vonHelmut Höge 23.02.2011

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Die Medien konzentrieren sich heute auf Libyen, wo die Kämpfe langsam zu Gunsten der Aufständischen auszugehen scheinen. Ostlibyen feiert laut Spiegel bereits die „Befreiung von Gaddafi“. Und Al Dschasira titelt: „Gaddafi loses more Lybian Cities“. An anderer Stelle heißt es: „Major General Suleiman Mahmoud, a commander in Libyan army in Tobruk, is now on the side of the Libyan people. He called Gaddafi „a tyrant“ and told Al Jazeera „the people in the army are steadfast“ in the city. Libyan protesters claim to have taken over Misurata, which would be the largest city in the western half in the country to fall into their hands, news agency AP reports. There are reports that six people were killed and 200 were injured in fighting there.


Zivilisten haben eine von Militärs verlassene Basis bei Tobruk eingenommen. Photo: dpad


Focus meldete um 15 Uhr 36:

„In Libyen ist ein Kampfflugzeug abgestürzt, nachdem die Piloten einen Befehl zum Angriff auf die Stadt Bengasi verweigert hatten. Das berichtete die libysche Zeitung „Qurina“ auf ihrer Website unter Berufung auf Militärkreise. Den Angaben zufolge verließen der Pilot und der Co-Pilot die Maschine kurz vor dem Absturz in der Nähe der Stadt Adschdabija und sprangen mit Fallschirmen ab. Adschdabija liegt 160 Kilometer südwestlich von Bengasi.“

Aus As Sallum berichtet Spiegelreporter Alexander Smoltczyk:

Mohammed Salah, 25-jähriger Bauarbeiter aus Kairo, sagt: „In Bengasi standen plötzlich die Gefängnistore offen. Das führte zu Chaos. Halunken zogen herum und hatten Waffen. Dann brannten die Polizeistationen. Das waren wir nicht. Aber wir sind mit den Halunken fertiggeworden.“ Und auch mit den Söldnern, zumindest in Bengasi. „Sie wurden gefangen genommen und erschossen.“ Die Armee in Bengasi, so schätzt dieser Mann, sei zu 80 Prozent zu den Aufständischen übergelaufen.

Die taz schreibt heute über die Situation in Libyen eher hintergründig:

„Das libysche Regime ist eines der repressivsten der Welt. Die Tatsache, dass der selbsternannte Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi seit 42 Jahren an der Macht ist, hängt auch damit zusammen, dass er bei einem von ihm angeführten Putsch „Freier Offiziere“ 1969 gleich drei tragende Pfeiler von Politik und Gesellschaft in ihrer Macht beschnitt: die Armee, die Stämme und das religiöse Establishment.

Hinsichtlich der Streitkräfte gibt es einen wesentlichen Unterschied zu Ägypten. In dem Land am Nil war das Militär seit 1952 der zentrale Machtfaktor. In Libyen hingegen sorgte Gaddafi in den ersten beiden Jahrzehnten seiner Herrschaft für eine Schwächung der Armee – eingedenk der Tatsache, dass die meisten Regime in der Region durch einen Militärputsch gestürzt wurden. Auch in Libyen gab es die meisten Umsturzversuche aus den Reihen des Militärs.

Gaddafis Ankündigung damals, die Streitkräfte perspektivisch durch eine „Volksarmee“ zu ersetzen, sorgte für Unruhen in deren Rängen, ebenso die Tatsache, dass die Macht der Revolutionskomitees auf Kosten der Armee ausgebaut wurde und, ähnlich wie im Iran, eine parallele bewaffnete Struktur entstand. Gaddafi sorgte für eine schnelle Rotation unter den Kommandeuren oder zwang sie in den Ruhestand. Insofern sind Berichte aus Bengasi über Armeeeinheiten, die sich den Aufständischen anschließen, nicht überraschend.

Etwas differenzierter stellt sich die Lage bei den Stämmen dar, die von der Regentschaft König Idris (1951-1969) profitiert hatten und das Rückgrat der libyschen Gesellschaft bilden. Wie viele – sich als revolutionär und modern verstehende – Führer sagte auch Gaddafi, der Beduinensohn, dem Tribalismus den Kampf an, entzog den Stämmen ihre administrativen Rechte, wechselte die Führungsschicht aus und erkannte die Grenzen ihrer Gebiete nicht mehr an.

Doch Tribalismus und Stämme waren für Gaddafi auch in jenem ersten Jahrzehnt seiner Herrschaft zweierlei. Familie, Stamm und Nation stellen die Basis der Gesellschaft, zusammengeschweißt durch menschliche Wärme, Gruppenzusammenhalt, Einheit, Liebe. In späteren Schriften Gaddafis erscheint das traditionelle Leben auf dem Land in strahlendstem Licht. Selbst die strikte soziale Kontrolle und harte Arbeit sind ein durchaus positiv – und naiv – bewerteter Teil eines „ruhigen und glücklichen Lebens“ in Freiheit.

So ist es wenig verwunderlich, dass Gaddafi Anfang der 90er Jahre das Ruder herumriss, um seine Basis zu stärken, und den Stämmen wieder mehr Rechte einräumte. Seither sind die wichtigsten Stämme auch in den Streitkräften repräsentiert. Dies stärkte angesichts der Rivalitäten der Stämme untereinander zugleich seine Kontrolle über das Militär. Heute stellt sich allerdings die Frage, welche Rolle die Stammeszugehörigkeit in den Städten spielt, wenn es darum geht, sich für oder gegen Gaddafi zu positionieren.

Das religiöse Establishment schließlich zeigte sich nach der Machtübernahme zunächst erfreut, dass der Revolutionsführer die Scharia einführte. Doch das währte nicht lange, denn Gaddafi forderte die Ulema, die islamischen Gelehrten, heraus, indem er ihre Rolle als Interpreten des Koran infrage stellte. Gaddafis Interpretation des Islam sieht nämlich nicht die Notwendigkeit einer Vermittlung zwischen Gott und den Menschen vor. Er änderte den muslimischen Kalender, was ebenso auf Kritik stieß wie die Tatsache, dass sich Gaddafis „Dritte Universaltheorie“ nicht nur an die muslimischen Länder, sondern sich an die Dritte Welt insgesamt richtete.

