder Wälder verwandeln.
Der Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin erforschte kurz nach dem Krieg in Jugoslawien die dort nach der Demobilisierung massenhaft aufgetretene „Partisanenkrankheit“. Diese besteht kurz gesagt darin, auch nach dem Sieg nicht mit dem Kämpfen aufhören zu können. Sie äußert sich in hysterischen „Kampfanfällen“. Parin führte sie auf die strenge Sexualmoral der jugoslawischen Partisanen – mit Ausnahme der slowenischen zurück, bei denen diese „Krankheit“ dann auch nicht auftrat. Im Volk war demgegenüber die Meinung verbreitet, dass die ehemaligen Partisanen, vor allem die MG-Schützen, deswegen „Kampfanfälle“ bekamen, weil die vielen von ihnen umgebrachten Menschen sie zu sehr „belasteten“. Dazu trug auch ein Spielfilm von Velko Bulajic „Nachkriegszeit“ bei, in dem u.a. auch ein an dieser „Krankheit“ leidender Partisanenveteran gezeigt wurde. Neuerdings hat sich die Schweizer Psychoanalytikerin Ursula Hauser, die in Costa Rica ein Krankenhaus mit aufbaute, in Nicaragua mit einer ähnlichen Symptomatik wie die Partisanenkrankheit beschäftigt. Es handelt sich bei den von ihr daraufhin untersuchten Patienten um Miskito-Indianer: Sie wurden früher von Charismatikern der Brüdergemeine beeinflußt und lebten als Gesellschaft derart isoliert – im Wald, dass sie sich primär durch Inzest vermehrten. Schließlich wurde der Stamm in zwei Teile geteilt – die einen schlossen sich den Sandinistas an, die anderen den Contras. Anschließend kam es unter ihnen zu den hysterischen „Kampfanfällen“, die denen der jugoslawischen Partisanen nach ihrer Demobilisierung ähnelten. Ähnliches berichtete bereits Nadeshda Mandelstam in ihren Erinnerungen aus Russland: Als sie und ihr Mann Ende 1922 nach Suchumi fuhren, befanden sich auf dem Schiff auch etliche aus dem Bürgerkrieg nach Hause kehrende Leichtverwundete, von denen einer nach dem anderen hysterisch-epileptische „Kampfanfälle“ bekam. Paul Parin hält diese von ihm und den jugoslawischen Psychiatern so genannte „Partisanenkrankheit“ für „ansteckend“.
Neben dieser „Ver-Störung“, heute würde man vielleicht „Trauma“ sagen, kennen die Partisanen aber auch noch eine andere: Die Waldkrankheit. Der polnische Schriftsteller Yuri Suhl hat sie in seinem Roman „Auf Leben und Tod“, der von jüdischen Partisanen in einem ukrainischen Wald handelt, beschrieben, wobei er sich auf eine Krankenschwester in einem Waldlager berief, die über dieses Leiden einen ihrer Patienten aufklärte: „Der Wald kann dich heilen und krank machen. Einige Partisanen haben jahrelang Krankheiten gehabt, die im Wald verschwanden. Keiner weiß warum. Es ist ein Rätsel. Und andere, die vorher nie etwas gehabt haben, werden krank, so wie du, mit hohem Fieber und Schüttelfrost.“ Während es in Jugoslawien die Rückkehr in die Gesellschaft war, ist es hier umgekehrt der Partisanenwald, der sie depersonalisiert. Der noch jugendliche Waldkranke wurde nach seiner Genesung in der Kreisstadt unter den Deutschen eingesetzt, wo er erfolgreicher war. Kürzlich berichtete der aus dem lakandonischen Regenwald von Chiapas zurückgekehrte Biologe Cord Riechelmann, dass er dort ebenfalls „waldkrank“ geworden sei: „Tag und Nacht ist man von Wald umgeben, man kann nicht weit kucken, hört ständig Geräusche und entdeckt laufend irgendetwas Neues. Auch viele Zapatistas werden dort waldkrank. Sie haben deswegen inzwischen davon abgesehen, aus jungen Mitkämpfer, die zu ihnen in den Wald kommen, Illegale zu machen, mit falschen Pässen und allem was dazugehört, weil sie dann in gewisser Weise gezwungen sind, im Wald zu bleiben – und um so eher waldkrank dort werden.“
Wenn die „Partisanenkrankheit“ nach Sieg und Demobilisierung vor allem junge ungebildete Bauern befiel, wie Parin meint, dann litten wenigstens im Zweiten Weltkrieg unter der „Waldkrankheit“ vor allem Leute aus der Stadt – noch während der Kämpfe. Die bereits erwähnte Waldpartisanin Rachel Margolis erwähnt kurz, warum: „Am besten kamen die jungen Leute vom Land zurecht. Sie waren darin geübt, Holz zu hacken, Suppenkessel über das Feuer zu hängen, Pferde zu satteln, und sie kannten alle Wege und Pfade. Für uns aus der Stadt war alles sehr schwierig. Alles stellte für uns zunächst ein Problem dar, selbst das Wickeln der Fußlappen.“
Aber auch in der Stadt ging es für die Widerstandskämpfer noch darum, Unwahrnehmbar zu werden – nur dass hier der Raum die Kultur und nicht die Natur war. Dazu wurde dem e.e. jugendlichen Waldkranken, den man in die Stadt zurückschickte, eingeschärft: 1. „Für einen Juden, der als Nichtjude überleben will, gibt es nichts Schlimmeres, als einen ängstlichen Eindruck zu machen. Angst ist noch schlimmer als Trauer.“ 2. Muß er gutes Ukrainisch sprechen: „Für einen Juden im Ghetto ist das wie ein Reisepaß für die arische Seite“. Sprachen „können heute über Leben und Tod entscheiden.“ 3. Braucht er „Verbindungen“. Das war in seinem Fall ein Ukrainer, „dem man vertrauen kann, mit dem wir zusammenarbeiten.“ Und schließlich benötigt er neben einem „guten Gesicht, guten Papieren und akzentfreiem Ukrainisch eine Verkleidung“ – z.B. als Bettler oder Musiker. Aber auch jede andere Verkleidung, „die funktioniert, ist gut.“ Die Gruppe von Rachel Margolis trug ihr Maschinengewehr auseinandergenommen in Geigenkästen in den Wald, daneben gab es jedoch auch einige Mädchen, die man im Ghetto von Wilna „mit gefälschten Papieren und ohne Waffen, als Bauernmädchen getarnt“ auf den Weg geschickt hatte.
