Der Fotosammler
Als ich das Album in die Hand nahm, wusste ich nicht, wie wertvoll es war. Es hatte einen festen Einband mit eingelegten Intarsien, hellen, auf schwarzem glänzendem Grund. Der Inhalt bestand aus etwa vierzig handkolerierten Fotos chinesischer oder japanischer Herkunft, alle im gleichen Format und auf festen Karton geklebt. Das Album musste schon sehr alt sein, denn es hatten sich am Rand einiger Fotos Stockflecken gebildet, die meist Sammler von Fotos abschrecken, da sie irreparabel sind. In diesem Buch waren jedoch nur wenige Seiten davon befallen und auch nur an einigen Kartonrändern zu sehen. Die in blassen Tönen gehaltenen, unbeschädigten und farbigen Fotos zeigten Alltagsszenen, aus historischen Innenräumen von Wohnungen, aber auch ritualisierte Szenen, die nicht zu erklären waren und vielleicht einzelne Figuren aus Theaterszenen zeigten. Ich bezahlte einen für beide Seiten guten Preis, jedenfalls vergewisserten wir uns dies nach Abschluss gegenseitig, der russische Verkäufer im Moskauer Antiquariat, und ich. Ich dachte im Stillen, er habe keine Ahnung vom Wert des Album, ich schätzte den wahren Wert zehn Mal höher ein, als den Preis, den ich zahlen musste. Gleichzeitig kam mir der Gedanke, dass der Verkäufer vielleicht auch über mich nachdachte. Sicherlich hatte er mir das Album zu billig überlassen, und bereute den niedrigen Preis, zu dem er mir das Album verkaufte, da ich grundsätzlich in Moskau Preisen gegenüber misstrauisch war und alles verhandelte. Das unglaubliche Chaos in den beiden Räumen, die der Verkäufer als Antiquariat bezeichnete, überzeugte mich sofort davon, dass der Laden von keinem Profi geführt wurde, bot er neben diesem Album religiöse Devotionalien an, neue, frisch gedruckte Bücher, Lampenschirme und sogar einen alten Fernseher. Ich zahlte in amerikanischen Dollars, er akzeptierte keine DM und schon gar nicht irgend etwas in Form von Schecks oder Banküberweisungen. Der Verkäufer suchte lange nach einem Stück altem Papier, fand schließlich die Prawda vom gleichen Tag, schmunzelte, und wickelte das Album langsam und umständlich in die Zeitung ein, wobei ihm die dicken Brillengläser immer wieder verrutschten und er sich aufrichtete, um die Brille korrekt auf seinen Nasenrücken zu setzen. Als ich schon an der Ladentür war, um hinaus zu gehen, rief er mich zurück. Im ersten Augenblick dachte ich, er wolle den Kauf wieder rückgängig machen, doch er winkte mit einer Flasche Wodka und zwei Gläsern in den Händen.
„Trinken , trinken,“ sagte mit einem Lächeln auf den Lippen und diese Geste war eindeutig. Ich ging an den Ladentisch zurück, wir tranken ein Glas 50 mg Wodka, sprachen dabei die üblichen Trinksprüche wie „Nastrowje und , Prost“, und kippten dann nach russischer Sitte den Inhalt des Glases in einem Ruck in die Kehle. Nach einer längeren Erklärung, die ich erst nicht verstand, er wiederholte immer wieder die gleichen Sätze, versuchte es auch mit etwas Englisch, dann hüpfte er auf einem Bein durch den Laden, verstand ich seinen Wunsch. Ich sollte noch ein zweites Glas Wodka mit ihm trinken, auf einem Bein ließe sich nicht gut laufen, wobei ich ihm philologisch auf Grund unserer verschiedenen Sprachen nicht ganz folgen konnten, heißt es doch bei uns auf einem Bein stehen. Aber ich war froh, überhaupt den Sinn erfasst zu haben und stieß mein Glas gegen seines. Der Klang der Gläser erfreute uns so sehr, dass mir der Verkäufer irgendetwas von einem dritten Bein erzählte, das ich sofort akzeptierte. Siebenbeinig bewegte ich mich schließlich zur Ladentür, um endlich zu gehen. Dabei spürte ich auf einmal die Hand des Verkäufers auf meinem Rücken, die wie einem alten Kumpel auf die Schulter klopfte. Unter seinem Arm trug er das eingepackte Album, ohne das ich jetzt das Antiquariat verlassen hätte. Da er dabei die Wodkaflasche nicht in der Hand hielt, was ich beim Stehenbleiben im ersten Augenblick vermutete, ja, erhoffte, nahm ich ihm das Paket kommentarlos aus dem Arm, ohne noch einmal ins Ladeninnere zurück zu kehren.