Diese Woche erklärte ein Bündnis von 50 Geistlichen, es sei die Pflicht aller Muslime, gegen die libysche Führung aufzubegehren, und forderte die Freilassung der festgenommenen Demonstranten.

Der Spiegel schreibt über die gestrige Rede Gaddafis:

Was für eine Szene! Was für ein bizarrer Auftritt! Libyen revoltiert gegen Gaddafi – und dann diese Antwort des Diktators: Zum ersten Mal seit den Massenprotesten hat sich der Staatschef direkt an das Volk gewandt. In einer mehr als einstündigen Rede im Staatsfernsehen schrie der in einen braunen Beduinenumhang gewandete Diktator sein Volk nieder. Er zeterte, keifte, schlug mit der Faust um sich – und verstieg sich in sonderbare historische Analogien. Er pries sich selbst mit überschlagender Stimme als Bastion gegen Kolonialisten, Imperialisten und Islamisten, beschwor die glorreiche libysche Vergangenheit, las passagenweise aus seinem Grünen Buch vor – und schmetterte den Zuschauern dann seine zentrale Botschaft entgegen: „Ich werde Libyen nicht verlassen!“ Nein, lieber wolle er als „Märtyrer sterben“.

Prompt folgte ein drastische Warnung an seine Gegner: „Legt Eure Waffen sofort nieder, sonst gibt es ein Gemetzel!“ Libyen werde nun „Haus für Haus gesäubert“, kündigte der Revolutionsführer an. Die Demonstranten beschimpfte er als „Ratten“ und drohte mit einer blutigen Niederschlagung der Proteste „ähnlich wie auf dem Tiananmen-Platz“ in Peking im Jahr 1989. „Ich werde bis zum letzten Tropfen meines Blutes kämpfen.“

Ein CNN-Journalist hat es angeblich als erster ausländischer Reporter nach Ostlibyen geschafft. Aus der inzwischen von Aufständischen kontrollierten Küstenregion berichtet er von Jubel über die Revolte – und Angst vor Gaddafis Rache. Zehntausende Libyer sind offenbar auf der Flucht nach Ägypten:

„Das neue Libyen trägt zivil: Wo noch vor Tagen die Grenzer des Gaddafi-Regimes die Pässe und Visa der Reisenden kontrollierten, schieben an Libyens Grenze zu Ägypten nun Freiwillige aus der Umgebung Dienst. Die meisten sind keine zwanzig Jahre alt, haben Kalaschnikow-Sturmgewehre umgehängt, einige sind mit Knüppeln bewaffnet. „Willkommen im freien Libyen!“ heißen sie Einreisende willkommen. Der Nordosten des von Aufständen erschütterten Öllandes ist zu großen Teilen in Hand der Rebellen gegen die Herrschaft Gaddafis. Die regulären Grenztruppen haben das Weite gesucht.“

Reuters meldete am Mittwochmorgen um 2 Uhr 4:

In der libyschen Hafenstadt Tobruk feiern Regierungsgegner bereits die Befreiung von Machthaber Muammar Gaddafi. Soldaten geben aus Freude Salven aus Maschinengewehren ab. Das Militär hat sich in der im Osten der Republik liegenden Mittelmeerstadt von Gaddafi losgesagt. Mit Demonstranten voll besetzte Wagen rollen durch die Straßen der strategisch wichtigen Stadt, in der gut 100.000 Menschen leben. In ihrer Jubelstimmung zerstören die Demonstranten ein Beton-Monument für Gaddafis Grünes Buch, in dem dieser die Grundzüge seiner Herrschaft beschrieben hat.

Gaddafi habe die Kontrolle über den gesamten Osten verloren, sagt der einstige Major Hani Saad Mariaa, der zu einer Gruppe von Soldaten gehört, die sich von dem Staatschef abgewandt haben. Das Volk und die Armee arbeiteten in dem Gebiet „Hand in Hand“. Bewohner Tobruks erzählen, die Stadt am Mittelmeer sei seit drei Tagen in der Hand der Bevölkerung. Die Rebellen kontrollieren die libysche Seite der Grenze zu Ägypten. Auch Benghasi, wo der Aufstand vor gut einer Woche begann, ist Einwohnern zufolge in der Hand der Demonstranten.

An Hauswände sprühen sie ihre Botschaft: „Nieder mit Gaddafi“ und „Genug, Genug“. Männer in Militäruniform stehen auf den Hauptstraßen und regeln den Verkehr. Sie sehen keine Treuepflicht mehr für ihren seit mehr als 40 Jahren mit harter Hand regierenden Staatschef. „Lebensmittel sind vorhanden, die Apotheken und die Krankenhäuser haben geöffnet. Alles ist offen. Jeder hat seine Hand ausgestreckt, um zu helfen, Junge und Alte, Männer und Frauen,“ sagt der 59-jährige Fajes Hussein Mohamed. Im Stadtzentrum finden sich weitere Sprüche auf Mauern: „Fahr zur Hölle Gaddafi“, „Das Spiel ist aus Gaddafi“, „Tobruk ist frei“.

Auf dem zentralen Platz verbrennen Regierungsgegner Gaddafi-Bücher. Andere malträtieren ein Bild des Herrschers mit Schlagstöcken. Ein Bewohner hält ein Plakat mit einer libyschen Flagge, auf dem ein Stiefel zu sehen ist, der Gaddafi wegtritt. Bei den Unruhen in der Stadt kamen einem Augenzeugen zufolge vier Menschen ums Leben, 50 wurden verletzt. Ein Bewohner trägt ein Schild mit der Aufschrift: „Nieder, nieder mit dem Schlächter“.