Vom Wert der Kleidung – als optimale Verkleidung, um unerkannt agieren zu können, berichten viele Partisanen. So schützten sich die jüdischen Kuriere, indem sie sich äußerlich an die Deutschen anglichen. Shmuel Ron berichtet: „Ich war verantwortlich für eine Gruppe von Mädchen mit ‚arischem‘ Aussehen, die dazu bestimmt waren, auf der ‚arischen Seite‘ tätig zu sein, und ich begann, mich auch auf das Fälschen von ‚arischen‘ Papieren zu spezialisieren.“ Rochelle Sutin verkleidete nach der Befreiung ihren Mann Jack als Frau, damit er nicht zuletzt noch zur Roten Armee mußte: „Das hat ihm das Leben gerettet, ich weiß es.“ Andere Partisanen schworen auf bestimmte Kleidungsstücke, einen Hut etwa, der so etwas wie eine „magische Schutzfunktion“ für sie besaß. Andersherum entledigt sich z.B. die tschetschenische Kriegsberichterstatterin Heda Saratowa heute ihres Kopftuchs, wenn sie in Moskau ist: „Muslimin bin ich auch ohne Kopftuch,“ sagt sie und dass sie in Moskau nicht auffallen will: „So fühle ich mich hier unbeobachtet.“ Lange zuvor hatte die algerische Befreiungsbewegung dies bereits durchdekliniert: Erst entschleierten sich die für die FNL aktiv werdenden Frauen, um unkontrolliert zu bleiben, dann verschleierten sich die Männer, um leichter entkommen zu können, schließlich veranstalteten die Franzosen in Algier Massen-„Entschleierungs“-Aktionen, die sie als Frauenbefreiung begriffen, woraufhin sich die Algerierinnen, die inzwischen entschleiert waren, wieder verschleierten.
Ebenfalls um nicht aufzufallen, passen sich mitunter gleich mehrere Tierarten der dominierenden Farbe einer Region an: „So traf ich im südlichen Brasilien eine ganze zirkumskripte Waldstelle, bei der mir sofort die lebhafte Blaufärbung aller hier vorhandenen Tiere auffiel. Von zwanzig Schmetterlingen, welche an mir vorüberflogen, waren wenigstens zehn ganz blau und die übrigen zum Teil,…- diese Übereinstimmung der Farben erstreckte sich aber nicht allein auf die Schmetterlinge, sondern auch Käfer, Hemiteren, Dipteren zeigten alle mehr oder weniger blauen Schimmer. Das merkwürdigste bei dieser Erscheinung war ihre enge Begrenzung. Nur wenige Meilen nach Norden von dieser Örtlichkeit hatte die Vorliebe für Blau nicht nur aufgehört, sondern es erschien die rote Farbe in ähnlicher Weise dominierend, wenn auch nicht in so auffälligem Grade,“ schreibt R. von Hanstein in seiner „Biologie der Tiere“. In den Elephant Mountains im südlichen Kambodscha wirbt heute die Verwaltung des Nationalparks Bokor damit, dass dort alle Tiere schwarz sind: Tiger, Cobras, Bären und Vogelspinnen… Auch die Partisanen, die zuvor in den Wäldern ihr Hauptquartier errichteten, wählten eine einheitlich schwarze Kleidung. Diese wurde dann für alle Kampfabteilungen der Roten Khmer obligatorisch – und schließlich sogar für alle Kambodschaner. Caillois erwähnt im Zusammenhang seiner Mimeseforschung englische Schmetterlinge, die in den Industriegebieten ebenfalls dazu neigen, die Farbe Schwarz anzunehmen. Auf Menschen und ihre soziale Umgebung bezogen, hat Woody Allen diese Neigung 1983 mit seinem Film „Zelig“ thematisiert.
