Auf vielfachen Wunsch folgt hier nun der besprochene Text von Gerrit Bartels im Tagesspiegel:
„Nein, so leicht lässt sich dieser Schriftsteller nicht unterkriegen. Ja, er schwimmt geradezu obenauf nach der Verleihung des Wolfgang-Koeppen-Preises im vergangenen Jahr. Dass 2011 das ultimative Lottmann-Jahr werden könnte, das deutete Joachim Lottmann vor ein paar Wochen mit seinem Erscheinen beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt an. Als Berichterstatter für das Wiener Nachrichtenmagazin „Profil“ war er an den Wörthersee gekommen, um sich wie üblich mit der seiner Ansicht nach wirklichkeitsfernen Jury auseinanderzusetzen, die von der Jury arg gerupfte Jungautorin Antonia Baum über alle Maßen zu loben und den Gewinner des Publikumspreises exakt vorherzusagen, wie man in seinem taz-Blog nachlesen konnte: den „ostdeutschen Autor“ Thomas Klupp (der übrigens in Erlangen geboren ist.
In einem Nachtrag jubelte Lottmann: „Der tollkühne Jungmarxist hat den Preis wirklich gewonnen!“
Natürlich gab es noch andere Gründe für Lottmann, seinen Lieblingswettbewerb des deutschsprachigen Literaturbetriebs ausnahmsweise einmal höchstselbst und live zu verfolgen. Zum einen ist er trotz des Koeppen-Preises noch immer kein Erfolgsautor, ökonomisch betrachtet, und da kam ihm der „Profil“-Auftrag gerade recht. Zum anderen machte er Werbung in eigener Sache, wenn er sich da in den gut gekühlten Räumen des ORF-Cafés die Lesungen anschaute, in seinem stets grauen Angestelltenanzug und mit einer ständigen Begleiterin an der Seite. Seine Anwesenheit sollte die anwesenden Kritiker nachdrücklich daran erinnern, dass da doch noch was war mit Lottmann. Nur was?
Lottmann? Ja, genau, war man nicht bei der ersten Durchschau der Herbstprogramme auf gleich zwei neue Lottmann-Veröffentlichungen gestoßen? In zwei verschiedenen Verlagen? Und tatsächlich: Von Lottmann erscheint bei seinem Hausverlag Kiepenheuer & Witsch im September der Roman „Unter Ärzten“. Und beim österreichischen Czernin Verlag ebenfalls im September ein Buch mit dem Untertitel „Kein Roman“, das „Hundert Tage Alkohol“ heißt. Österreich, also Wien, scheint Lottmann gut- zutun. Seit einiger Zeit wohnt er hier, die Gentrifizierung in Berlin-Mitte und Prenzlauer Berg habe ihn fertig gemacht, schrieb er in seinem Blog. In Wien lässt es sich für ihn vermutlich besser leben. Wenngleich beide Lottmann-Neuerscheinungen eher düsterer Natur sind: Die eine erzählt von einer Odyssee durch psychotherapeutische Praxen, die andere handelt vom Suff.
Der alte Lügeneimer, der gern Schabernack mit der eigenen Wirklichkeit und der von anderen treibt, ist Lottmann aber geblieben. Wie großartig, nervenaufreibend oder schlecht die beiden Romane sind, muss die Lektüre erweisen – vor Erscheinen im September darf man über den Inhalt kein Wort verlieren, wie der Verlag Kiepenheuer & Witsch auf einer Seite des Fahnenexemplars von „Unter Ärzten“ in seinem Sperrfristvermerk warnt. Großartig zumindest sind wieder einmal die mitgereichten Lottmann-Biografien: „Kindheit in Belgisch-Kongo“, kann man darin lesen. „Studium der Theatergeschichte (bei Diedrich Diederichsen), „Sohn des FDP-Gründers Joachim Lottmann“, „Neffe des Dramatikers Wolfgang Borchert“. Oder auch: „13 Jahre schlägt Lottmann sich als Straßenbahnschaffner in Oslo und als Leibwächter von Rainer Langhans durch, bis ihn der Literaturchef der ,FAS’ wiederentdeckt.“
Wie sehr Lottmann wiederentdeckt worden ist, steht wiederum in der Herbstvorschau des Czernin Verlags. Chefs und Ressortleiter maßgeblicher Feuilletons und Zeitschriften werden zitiert und scheinen begeistert zu sein von „Hundert Tage Alkohol“; von der „Entdeckung des Buchherbstes“ über „Kleinod der existentialistischen Klassik“ bis zu „mein Lieblingsbuch“ fehlt hier kein Superlativ. Vorsicht ist natürlich geboten. Lottmann könnte diese Werbesprüchlein auch selbst geschrieben haben, zuzutrauen ist es ihm. Er muss schließlich dranbleiben. Weiter, immer weiter, heißt seine Devise. An Stoffen mangelt es ihm nicht. Gut möglich, dass Lottmann nach dem diesjährigen Doppelschlag schon an der Niederschrift einer Norwegenstory und eines Rainer-Langhans-Romans sitzt.