Al  Dschasira berichtet um 3 Uhr 15:

„People fleeing Libya’s bloody unrest continue to arrive at airports in Europe tonight. At Frankfurt airport, in Germany, evacuees expressed their relief to be back home. British passenger John Dowley says that „thousands“ of people were at the airport trying to leave the country. Today in the airport was absolute chaos. Many people from North Africa trying to leave and get home.

Libyan official tells state TV they have arrested Tunisians, Egyptians and Algerians ‚trained to sow chaos‘.“

Außerdem:  „In Bahrain und im Jemen wird weiter demonstriert.“

„rp-online.de“ schreibt:

„Libyen gehört zu den wenigen Ländern, aus denen Deutschland mehr Waren bezieht, als es dort absetzt. 2010 fanden Waren im Wert von 3,1 Milliarden Euro den Weg nach Deutschland – gut zehn Prozent mehr als 2009. Damit belegt Libyen Platz 38 in der Rangliste der wichtigsten deutschen Importländer. Gekauft wurden neben Öl fast ausschließlich Erdgas, Mineralöl- und Kokereiprodukte.“

Aber auch „Italien hat in Libyen viel zu verlieren“, meint die FAZ-Wirtschaftsredaktion. Überhaupt leiden die Aktienmärkte und Schweizer Banken  sowie auch die Börsen unter dem „Libyen-Aufstand“. Außerdem bedroht der „Aufstand unsere Ölversorgung“.

Photo: BBC News

Der lokale Radiosender RBB meldete Dienstagabend:

Vor der libyschen Botschaft in Berlin trafen sich zwei Demonstrationszüge mit je etwa 100 Personen, um gegen die Niederschlagung des libyschen Aufstands durch die Streitkräfte, Söldner und Polizisten Gaddafis zu protestieren.

AP meldet heute um 16 Uhr 57:

„Aus Protest gegen das Regime von Libyens Staatschef Muammar al Gaddafi haben zwei Libyer am Mittwoch in Berlin vor der Botschaft des arabischen Landes zwei Nationalflaggen heruntergerissen. Die beiden Männer wiesen sich bei der Polizei mit libyschen Pässe aus und gaben an, die diplomatische Vertretung aufsuchen zu wollen, wie ein Polizeisprecher mitteilte. Ihnen sei daraufhin Zutritt zum Gelände gewährt worden, wo sie plötzlich jedoch einen Zaun überkletterten, hinter dem sich zwei Fahnenmasten mit den Flaggen befanden. Eine der beiden Personen kletterte hinauf und riss die Fahnen herunter.

Parallel dazu hatten rund 40 Menschen vor der Botschaft in Dahlem protestiert. Die Aktion vor dem Gebäude in der Podbielskiallee stand unter dem Motto ‚Gegen die Massaker in Libyen‘.“

In der Jungen Welt wurde gestern über das Ausbleiben der Solidarität mit dem Arabischen Aufstand bei der hiesigen „Facebook-Generation“ räsonniert:

„Nein, was uns fehlt, ist das innerliche Prinzip, die Seele der Sache, die Idee des Sujets. Wir machen Notizen, wir machen Reisen; Elend, Elend! Wir werden Gelehrte, Archäologen, Historiker, Mediziner, Schuhflicker und Leute von Geschmack. Was ändert das alles daran? Aber das Herz, der Schwung, der Saft? Von wo aufbrechen, und wohin gehen?“ So resümierte Gustave Flaubert seine Orient-Reisen und -Arbeiten. Viel hat sich nicht geändert. Auch hier und heute ist die Solidarität mit den arabischen Aufständen ohne Schwung. In Berlin fand gerade die fünfte Veranstaltung über die Pariser Gruppe „Tiqqun“ und ihr Manifest „Der Kommende Aufstand“ statt. Und das, obwohl der ägyptische Aufstand beinahe schon ein Gehender geworden wäre. Es scheint  hier eine große Scheu zu geben, sich mit den revoltierenden arabischen Jugendlichen zu solidarisieren. Am 12.2. hatten fast mehr Organisationen (u.a. der DGB) zu einer Solidaritätskundgebung auf dem Pariser Platz aufgerufen als dann Leute erschienen. Sie bekamen kurz und schmerzlos drei schmucklose Reden geliefert. Wie haben die 68er, die ihren ersten Märtyrer während eines  Anti-Schah-Protests in Westberlin zu beklagen hatten, den Widerstand gegen das persische Schah-Regime begrüßt! Der Philosoph Michel Foucault freute sich besonders über die dabei benutzte neue Kommunikationstechnologie.

Während die Bolschewiki bis hin zu Bertolt Brecht und Walter Benjamin noch die revolutionäre Rolle des Radios hervorhoben, wurden wir schon durch den ersten „Fernsehkrieg“ – wie man den Vietnamkrieg und die Proteste dagegen auch bezeichnet hat – politisiert.  Während der portugiesischen „Nelkenrevolution“ 1974 erfreute sich in Lissabon eine Anarchozeitung großer Popularität – die als erste auf Photokopierern hergestellt  wurde. Der Ayatollah Chomeini brachte dann seine Botschaften aus Paris mittels Toncassetten unter das iranische Volk. 1979 – nach der Revolution und der Vertreibung des Schahs – errichtete  Chomeini ein Mullah-Regime, das bald allen Grund gab, sich für seine anfängliche Sympathie mit dieser „islamischen Revolution“ zu schämen.