Im Maji-Maji-Aufstand verwandelte sich ein Teil der Aufständischen nicht nur wie die französischen Partisanen namentlich oder metaphorisch in Wälder, sondern sogar buchstäblich. Geschah dies durch das, was man Mimikry oder Mimese nennt? Der Soziologe und Insektenforscher Roger Caillois hat die Mimese in seinem Buch „Méduse & Cie“ von ihrer darwinistischen Verklammerung mit der „Nützlichkeit“ gelöst – und sie als ästhetische Praxis begriffen: So versteht er z.B. die falschen Augen auf den Flügeln von Schmetterlingen und Käfern als „magische Praktiken“, die abschrecken und Furcht erregen sollen – genauso wie die „Masken“ der so genannten Primitiven. Und die Mimese überhaupt als tierisches Pendant zur menschlichen Mode, die man ebenfalls als eine „Maske“ bezeichnen könnte – die jedoch eher anziehend als abschreckend wirken soll. Wobei das Übernehmen einer Mode, das „auf eine undurchsichtige Ansteckung gründet“, sowohl auf das Verschwinden-Wollen (in der Masse) als auch auf den Wunsch, darin aufzufallen, hindeutet. Claus Leggewie schreibt in seinem Buch über „das Algerien-Projekt der Linken – Kofferträger“, wie die deutschen Aktivisten ihre Botengänge für die algerische Befreiungsbewegung tarnten: “ Es gab nur zwei Möglichkeiten, die Kofferträgerei zu tarnen: Naivität, daß einem niemand derartige Eskapaden zutraute, oder eben ein ohnhin schon auffälliger und mondäner Lebenswandel, daß einem eben alles zuzutrauen war.“
Manche verfallen also gerade in Situationen, wo es darum geht, Unwahrnehmbar zu Werden, darauf, sich Hervorzutun – das galt auch für all jene meist weiblichen Kuriere der Aufständischen, die sich besonders auffällig anzogen und auch so verhielten, d.h. Oberschichtfrauen nachahmten, damit sie bei etwaigen Kontrollen kein Mißtrauen erregten bzw. die Kontrolleure von ihnen wie geblendet oder eingeschüchtert waren. „Die Insekten machen es genauso,“ meint Caillois, indem sie z.B. Wespen nachahmen: „Coleopteren, Lepidopteren, Orthopteren wetteifern regelrecht miteinander, sich die unvermeidliche Gestalt und Lebensart anzueignen.“ Caillois nennt diese Form der Mimese auch „Travestie“ (Verkleidungskunst). „Wenn es gilt, wie eine Wespe auszusehen, werden die Flügel transparent; der Hinterleid ist mit dem Vorderleib nur mehr durch einen winzigen Stiel verbunden, er ist schwarz-geld geringelt; der Flug ist laut und lebhaft, das Gebahren drohend. Die falsche Wespe schauspielert.“
Im Zusammenhang einer anderen Form der Mimese – der „Tarnung“, als „dem Streben nach Unsichtbarkeit“ – sei ferner der Zapatistensprecher Subcomandante Marcos erwähnt, der stets mit einer schwarzen Maske auftritt, die jedoch weniger etwas tarnt, als jede Menge symbolisiert. 1996 – auf ihrem Intergalaktischen Treffen – erklärte dazu die ebenfalls maskierte zapatistische Majorin Ana Maria in ihrer Eröffnungsrede: „Hinter unseren Masken steckt das Gesicht aller ausgeschlossenen Frauen und aller vergessenen Indigenas….“ Anders im algerischen Befreiungskrieg: Dort wurde der Schleier der Frauen, folgt man dem Psychiater Frantz Fanon – „erst abgetan und dann wieder angelegt“ – zu einem „Instrument der Tarnung umfunktioniert“. In der Zeitung Le Monde versuchte sich auch Michel Foucault einmal als „maskierter Philosoph“ – indem er sich interviewen ließ, ohne dass sein Name genannt werden durfte. Er wollte damit einer Tendenz entgegenwirken, die darin besteht, „dass heute das, was gesagt wird, weniger zählt als die Person dessen, der etwas sagt“. Zuletzt -1984 kam er noch einmal darauf zurück, indem er der Presse gegenüber das „Recht auf Anonymität und auf ein Pseudonym“ geltend machte. Zu letzterem gehören auch die maskenhaften „Decknamen“ (Noms de Guerre) der Partisanen, aus denen nach dem Sieg reguläre Namen werden. Daneben aber auch die „Falschen Namen“ und erfundenen Biografien von Kundschaftern, wenn sie beschließen, damit ebenfalls nach dem Krieg weiter zu leben – womit sie in gewisser Weise auch demonstrieren, dass sie unfähig sind, mit dem Kampf aufzuhören. Wiktor Botschkarjow, einst Oberst beim sowjetischen Nachrichtendienst, erwähnt in seinen Erinnerungen zwei, deren Führungsoffizier er war: So legendierte er z.B. eine Kundschafterin, die er in einem