„Good by my freund“, war das letzte, was ich vom Verkäufer hörte, dann empfing mich der harte Sound einer dreispurigen verkehrsreichen Straße, die mitten durch Moskau führte. Der undefinierbare Geruch, den die verschiedenen, wo auch immer abgezapften Tankfüllungen der vorbei rasenden Autos in Verbindung mit der der dreißig Grad heißen Luft erzeugten, nahm mir mit einem Ruck außerhalb des Ladens den Atem. Ich schwankte ein wenig, wurde einen halben Meter kleiner, das Paket mit dem Album rutschte mir aus den Händen und fiel auf den Bürgersteig. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich mich bückte, um es aufzuheben. In diesem Augenblick merkte ich die Wirkung des Wodkas und fiel auf das Paket.
Nach einer Stunde erreichte ich die Wohnung von Anatoly, meinem russischen Freund.
Ich legte mich ins Bett und schlief zehn Stunden. Es war sieben Uhr früh und ich wickelte das Album aus seiner Verpackung.
„Da hast du ein Schnäppchen gemacht,“ sagte Anatoly, „das ist ganz was besonderes, so etwas habe ich noch nie gesehen.“
Die Meinung von Anatoly war mir wichtig. Er besaß eine einzigartige Sammlung russischer Spielzeuge, war Dokumentarfilmer und somit weit im ganzen russischen Reich herumgekommen.
„Ein tolles Album, aber du wirst damit Probleme beim Zoll haben. Seit ein paar Monaten gibt es ein neues Gesetz. Kein Objekt, das älter als fünfzig Jahre ist, darf aus Russland ausgeführt werden, und das Album ist sicherlich mehr als hundert Jahre alt. „
Ich hatte inzwischen im Album geblättert und etwas genauer betrachtet und dabei eine Zahl gefunden. Auf einem Foto war die Zahl 1869 angegeben, sicherlich die Jahreszahl, in der das Foto entstanden ist.
„Was meinst du mit Probleme beim Zoll?“
„Sie werden es dir abnehmen, du kannst es nicht ausführen, das ist alles.“
Und so war es auch. Anatoly hatte sich angeboten, mich bis zur Gepäckkontrolle zu begleiten. Dort zeigte er den Beamten ein Papier, das seine Anwesenheit an dieser Stelle für ihn erlaubte, und sicherlich noch andere Türen öffnete. Mein Koffer wurde gecheckt und das Album gefunden, jedoch nicht konfisziert und in Staatseigentum überführt. Anatoly nahm es ohne Widerspruch eines Beamten an sich und fuhr nach herzlichem Abschied damit nach Hause.
Er konnte nicht bemerken, dass einer der Beamten mich in einen speziellen Raum führte und ein Total Leibesvisitation vornahm. Ich musste mich nackt ausziehen und mein gesamtes Gepäck und auch meine Kleidung wurde sorgfältig überprüft. Auch das Fingerklopfen auf meine Armbanduhr verkürzte die Überprüfungsdauer nicht im Geringsten. Ohne nervös zu sein, hatte ich Bedenken, rechtzeitig den Abflug nach Berlin zu erwischen.
Als auf dem dem Berliner Flughafen landete, fühlte ich festen Boden unter den Füßen. Ich vermisste nur das Fotoalbum.
Es wurde mir durch einen privaten Kurier aus Moskau nach zwei Monaten persönlich gebracht. Ein freundlicher russischer Mann, der gut Englisch sprach, übermittelte Grüße von Anatoly und drückte mir das Album, immer noch in die gleiche Prawda eingewickelt, in die Hand. „Spassiba“, sagte ich und wollte zu einem Gläschen Wodka einladen, aber der Mann
verbeugte sich kurz und ging.
Ein Jahr später legte ich das Album einem Sammler in der Schweiz auf den Tisch seines Hauses. Niemand wusste genau, wie groß seine Sammlung war, man munkelte, er habe die größte Privatsammlung überhaupt weltweit und sei ein Spezialist für die Fotografie des 19. Jahrhunderts. Der Kontakt war durch einen gemeinsam bekannten Fotografen zustande gekommen. Der Sammler, der gutes Essen und den entsprechenden Wein liebte, was man an seiner Körperfülle sah, schob das Album einige Male hin und her, drehte es auf den Rücken und begann darin zu blättern. Als er damit fertig war, sagte er
„Ein schönes Stück, ca 1875 angefertigt, ein Reisealbum, Japan. Zusammengestellt von reichen Europäern, die sich eine Schiffsreise und einen Aufenthalt in Japan zu der Zeit leisten konnten. So etwas wie der erste Diavortrag aus dem Urlaub.“
Ich wartete, bis er den Wert des Album nannte. Er lag unter dem Preis, den ich in Moskau bezahlt habe.
„Übrigens, ich habe etwa fünfzig solcher Alben. Sie sind irgendwo verpackt in einer Kiste im Keller. Aber wenn Sie darauf bestehen, zeige ich Ihnen gerne eines davon.“