Das wirkt bis heute nach – in der Skepsis gegenüber den zwischen Istanbul und Marokko erstarkten Muslimbruderschaften. Bei der Distanz gegenüber den jetzigen „arabischen Aufständen“ kommt noch etwas dazu, abgesehen von dem antiislamischen Schub  nach dem Attentat auf das World Trade Center 2001: Hier tritt jetzt die sogenannte „Facebook-Generation“ an. Ihr exilierter Vorkämpfer, der palästinensische Kritiker des westlichen „Orientalismus“: Edward W. Said, wußte bereits 2003: „Heute kommt uns das enorm ermutigende demokratische Internet  zugute, das allen Nutzern in Formen offensteht, die sich frühere Generationen von Tyrannen und Inquisitoren niemals hätten träumen lassen.“ Zum Aufstand in Kairo interviewte jetzt der Wiener „Falter“ den in Berlin forschenden „Ägypten-Experten“  Asiem El Difraoui. Er meinte: „Ein wichtiger Aspekt scheint mir, dass die Jugend so extrem ‚connected‘ ist. 80 Prozent der Ägypter haben ein Handy. Das brachte die Jungen in die Moderne. Sie konnten endlich frei kommunizieren und dadurch ein Stück Privatsphäre gewinnen. Wo es keinen echten Freiraum gibt, dort wird der virtuelle zum Lebensraum erklärt. Die Kombination zwischen der allgemeinen Frustration und der Möglichkeit, auf einmal breitflächig zu kommunizieren, hat zur Explosion geführ.“

Die „Facebook“-Generation eint die „weichen Ideologien“ (Menschenrechte, Ökologie, Gender…), wie Jean Baudrillard sagt, während die Nachkriegsgeneration marxistisch-freudianistisch oder asiatisch-despotisch gestimmt den „harten Ideologien“ anhing. Es wundert nicht, dass diese am Fernseher groß gewordene Präinternet-Generation jetzt im „Dschungel-Camp“ (Rainer Langhans) und im „Springer-Verlag“ (Thomas Schmidt)  ausläuft. Von ihnen ist fast nichts mehr zu erwarten, was aber ist mit der hiesigen „Facebook-Generation“?

Auch sie hat noch kein einziges „Teach-In“ zu den arabischen Aufständen hinbekommen, obwohl ihr einige Studentenvertretungen organisatorisch zur Verfügung stünden. Es gibt auch keine Theater-Diskussionen – und sei es im Anschluß an irgendein Revolutionsstück, an denen es auf den deutschen Bühnen nicht mangelt. Sollte die „Facebook-Generation“ das Internet vielleicht nur deswegen nutzen, um aus dem zu Viel an „Privatsphäre“ herauszukommen? Dann gäbe es freilich keine Gemeinsamkeit mit den arabischen Bloggern.

In der FAZ wird heute die Studie eines französischen Soziologen rezensiert, der zu einer anderen Einschätzung von jugendlichen Revolten und Internet-Nutzern kommt:

„Wenn der Mob im Schutze der Nacht in der Pariser Banlieue Autos anzündet und Steine gegen vorrückende Polizisten schleudert, so manifestiert sich darin dasselbe, wie wenn sich in Internetforen im Schutze der Anonymität ein jeder vor dem anderen über Oral- oder Analsex auslässt – das zumindest ist die Meinung des französischen Soziologen Michel Maffesoli, der an der Sorbonne unterrichtet. Für ihn sind beide Phänomene Zeichen dafür, dass ein neues gemeinschaftliches Ideal zurückkehrt und „der Individualismus seine Zeit gehabt hat“. Es sei zwar nicht einfach, sich das einzugestehen, da „unser intellektuelles Unbewusstes“ nach wie vor vom Monotheismus geprägt sei. Aber selbst die Wirtschafts- und Finanzkrise zeige, dass sich die Idee des „individuellen, ökonomischen Heils“ gesättigt habe.

Maffesoli sieht in derlei Erscheinungen das Ende der rationalistisch-apollinischen Moderne gekommen: einer hauptsächlich statischen Periode, in der es genau bezeichnete Nationalstaaten und klar umrissene Ideologien gab, in der das Individuum triumphierte und sein Leben lang nur einem Beruf nachging“ – und nach der nun wieder eine dynamische Periode komme: mit neuen Nomaden, die zwischen verschiedenen Berufen, geographischen Räumen, Religionen, ja sexuellen Orientierungen changieren; mit einem neuen Entdeckungsdrang, der nunmehr im Internet schweift und sich neue Welten erschließe; überhaupt mit einem neuen Archaismus, der sich auch in der modernen Technik widerspiegele, so dass das Surfen im Cyperspace nichts anderes sei als beständige Meditation. „Der nörgelnden Zivilisation, in der die Geschichte machbar ist“, schreibt Maffesoli, ‚folgt eine Kultur des Instinktes, in der man dem Schicksal wieder die Stirn bietet‘.“

In der selben FAZ-Ausgabe wird über eine Tagung von Kulturwissenschaftlern in Essen berichtet, auf der über die Intellektuellen im Medienwechsel diskutiert wurde:

„Der Intellektuelle ist Schwanengesang gewohnt. Wer sich als Anwalt des Allgemeinen begreift, wird in spezialisierten Gesellschaften leicht zum Auslaufmodell erklärt. Und doch gibt es berechtigte Zweifel, dass das klassische Intellektuellenbild, dem das späte 19. Jahrhundert seine Prägung gegeben hat, den Übergang in die digitale Welt überstehen wird. Die Revolutionen in Nordafrika haben derzeit einen Modetypus ausgerufen, der vom klassischen Intellektuellen den Widerstandsgeist und die moralische Entrüstung übernommen hat. Soll man einen Netzaktivisten wie Whael Ghonim, der dem Facebook-Protest gegen das tunesische Regime das Gesicht verlieh, schon einen legitimen Erben nennen?

Auf einer Konferenz am Essener Institut für Kulturwissenschaft stritt man glücklicherweise nicht über die Frage, ob die Textminiaturen auf Facebook oder Twitter ernstzunehmende Debattenbeiträge sein können. Eine Bühne, die über intellektuelle Wirkung mitentscheidet, ist die Präsenz im sozialen Netz aber schon. In der Masse anonymer Netzdiskutanten drohen die klassischen Formen intellektueller „Eingriffe“ unterzugehen. Ins Hintertreffen gerät ein Typus, der in einer nationalen Diskurskultur aufgehoben ist und dem ein etabliertes Medium privilegierten Zugang zur Öffentlichkeit einräumt. Die Selektionshürde des Fernsehens konnte schon nur noch der Intellektuelle mit Unterhalterqualitäten nehmen. Der Sprung ins Multimediale markiert eine weitere Zäsur. Mühelos meistert ihn der französische Medienakrobat Bernard-Henri Lévy, der aufsehenerregend gut frisiert auf Facebook grüßt und gewandt über Blog und Twitter kommuniziert, als wäre er für diesen medialen turn erschaffen. Auch Sloterdijk setzt sich multimedial gekonnt in Szene. Die Vorgängergeneration, Enzensberger oder Habermas etwa, ist dagegen meist nur durch einsilbige Fremdeinträge vertreten.“