Gefangenenlager rekrutiert hatte, als Witwe eines deutschen Wehrmachtsoffiziers, der an der Ostfront gefallen war. Auch nach dem Krieg lebte sie weiterhin mit dieser Legende und erhielt sogar mit ihren gefälschten Dokumenten eine Pension als Hauptmannswitwe in Hamburg. Und ein über Deutschland abgesprungener Agent, der sich erfolgreich in einer Großstadt legalisierte, indem er ans Theater ging und Schauspieler wurde, lebte mit der für ihn erarbeiteten Legende bis an sein Lebensende.Die beiden tauchten gewissermaßen im Großstadtdschungel unter. Mit Roger Caillois sollten wir uns hüten, bei ihrer Anpassungsleistung allein die Nützlichkeit herauszustreichen. Der FAZ-Rezensent seines Buches schreibt: „In dieser Verabsolutierung des Nutzens, so Caillois, zeige sich eine tiefwurzelnde Voreingenommenheit. Gegen ein solches ‚Vorurteil‘ tritt der Autor mit seiner These an, dass die Formen und Verhaltensweisen der Insekten genauso wie bestimmte ästhetische Vorlieben und Faszinierbarkeiten der Menschen sich auf eine gemeinsame Basis zurückführen lassen: auf den Formenvorrat einer bildnerischen Natur, deren spielerisch zweckfreies Wirken sich im Naturreich ebenso niederschlägt wie in der vom Naturzwang freigesetzten Sphäre menschlicher Imagination.“
Anders herum: Wenn es z.B. über die Maji-Maji-Mittel von deutscher Seite bis heute keine Berichte gibt, dann heißt das vielleicht bloß, dass man diese wie auch alle anderen „Kriegsmedizinen“ für schamanistischen Schwindel hielt und hält. Oder aber, dass das Mittel nur allzu gut wirkte – und die Kämpfer bzw. ihre Dörfer für die Deutschen tatsächlich unwahrnehmbar geworden waren. Der heutige Staat Tansania, der nun – jedenfalls vordergründig – frei von aller weißen Herrschaft ist, hat dem Maji-Propheten Kinjikitile vor einigen Jahren ein Denkmal errichtet. Außerdem gibt es ein Drama und viele Gedichte über ihn sowie auch eine linke Jugendzeitung mit dem Namen „Maji-Maji“.
„Im Süden gaben die Makua den Kampf auf, nachdem sich Maji beim Angriff auf die Missionsstationen als wirkungslos erwies,“ schreibt Jigal Beez in seiner Magisterarbeit „Geschosse zu Wassertropfen“, „doch im nördlichen Umakonde begann auf dem von dichtem Busch bewachsenen Plateau ein Guerillakrieg,“ d.h. nach dem gescheiterten Aufstand hörte der Widerstand nicht auf. Kinjikitile wurde als ein Sohn oder Prophet des Gottes Hongo begriffen, er war aber auch ein „Trickster“ – ein „marginal man“ nennt ihn Jigal Beez – und sein Wunderwasser beruhte in der Wirkung auf einer „magischen Formel“. Noch 1964 „flohen im Kongo die Regierungssoldaten vor Kriegern, die ‚Muele-Mai‘ riefen und denen die Kugeln nichts anzuhaben schienen.“ Und seit dem „Krieg gegen Mobutu“ gibt es dort bis heute „Mai-Mai“-Guerillas. In gewisser Weise kann man rückblickend sagen, dass Kinjikitiles Mittel, mit dem „eine neue Moral etabliert wurde“ – langfristig – durchaus gewirkt hat. Wenn dies auch für die anderen damals zum Einsatz gekommenen Kriegsmedizinen gilt, z.B. die, mit dem sich ganze Dörfer in einen Wald verwandeln lassen, dann stellt sich die Frage: Was geschah danach mit den Aufständischen – blieben sie Wald, Wälder gar?
Aus unserer hiesigen Frühgeschichte wissen wir, dass sich umgekehrt ganze Wälder auf die Seite der Aufständischen schlugen. So ist z.B. im altkeltischen Versepos „Cad Caddeu“ von einer „Schlacht der Bäume“ die Rede und dass die Druiden die magischen Mittel besaßen, „Bäume in Krieger zu verzaubern, um sie in die Schlacht zu schicken“. Robert Ranke-Graves meinte, dass es sich dabei um einen „Kampf“ handelt, „der geistig in den Köpfen und in der Sprache der Weisen geführt“ wurde. Aber auch Plinius der Ältere spricht in seiner „Naturgeschichte“ davon, dass die Eichen an der Nordsee so dicht standen, und im Sturm als Inseln weiter aufrecht stehend abtrieben, dass die römischen Truppen „eine Seeschlacht gegen die Bäume anfingen“. In der Shakespeareschen Tragödie „Macbeth“ gibt es eine Prophezeiung: Wenn der Birnam-Wald von Dundee sich zur Burg bewegt, ist es mit der Herrschaft dort vorbei. Die schottischen Aufständischen realisierten daraufhin diese Prophezeiung, indem sie sich mit Zweigen tarnten, als sie gegen die Burg vorrückten – und sie einnahmen.