In der Jungen Welt  wird  heute zwecks Einschätzung der Lage in Libyen der WK-Zwo-Partisan Angelo del Boca interviewt. Er ist Historiker des italienischen Kolonialismus:

In Libyen überschlagen sich die Ereignisse. Der östliche Landesteil mit den Städten Bengasi, Al-Beida und Tobruk scheint in der Hand der Aufständischen zu sein. Die Zahl der Toten soll im dreistelligen Bereich liegen. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Das Land ist tatsächlich zweigeteilt, wobei die Revolte in der Cyrenaika vorhersehbar war. Es ist dort nicht das erste Mal. Innerhalb der letzten 15 Jahre handelt es sich mindestens um den dritten Aufstand. Die letzten Unruhen gab es 2006 wegen der antiislamischen Provokation des Lega-Nord-Politikers und Ministers für Vereinfachungen (der Gesetze) Roberto Calderoli. 1996 wurde nicht einmal die Anzahl der Toten und Verletzten bekannt, aber die Zahl der Verhafteten ging in die Tausende. Gegen die damalige islamistische Revolte wurden Heer, Luftwaffe und Marine eingesetzt. Den starken Einfluß der historischen, politisch-religiösen Senussi-Bruderschaft, an deren Spitze der am 1.September 1969 gestürzte König Idris I. stand, darf man nicht unterschätzen. Auch der sagenumwobene Nationalheld Omar Al-Mukhtar, der als »Löwe der Wüste« zehn Jahre lang den Widerstand gegen die italienischen Besatzer leitete, ist in der kollektiven Erinnerung noch immer lebendig.

Sind die Stunden von Oberst Muammar Al-Ghaddafi gezählt?

Nein, das denke ich nicht, auch weil die Familie Ghaddafi ebenfalls gespalten ist und sich das für den Machterhalt als sehr nützlich erweisen kann. Zum Lager der Hardliner zählt sein Sohn Khamis, der an der Spitze der Sicherheitsbataillone steht, die quasi die Prätorianergarde des Regimes bilden, sowie Motassem, der ebenfalls zur Armee gehört, und auf der anderen Seite haben wir Saif Al-Islam, von dem wir wissen, daß er der einzige ist, der in dieser Situation Informationen über die Ereignisse weitergibt und in den letzten Monaten dafür gesorgt hat, daß Hunderte aus Bengasi stammende, islamische Fundamentalisten freigelassen wurden, nachdem sie sich reumütig gezeigt und der Gewalt abgeschworen hatten.

Was unterscheidet das Geschehen in Libyen von dem in Tunesien und Ägypten?

Unterschiede gibt es zweifellos auf der ökonomischen Ebene, da Libyen, dank des Erdöls, über ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen verfügt, das mit 12020 Dollar fast die europäischen Standards erreicht. Es ist mehr als viermal so hoch wie in Tunesien und beträgt das Sechsfache des ägyptischen. Hinzugefügt werden muß, daß in Libyen Preisobergrenzen für Güter des Grundbedarfs gelten und diese in den letzten Tagen noch weiter gesenkt wurden.

Wo liegen die Gemeinsamkeiten?

Trotz der regional relativ guten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die die anderen Maghrebiner nicht haben, leiden auch die Libyer unter der Last einer mittlerweile mehr als vierzig Jahre dauernden Diktatur.

Wie beurteilen Sie die Übergangsprozesse in Ägypten und Tunesien?

Dort zeigt sich, daß der Demokratisierungsprozeß keineswegs linear verläuft und die Ergebnisse nicht von vornherein klar sind. In Kairo liegt die Macht in den Händen der Streitkräfte, die das Parlament aufgelöst und die Verfassung »eingefroren« haben. Sicher, sie haben versprochen, auf die Opposition zuzugehen und die Abhaltung eines Verfassungsreferendums zugesichert. Es bleibt allerdings eine Tatsache, daß es sich im Moment um einen Militärputsch handelt. Genauso klar ist, daß die Straßenproteste nicht aufhören und neben Lohnerhöhungen auch weiterhin demokratische Garantien gefordert werden. Vor allem wollen die Oppositionskräfte nicht ihre 18tägige Revolte vergeuden, die zum Sturz des dreißigjährigen Mubarak-Regimes geführt hat. Es besteht die Angst, daß ihre Revolution verraten wird.

Und in Tunesien?

Da liegen die Dinge ein bißchen anders. In Tunesien gibt es eine Regierung, zwar nur eine provisorische, aber sie existiert. Es herrscht jedoch auch viel Konfusion, was dazu führt, daß viele Tunesier versuchen, übers Meer nach Italien und damit in die EU zu gelangen.

Welche Rolle spielt Europa in diesem Zusammenhang und was sollte es Ihrer Meinung nach tun?

Zuallererst muß man mal feststellen, daß die EU-Staaten von diesen Revolten überrascht und in Schwierigkeiten gebracht wurden. Dabei kannten alle die tatsächliche Lage in den Ländern des Maghreb, und es war dumm, unverantwortlich und kurzsichtig, diese Diktaturen als »weich« zu bezeichnen. Jetzt sollte Europa, angefangen bei den Mittelmeeranrainern Frankreich, Spanien und Italien, denen sicheres Obdach gewähren, die vor den Diktaturen fliehen – und dann über eine andere Außenpolitik gegenüber dem Maghreb nachdenken.

Auf der „World Socialist Web Site“ berichtet heute Ann Talbot aus Libyen:

Während sich der Aufstand in Libyen im ganzen Land ausweitet, erhöht sich die Zahl der Todesopfer und der Verwundeten des Regimes von Oberst Muammar Al Gaddafi. Kampfflugzeuge haben das Feuer auf Demonstranten eröffnet, einigen Berichten zufolge auch in der Hauptstadt Tripolis. Demonstranten wurden beschossen, und Zugangsstraßen der Zweimillionenstadt wurden bombardiert.

Adel Mohamed Saleh, ein Einwohner von Tripolis, berichtete Al Dschasira live am Telefon:

“Was wir heute erleben, ist unvorstellbar. Militärflugzeuge und Hubschrauber bombardieren wahllos eine Gegend nach der anderen. Es gibt viele, viele Tote.“

“Unsere Leute sterben. Es ist die Politik der verbrannten Erde. Sie bombardieren uns alle zwanzig Minuten.“

“Es geht immer weiter, immer weiter. Jeder, der sich bewegt, wird zur Zielscheibe, selbst wenn du in deinem Auto sitzt.“

Der Aufstand griff am Sonntagabend auf Tripolis über, als sich viertausend Demonstranten auf dem Grünen Platz versammelten und den Sturz des Regimes forderten. Regierungsschläger griffen sie an, und Sicherheitskräfte feuerten mit scharfer Munition. Die Zusammenstöße dauerten bis zum Morgengrauen. Schwer bewaffnete Söldner sollen durch die Straßen gefahren sein und Menschen erschossen und überfahren haben. Augenzeugen berichten, unter ihnen hätten sich nicht nur Afrikaner, sondern auch Italiener befunden.

Gaddafis Sohn, Seif al-Islam Gaddafi, trat Sonntagnacht im Staatsfernsehen auf und drohte mit Bürgerkrieg. Er warnte mit den Worten: „Wir werden bis zur letzten Minute, bis zur letzten Kugel kämpfen.“ Er sagte, es werde „Ströme voll Blut“ in Libyen geben, wenn die Demonstrationen nicht aufhörten.

Das Massaker an Zivilisten in der Hauptstadt ist die Antwort des Regimes auf die eskalierenden Proteste. Der Einsatz der Luftwaffe gegen Zivilisten zeigt sowohl Gaddafis Unbarmherzigkeit als auch seine Verzweiflung. Die herrschende Clique um ihn herum hat einen Bürgerkrieg gegen die libyschen Massen angezettelt.

Mindestens zwei Piloten weigerten sich, auf Zivilisten zu feuern, und flogen ihre Maschinen nach Malta, wo sie um Asyl baten. In Schweden, China, Indien und anderen Ländern, wie auch bei den Vereinten Nationen, traten libysche Botschafter nach dem Angriff in Tripolis zurück.

Nicht nur das Gaddafi-Regime trägt die Schuld an diesen Verbrechen. Ein Treffen der europäischen Außenminister in Brüssel verurteilte formell den Einsatz schwerer Waffen gegen Zivilisten; aber die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, forderte bei einer Pressekonferenz nach dem Treffen, dass „alle Seiten sich zurückhalten sollten“, als ob es ein Gleichgewicht zwischen einer modernen Militärmaschinerie und der Zivilbevölkerung gäbe.

Ihre Worte veranschaulichen das Ausmaß der Verstrickung zwischen der EU und dem Gaddafi-Regime. Alle EU-Staaten haben bereitwillig enge Beziehungen zu Libyen entwickelt, seitdem die internationalen Sanktionen 2004 aufgehoben wurden, allen voran Großbritannien unter Tony Blair und die frühere Kolonialmacht Italien unter Silvio Berlusconi.

Der britische Außenminister William Hague telefonierte mit Seif al-Islam Gaddafi, kurz bevor dieser der libyschen Bevölkerung drohte. Großbritannien hat seit Beginn des Aufstandes acht Waffenexportbewilligungen nach Libyen ausgesetzt. Aber eine große Menge britischer Ausrüstungen ist bereits nach Libyen verschifft worden und bei der Niederschlagung der Proteste zum Einsatz gekommen.

Zu dem militärischen Gerät, das letztes Jahr von Großbritannien aus nach Libyen exportiert wurde, gehören Tränengas, Gummigeschosse, Überwachungsausrüstungen, Handfeuerwaffen, Scharfschützengewehre und Zielfernrohre, Kommandofahrzeuge, Fahrzeuge für den Straßenkampf und Funkstöranlagen. Großbritannien beteiligt sich auch an der Ausbildung der libyschen Polizei, die sich durch Brutalität auszeichnet.

Für Großbritannien und die anderen EU-Staaten bedeutet der Aufstand in Libyen ein Desaster. Die britische Regierung hat Beziehungen zu Gaddafi gepflegt, um so Ölförderverträge für britische Firmen wie BP zu ergattern. 79 Prozent des libyschen Öls gehen in die EU und machen Europa zu Libyens größtem Kunden.

Libyen hat Saudi-Arabien gerade als drittgrößter Öllieferant Europas hinter Norwegen und Russland überholt. Italien importiert 32 Prozent des libyschen Öls, Deutschland 14 Prozent und Frankreich 10 Prozent. 23 Prozent gehen an den Rest Europas.

Einige Demonstranten beschuldigen die italienische Regierung, die Unterdrückung der Proteste heimlich zu unterstützen. Berlusconi sagte am Wochenende über Gaddafi: „Nein, ich habe keinen Kontakt zu ihm gehabt. Die Situation ist noch im Fluss, und ich werde mir nicht erlauben, mich einzumischen.“ Erst gestern gab es von ihm eine Pro-Forma-Verurteilung der Gewalt.

Vor wenigen Tagen noch beruhigte die italienische Ölfirma ENI ihre Investoren, in Libyen sei alles in bester Ordnung. Am Montag begann man, die Belegschaft zu evakuieren. Norwegens Statoil, die in einem Konsortium mit Frankreichs Total und Spaniens Repsol arbeitet, kündigte an, man werde die Büros in Tripolis schließen. Österreichs OMV evakuiert bis auf den harten Kern alle Mitarbeiter.