Wie Forstwissenschaftler herausfanden, kamen die zurückgehauenen Wälder Mitteleuropas in früheren Zeiten den Rodungssiedlungen tatsächlich immer wieder derart nahe, dass die Siedler irgendwann aufgaben und sich woanders niederließen. Der Wald war auch und gerade für die von und in ihm Lebenden bedrohlich. „Die mitteleuropäische Geisteskultur hat sie mit zahlreichen Figuren der Wildnis bevölkert, mit Riesen, Zwergen, wilden Jägern, Bären, Wölfen und anderen Wesen…,“ schreibt der Geobotaniker Hansjörg Küster in seiner „Geschichte des Waldes“. In ihrem „Film about a Forest“ mit dem Titel „Uhri – die Opfergabe“, in dem es um das Leben von sibirischen Jägern geht, kommen die zwei Filmemacher – die Ethnologin Lapsui und der Förster Lehmuskallio – zu dem Schluß, dass die Taiga – der Wald – für Tundra-Nenzen immer noch beunruhigend und unheimlich ist. Er ist ihnen, da sie von einer beseelten Natur ausgehen, „zu voll“. Sogar die Taiga-Selkupen schützen ihren fest bebauten Sommerplatz mit einem Holzzaun vor den zu vielen Waldgeistern. Der aus Sibirien stammende Dichter Jewgeni Jewtuschenko machte sich umgekehrt in seiner Biographie „Der Wolfspaß“ über seine städtischen Freunde aus Westrussland lustig, die, wenn sie mit ihm einen sibirischen Wald betraten, plötzlich ganz ängstlich wurden – und überall Gefahren vermuteten. Selbst für den Waldforscher Cord Riechelmann, er veröffentlicht demnächst ein Merve-Buch über Wälder, war der Lakandonische Regenwald eigentlich „zu voll“.
In einem berühmten Gedicht von Nazim Hikmet heißt es dagegen: „Leben einzeln und frei wie ein Baum/ Und dabei brüderlich wie ein Wald/Diese Sehnsucht ist alt.“ Dies kommt einer Bemerkung von Jack und Rochelle Sutin nahe, die nach der Befreiung durch die Rote Armee die Erfahrung machten, dass sie sich im Waldlager „in gewisser Hinsicht wohler fühlten: Dort hatte Kameradschaft geherrscht“.
Ihr partisanische Rückblick berührt sich mit der forstwissenschaftlichen Sicht vieler sowjetischer Biologen, die sich statt auf den dortigen Konkurrenzkampf eher auf symbiotisches Zusammenwirken konzentrierten: „Es klingt paradox, aber der Wald braucht den Wald,“ so sagte es einer von ihnen und fügte hinzu: „Sonst stünden viel mehr Bäume einzeln, wo sie sich doch angeblich besser entfalten könnten.“ Der in den Dreißiger und Vierzigerjahren führende Agrarbiologe der UDSSR Trofim D.Lyssenko empfahl deswegen bei der Wiederaufforstung gleich die Anpflanzung von Bäumen in „Nestern“. Er begründete dies sehr revolutionsromantisch: „Erst schützen sie sich gegenseitig und dann opfern sich einige für die Gemeinschaft“. Der Forstwissenschaftler G.N. Wyssozki ging nicht ganz so weit, aber auch er unterschied zwischen vegetativem Freund und Feind: Damit z.B. die Eiche gut wachse, dürfe man sie nicht zusammen mit Eschen und Birken anpflanzen, sondern sollte sie „von Freunden umgeben“ – Büsche: Weißdorn, gelbe Akazie und Geißblatt z.B.. Laut dem Wissenschaftsjournalisten M. Iljin lehrte uns bereits der Gärtner Iwan W. Mitschurin, „dass sich im Wald nur die verschiedenen Baumarten bekämpfen, aber nie die gleichen“. Der russische Wald wird von der Steppe bedroht. Deswegen riet Lyssenko: aus Eiche (Wald) und Weizen (Feld) Verbündete gegen sie zu machen. Seinen Vorschlag begründete er quasi partisanisch: „Wenn einer zwei andere stört, dann lassen sich diese beiden stets, mindestens für einige Zeit, gegen ihren gemeinsamen Feind verbünden.“ Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, möchte man dazu anmerken. Die Möglichkeit des Untertauchens in diesen komplett auf Nutzen hin durchforsteten Generationenwäldern wird anscheinend jedoch zunehmend schwieriger…
Bereits der bei den italienischen Partisanen mitkämpfende Stuart Hood kam in seinem 2002 veröffentlichten Buch darüber zu dem Schluß: Nunmehr könne – wegen der fortgeschrittenen Zerstörung der Wälder und der bäuerlichen Kultur – „auf dem Land kaum mehr ein Maquis aufgezogen werden“. Deswegen sei nur noch – wenn überhaupt – eine Stadtguerilla möglich – über die Hood dann auch mehrere Bücher schrieb. Die Tupamaros waren in der Großstadt Montevideo zu ihrer Hochzeit derart durch die Unterstützung der Stadtbevölkerung geschützt, dass der Regisseur Costa-Gavras seinen Film über sie und ihre Aktionen (u.a. die Entführung und Ermordung des US-Folterspezialisten Dan Mitrione) den Titel „Der unsichtbare Aufstand“ gab.
Zu den verborgenen Widerstandsformen gehört laut Jean Baudrillard auch die Verführung. Seine Habilitationsschrift handelt von der „Verführung als letzte Chance“: „Wie tarnt man sich? – Wie verstellt man sich? – Wie stellt man sich mit seiner Aufmachung, seinem Schweigen, seinem Zeichenspiel, seiner Indifferenz am besten zur Schau – in einer Strategie des Scheinhaften? Die Verführung also als Erfindung von Körperstrategemen, als Tarnverfahren zum Überleben, als beständiges Auslegen von Ködern, als Kunst des Verschwindens und der Abwesenheit, als Abschreckung, die an Wirksamkeit diejenige des Systems noch übertrifft.“
Dabei können mitunter auch Drogen hilfreich sein. Die jugoslawische Partisanin Jara Ribnika schreibt in ihren „Erinnerungen“: Als sie, um ihren Mann aus dem Gefängnis frei zu bekommen, beim Gestapochef für den Balkan, Dr.Weinmann, vorsprechen mußte, gab ihr ein Belgrader Freund den Rat, „nicht als vergrämte und vernachlässigte Frau eines Gefängnisinsassen dort zu erscheinen: ‚Sie müssen eine Dame sein'“. Von einem Ehepaar aus der Nachbarschaft, er war ein Jude aus Odessa und sie eine Deutsche aus Berlin, die für ihren Mann erfolgreich gekämpft hatte, bekam sie eine „Zauberpille“, die sie kurz vorher einnahm – und tatsächlich: „alle meine kleinen, kleinsten, mittleren und großen Erfolge waren mit mir, in mir. Niemand kam mir gleich“. Als sie das nächste Mal Dr.Weinmann besuchte, nahm sie vorher wieder diese „Kriegsdroge“ ein – und wirklich bekam sie ihren Mann frei.
Die „Kriegsmedizin“ vieler Partisanen im Zweiten Weltkrieg bestand aus einer Zyankalikapsel. Auch Shmuel Ron besaß eine. Als er jedoch ein Bunkerversteck überstürzt verlassen mußte, ließ er alles zurück: „…vor allem meine Kapsel mit Zyankali. Nur wenige von uns besaßen einen solchen Schatz.“ Später – im Gefängnis – besorgte ihm jemand neues „Gift“, als er nach Auschwitz kam, stellte er jedoch fest, „dass es sich bei diesem ‚Gift‘ nur um ein starkes Beruhigungsmittel handelte.“ Die Ehefrau des Aufstandsführers im Warschauer Ghetto, Alina Margolis-Edelmann, berichtet, daß ihre Mutter, eine Ärztin, ein ihr anvertrautes krankes Kind mit einer Dosis Morphium tötete, die sie eigentlich für sich aufbewahrt hatte – was jedem, der eine solche Ampulle, die „damals den Wert von Gold besaßen, ein wunderbares Gefühl der Sicherheit gab“, denn damit konnte man den Zeitpunkt seines endgültigen Verschwindens selbst bestimmen.
Zur Kriegs-Medizin zählen auch die magischen Mittel. Sie werden mitunter mit ebensolchen Mitteln bekämpft, um Gleiches mit Gleichem quasi zu neutralisieren. Im Norden Ghanas kam es 1995 zu einem Krieg zwischen den Dagomba und den Konkomba. Viele Dörfer wurden zerstört und über 1000 Menschen getötet. Die Heiler der Konkomba bestimmen die Angriffe mithilfe eines Huhn-Orakels und ihre Kämpfer besitzen ebenfalls ein Mittel, das Unverwundbarkeit über das Unwahrnehmbar-Werden bewirken soll – und zwar dadurch, dass man damit ein Steppengras-Werden und/oder ein Leopard-Werden schafft. Allerdings nur solange die Krieger sich vor der Berührung mit Wasser hüteten – und sich z.B. nicht wuschen. Bei den „Leopardmenschen“ handelt es sich um eine alte schwarzafrikanische Werdung, die immer wieder in Krieger-Bünden entsteht. Wenn diese vom (Kolonial-) Staat allzu hartnäckig bekämpft werden, verwandeln sie sich in „Verbrechensgesellschaften“ (den „hommes-léopards“). In Kumasi nun fing man einen der vermeintlich unverwundbaren Kämpfer. Er wurde getötet. Um seinen möglicherweise anhaltenden Zauber zu brechen, schlug man ihm anschließend auch noch den Kopf ab und tunkte diesen in Wasser, wobei es in den Kopf eindringen mußte, so wurde gesagt. Danach wurde er dann photographiert und das Photo hernach als Postkarte auf allen Märkten verkauft.
Leider hat so gut wie kein Wissenschaftler nachgeforscht, ob und wie diese magischen Mittel funktionieren. Neuerdings hat sich immerhin der Schweizer Ethnologe David Signer, der afrikanischen Hexerei gewidmet. Für ihn sind die magischen Praktiken dort kein psychologisches, sondern ein soziologisches Phänomen. Wenn Frantz Fanon von einem „magischen Überbau“ sprach, dann könnte man nun mit David Signer von einem „magischen Unterbau“ reden. Er lernte in Ostafrika Medizinmänner und -frauen kennen, die Fetische herstellen, um Angreifer und Gewehrkugeln abzuwehren, die Mittel zur Verwandlung in Bäume und Antilopen herstellen, die Menschen den Mund verschließen und sie sogar mit Worten töten können. Der Traum jedes Intellektuellen!