BP hat seine Pläne, Probebohrungen auf den riesigen Ölfeldern von Sirte durchzuführen, vorerst zurückgestellt. Die Bohrungen sollten innerhalb der nächsten Wochen beginnen. Sirte wird als gefährlich nahe an Bengasi eingestuft, das sich jetzt in den Händen der Aufständischen befindet.

Die Beziehung zwischen europäischen Regierungen und Libyen beschränkt sich nicht allein auf Öl. Libyen hat großzügig in Europa investiert, vor allem in Italien. Darüber hinaus hat Gaddafi Devisenreserven in Höhe von geschätzten 70 Milliarden US-Dollar angehäuft, die er einsetzt, um Einfluss auszuüben. Als sein jüngster Sohn, Hannibal Gaddafi, wegen Misshandlung seiner Angestellten in der Schweiz verhaftet wurde, stoppte Gaddafi die Ölversorgung und drohte mit einem Angriff auf das Schweizer Bankensystem. Die Schweizer Behörden entschuldigten sich umgehend bei ihm.

Der Volksaufstand in Libyen droht einen seit langem von europäischen Regierungen hofierten Tyrannen zu Fall zu bringen, der als ein verlässlicher Partner gesehen wurde, der Europas Ölversorgung garantierte und die Reichtümer, die seine Familie dem libyschen Volk gestohlen hatte, in europäischen Banken, Firmen und Universitäten investierte.

Ashton betonte in Brüssel, dass Nordafrika zur „Interessenssphäre“ der EU gehöre.

“Dies ist unsere Nachbarschaft”, erklärte sie und fügte hinzu: “Europa sollte nach seiner Fähigkeit beurteilt werden, in der eigenen Nachbarschaft zu handeln.”

Ashton wird nächste Woche zu einem Besuch in Ägypten erwartet, kurz nach dem britischen Premierminister David Cameron. Die europäischen Regierungspolitiker wünschen sich in Nordafrika nichts sehnlicher als Regimes, die ihnen wohl gesonnen sind und die Kontinuität guter Beziehungen herstellen, wie sie zu den gestürzten Diktatoren bestanden.

Cameron präsentierte sich als Großmeister der Demokratie. Eine Auflistung der Waffenverkäufe der britischen Regierung an die repressivsten Regimes in der Region spricht jedoch eine andere Sprache. „Die Beziehung unserer Länder erstreckt sich über Jahrzehnte, über Jahrhunderte“, sagte Cameron über Ägypten, als er der neuen Militärregierung ein Hilfspaket versprach.

Großbritannien war von 1882 an eine der wichtigsten Kolonialmächte der Region. Großbritannien und Frankreich sandten Kriegsschiffe aus, um Alexandria zu bombardieren. Frankreich hat koloniale Macht über Tunesien und Teile Marokkos ausgeübt. Die algerischen Massen haben von 1954 bis 1962 einen entschlossenen Krieg für ihre Unabhängigkeit von Frankreich geführt. Spanien hält heute noch einen Teil Marokkos besetzt.

Die europäischen Staaten geben sich alle Mühe, um Washington zuvorzukommen. Sie verkünden ihren Enthusiasmus für die Demokratie und pflegen willfährige Regierungen. Im Gegensatz zu ihren Sonntagsreden ist die EU effektiv in die Massaker des Gaddafi-Regimes an der Zivilbevölkerung verstrickt.

Am Wochenende veröffentlichte die Financial Times eine Karikatur, die zeigt, wie Berlusconi von einer Reihe fallender Dominosteine mit der Aufschrift Tunesien, Ägypten, Bahrain und Libyen zermalmt wird. Selbst beim Treffen der Außenminister in Brüssel machte der italienische Außenminister Franco Frattini seiner Angst Luft: „Können Sie sich ein arabisches islamisches Emirat an der Grenze Europas vorstellen? Dies wäre eine sehr ernste Bedrohung“, sagte er.

Tatsächlich spielen Islamisten beim libyschen Aufstand, wie auch im übrigen Nordafrika, nur eine sehr geringe Rolle. Von Anfang an war die revolutionäre Bewegung in Tunesien und Ägypten dem Wesen nach weltlich und spiegelte die Sorgen und Nöte arbeitsloser junger Menschen, der arbeitenden Bevölkerung und der Armen wider, die die steigenden Nahrungsmittelpreise nicht bezahlen können.

Was Frattini Angst macht, ist eine wirkliche Regierung des Volkes. Europäische Regierungen haben kein Problem damit, mit islamischen Regimes wie dem von Saudi-Arabien zusammenzuarbeiten. Was sie wollen, sind Regimes, die die eigenen Völker unterdrücken können. Gaddafi hat ihnen genau das geboten, und jetzt versuchen seine Söhne, zu zeigen, dass sie dasselbe tun können, selbst wenn dies bedeutet, Männer, Frauen und Kinder von Kampfflugzeugen aus abzuschlachten.

Gaddafis Drohungen können die libyschen Massen nicht einschüchtern. Es zirkulieren Aufrufe zu einem millionenstarken Aufmarsch auf dem Grünen Platz in Tripolis. Am Montagmorgen wurde berichtet, dass die Versammlungshalle des Volkes und andere Regierungsgebäude in Tripolis in Brand stünden. Der staatliche Fernsehsender Al-Jamahiriya 2 TV und die Radiostation Al-Shababia wurden geplündert, und mindestens eine Polizeiwache wurde in Brand gesteckt. Montagnacht hieß es, zwei Fernsehstationen seien besetzt.

Der Ausbruch der Proteste in Tripolis folgt einer Woche von Demonstrationen und Zusammenstößen in Ostlibyen mit dem Zentrum Bengasi, der zweitgrößten Stadt des Landes. In Bengasi kam es am Montag zu Freudenkundgebungen in den Straßen, nachdem die ganze Nacht gekämpft und sechzig Menschen getötet worden waren. Es heißt, die Aufständischen hätten die Kontrolle über die Stadt.