Auch Deleuze und Guattari bezeichnen sich noch oder schon wieder als „Zauberer“ – da, wo sie davon sprechen, wie das Unwahrnehmbar-Werden geschieht: Es funktioniere nicht über „eine Analogie von Beziehungen“, sondern „man muß Elemente oder Materialien in eine Beziehung bringen, die das Organ seiner Besonderheit entreißt, um es ‚mit‘ dem anderen werden zu lassen.“ Dabei geht es den Autoren konkret um ein Tier-Werden. Über das Werden generell wird an anderer Stelle gesagt: Es gehöre „immer einer anderen Ordnung als der der Abstammung an. Es kommt durch Bündnisse zustande…Werden besteht gewiß nicht darin, etwas nachzuahmen oder sich mit etwas zu identifizieren; es ist auch kein Regredieren-Progredieren mehr; es bedeutet nicht mehr, zu korrespondieren oder korrepondierende Beziehungen herzustellen; und es bedeutet auch nicht mehr, zu produzieren, eine Abstammung zu produzieren oder durch Abstammung zu produzieren. Werden ist ein Verb, das eine eigene Konsistenz hat; es läßt sich auf nichts zurückführen und führt uns weder dahin, ‚zu scheinen‘ noch ‚zu sein‘.“ Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht. So wie beim Vampir – der sich ja auch nicht fortpflanzt, sondern ansteckt.
Für Deleuze/Guattari „gibt es ebensoviele Geschlechter wie Terme in der Symbiose, ebensoviele Differenzen wie Elemente, die bei einem Ansteckungsprozeß mitwirken.“ In diesem Zusammenhang betonen sie, dass es sich beim Tier-Werden immer um ein Plural handelt – also um Schwärme, Meuten, Horden, Banden… Und diese bilden sich eben durch Ansteckung. Das gilt auch für das Wald-Werden.
Solcherart Werden wandelt sich jedoch selbst – mit der Veränderung seiner Umwelt: dem „Milieu“ oder „Medium“, wie man früher sagte. Deleuze/Guattari unterscheiden das „Tier-Werden in der nomadischen Kriegsmaschine“ (die wilden Männer); das „Tier-Werden in der Verbrechensgesellschaft“ (die Leoparden-Männer); das „Tier-Werden in aufständischen Gruppen“ (bei Bauernrevolten, wo Hexen und Heiler eine kriegswichtige Funktion haben); das „Tier-Werden in asketischen Gruppen“ (die gelungenen Termitenhügel-Werdungen?) und das „Tier-Werden in Gesellschaften mit sexueller Initiation vom Typus ‚Heiliger Deflorator‘, Wolfsmänner, Bocks-Männer etc.“ (die sich auf ein höheres Bündnis berufen, das der Familienordnung überlegen und äußerlich ist). Dabei können die Meuten/Banden/Schwärme nacheinander mehrere Werdungen durchlaufen, mindestens es versuchen: Im Angriff das Unverwundbar-Werden (mittels Maji); im Rückzug das Wald-Werden; nach der Niederlage das Leopard-Werden; nach erneutem Untertauchen das Wolf-Werden… Ein weiteres Werden wird durch die Integration einer „nomadischen Kriegsmaschine“ in die des Staates möglich bzw. nötig. So veränderte sich z.B. bei den partisanischen Kosaken nach ihrer Eingliederung und Einreihung in die Rote Armee ihr „ganzer Eros des Krieges“, wie Deleuze/Guattari das nennen: „Der auf das Tier orientierte Eros des Reiters“ (über den z.B. Isaak Babel sich nicht genug verwundern konnte) wird dabei durch einen „homosexuellen Gruppeneros ersetzt“. Ähnliches geschieht nach dem Sieg im Volkskrieg. Rochelle Sutin meint, dass etwa 80% der Paare, die im Wald bzw. im Kampf zusammen gefunden hatten, danach wieder auseinander gingen: „Die Überlebens- und Nützlichkeitsaspekte waren in Friedenszeiten nicht mehr tragfähig“. Sie selbst trennte sich nicht von ihrem Mann, dennoch mußte auch sie „umdenken“: „Ich war inzwischen wie ein Waldtier – ich hatte mich an das Leben in frischer, freier Luft gewöhnt“.
Viele Männer trennten sich von ihrer Frau, weil deren waldpartisanische Fähigkeiten ihnen nach dem Sieg nicht mehr attraktiv erschienen. Dabei passiert das, was man auch ein Ummodeln oder Umpolen von „Affekten“ nennen könnte, denn bei allen An- und Verwandlungen geht es um Affekte – darum, Bündnisse mit ihnen schließen. „Es geht nicht mehr um Organisation, sondern um Zusammensetzung; nicht mehr um Entwicklung und Differenzierung, sondern um Bewegung und Ruhe, um Geschwindigkeit und Langsamkeit. Es geht um Elemente und Partikel, die schnell genug zur Stelle sind oder nicht, um einen Übergang zu bewerkstelligen, ein Werden oder einen Sprung – auf ein und derselben reinen Immanenzebene.“ Das Werden ist „das Überschreiten einer Schwelle“. Keine Metapher, sondern eine Metamorphose. – Um neue Existenzweisen zu erfinden, die geeignet sind, der Macht zu widerstehen und sich ihrem Wissen zu entziehen.
Man kann diese Überlegungen von Deleuze und Guattari als Anleitung zu aktivem Handeln verstehen. Umgekehrt hat der Jesuit Michel de Certeau Ähnliches bereits im quasi passiven Alltagshandeln ausgemacht. Die Besatzungsmacht besteht heute aus der Totalität der Lebensverhaltnisse in den „elektronisierten und informatisierten Riesenstädten“, meint er, der im vereinzelten Konsumenten den Partisan des Alltagslebens entdeckte. Dieser muß nämlich – um zu überleben – mit der herrschenden Kulturökonomie so ähnlich wie die südamerikanischen Indianer mit dem Katholizismus umgehen, d.h. die zahlreichen und unendlichen Metamorphosen des Gesetzes dieser Ökonomie in die Ökonomie seiner eigenen Interessen und Regeln ‚umfrisieren'“. Seine Mittel sind dabei „ortlose Taktiken, Finten, eigensinnige Lesarten, Listen…“ Bereits der Kriegstheoretiker Clausewitz verglich die List mit dem Witz: „Wie der Witz eine Taschenspielerei mit Ideen und Vorstellungen ist, so ist die List eine Taschenspielerei mit Handlungen“. Besonders die italienischen Partisanen des Zweiten Weltkriegs, die auf eine lange Tradition des Kleinkriegs bereits im 19.Jahrhundert zurückgreifen konnten, waren sehr erfindungsreich – in ihrem „elastischen Widerstand, mit List und Klugheit…“, wie der Historiker Roberto Battaglia schreibt. Dies gilt auch noch für die italienische Alltags-Ökonomie nach 1945 – und vielleicht bis heute. Nirgendwo in Europa gibt es heute so viele Selbständige wie in Italien. Für Certeau sind nun „die Handlungsweisen der Konsumenten auf der praktischen Ebene Äquivalente für den Witz“. Wobei die intellektuelle Synthese ihrer Alltagspraktiken nicht die Form eines Diskurses annimmt, sondern „in der Entscheidung selbst liegt, d.h. im Akt und in der Weise, wie die Gelegenheit ‚ergriffen wird'“. Dennoch lassen sich diese operationalen Leistungen auf sehr alte Kenntnisse zurückführen: „Die Griechen stellten sie in der Gestalt der ‚metis‘ dar. Aber sie reichen noch viel weiter zurück, zu den uralten Intelligenzien, zu den Finten und Verstellungskünsten von Pflanzen und Fischen, Jägern und Landleuten. Vom Grunde der Ozeane bis zu den Straßen der Megapolen sind die Taktiken von großer Kontinuität und Beständigkeit. In unseren Gesellschaften vermehren sie sich mit dem Zerfall von Ortsbeständigkeit“. Ohne die Möglichkeit, den immer engmaschigeren Systemen zu entkommen, bleibe dem „Individuum“ nur noch die Chance, sie immer wieder zu überlisten, auszutricksen, „Coups zu landen“. Im Endeffekt geht es dabei um „Lebenskunst“, wobei die partisanischen Tugenden und Taktiken dazu dienen, im Dschungel der Interessen und Informationen individuell zu bestehen und sogar erfolgreich zu sein.
Ich komme zum Schluß – zur Pointe, sie stammt von Baudrillard. Wie erwähnt sprach er in seiner Habilitationsschrift Mitte der Achtzigerjahre von der „Kunst des Verschwindens“ – verstanden als ein „Tarnverfahren zum Überleben“ – als eine Subjektstrategie von unten, die auf Verführung basiert. Nun, kurz vor seinem Tod, hat er diese „Kunst des Verschwindens“ noch einmal aufgegriffen: Diesmal als Objektstrategie der elektronischen Medien, eines umfassenden „digital processing“ – von oben quasi, das den Menschen qua Technologie zum Verschwinden bringt – damit aber gleichzeitig auch das Böse sowie alle Radikalität: „Wenn sie sich vom mit sich selbst versöhnten und dank des Digitalen homogenisierten Individuum trennt, wenn alles kritische Denken verschwunden ist, dann geht die Radikalität in die Dinge über. Und das Bauchreden des Bösen wechselt zur Technik selbst hinüber…Wenn die subjektive Ironie verschwindet – und sie verschwindet im Spiel des Digitalen – dann wird die Ironie objektiv. Oder sie verstummt.“ Ja, dank des „Klonens, der Digitalisierung und der Netze“, so Baudrillard, sind wir eigentlich als Menschen schon so gut wie verschwunden: „Es ist ein wenig wie im Falle der Cheshire-Katze bei Lewis Carroll, deren Lächeln immer noch im Raum schwebt, nachdem ihre Gestalt schon entschwunden ist.“