Die Stadt Al-Zawiya soll sich nach der Flucht der Polizei vor Aufständischen in der Gewalt von Anti-Regime-Kräften befinden. Aus der Ras-Lanuf-Ölraffinerie und dem petrochemischen Komplex am Golf von Sirte im Osten des Landes werden Kämpfe berichtet. Es heißt, Arbeiter der Ölindustrie seien in den Streik getreten.

Das Eingreifen der Arbeiterklasse in die Kämpfe kennzeichnet einen bedeutenden Wendepunkt des Aufstandes – so wie zuvor in Ägypten.

Vor den libyschen Botschaften in Kairo und in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria demonstrieren Hunderte Menschen und tragen Spruchbänder mit der Aufschrift „Nieder mit dem Mörder, nieder mit Gaddafi!“ und „Gaddafi heuert afrikanische Söldner an, um Libyer zu ermorden“.

Hilfskonvois sind über die ägyptisch-libysche Grenze geschickt worden. Nach Aussage des ägyptischen Arztes Seif Abdel Latif wurden zehn Ägypter in Tobruk erschossen.

Die Arbeiterklasse Nordafrikas und des Nahen Ostens ist die einzige Kraft, die die unterdrückten Massen vereinen und die revolutionäre Bewegung ans Ziel führen kann, indem sie die diktatorischen Regimes stürzt und die internationalen Ölfirmen, Banken und Konzerne vertreibt, die Nordafrika als Quelle für immense Gewinne ansehen. Ihre größte Unterstützung wird sie von den Arbeitern in aller Welt erhalten, insbesondere von denen in Europa und Amerika.

Protestierende Arbeiter in Wisconsin ziehen bereits Parallelen zwischen ihren Erfahrungen und denen der Massen Nordafrikas und des Nahen Ostens. Millionen weitere werden ihrem Beispiel folgen. Die revolutionäre Erhebung, die vor wenigen Wochen in Tunesien begann, kennzeichnet den Anfang einer neuen revolutionären Epoche, und kein Winkel der Erde wird von ihr unberührt bleiben.

Proteste in Madison, Wisconsin. Photo: walworthcountytoday.com


Yannis Papadimitriou berichtet in der taz über den griechischen Generalstreik, bei dem am Rande der Demonstrationszüge autonome und anarchistische  Gruppen in Auseinandersetzungen mit der Polizei gerieten:

„Der Aufstand hat begonnen“ skandieren Demonstranten vor dem griechischen Parlament. Sie tragen Transparente mit Sprüchen wie „Hände weg von unseren Renten“. Auf einmal werfen aufgebrachte Jugendliche Brandflaschen in Richtung Finanzministerium, daraufhin kommt es zu Zusammenstößen mit der Polizei, die massiv Tränengas gegen die Randalierer einsetzt. Mindestens drei Polizisten werden dabei verletzt.

Nach Gewerkschaftsangaben demonstrieren am Mittwoch mehr als 100.000 Menschen mit einem Protestzug durch die Athener Innenstadt gegen die Regierung Papandreou. Genau genommen handelt es sich um mehrere Protestzüge, denn die großen Gewerkschaften des Landes können sich immer noch nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen.

Während etwa der größte Gewerkschaftsverbund GSEE, der den regierenden Sozialisten freundlich gesinnt ist, zu einer Großkundgebung im Herzen der Innenstadt aufruft, halten die orthodoxen Kommunisten lieber fest und treu zusammen und organisieren ihre eigene Protestaktion.

Es ist schon der elfte landesweite Streik seit Einführung der Sparmaßnahmen im Herbst 2009. Vor allem die griechischen Beamten sind für ihre leidenschaftlich geführten Streikversammlungen bekannt, auch an diesem Mittwoch protestieren sie lautstark und heftig gegen Einkommenseinschnitte von über 20 Prozent bei gleichzeitiger Erhöhung indirekter Steuern. „Wir kämpfen für Unabhängigkeit und schulden den USA und Deutschland nicht einen Cent“ steht auf Spruchbändern der Demonstranten geschrieben.

Viele Menschen in Griechenland fühlen sich von der EU und dem Internationalen Währungsfonds bevormundet. Bislang hat Griechenland 38 Milliarden Euro aus dem 110-Milliarden-Euro-Rettungspaket von EU und IWF erhalten. Im März soll die vierte Rate über 15 Milliarden Euro ausgezahlt werden.

Ein „Minimalservice“ während des Generalstreiks ist leider nicht vorgesehen. Nur Krankenhäuser arbeiten mit Notbesetzung für 24 Stunden. Berufspendler haben einfach Pech oder müssen mit dem Auto zur Arbeit fahren, was natürlich im modernen Moloch Athen für Verkehrschaos sorgt.

Auch etliche Geschäfte in Athen haben geschlossen, nicht unbedingt aus Solidarität mit den Streikenden, sondern vor allem deswegen, weil deren Inhaber Angst vor Ausschreitungen haben. Bereits heute beklagt der Athener Einzelhandel Umsatzverluste in Milliardenhöhe in Folge der Streiks, Handelslobbyisten drohen den Staat sogar mit juristischen Konsequenzen.

Was am Mittwoch wirklich alles passiert ist, werden griechische Zeitungsleser erst am Freitag erfahren. Die Journalisten wollen auf die dramatische Lage in den griechischen Medien aufmerksam machen und treten ebenfalls in den 24-stündigen Streik. Sie befürchten Lohndumping und Entlassungen. Seit 2008 sind die Werbeeinnahmen vieler Zeitungen und TV-Sender um mindestens 40 Prozent zurückgegangen, außerdem spart die Regierung bei der Werbung.

Solidaritätsdemonstration für die iranischen Oppositionellen. Photo: katu.com

In der taz versucht der ehemalige SDS-Genosse Bahman Nirumand heute die Chancen für einen Aufstand im Iran einzuschätzen:

Die Wellen, die 2009 von den Unruhen im Iran ausgingen und in den vergangenen Wochen in den arabischen Ländern einen Tsunami auslösten, kehren nun wieder in den Iran zurück. „Erst Bin Ali, jetzt Said Ali (Chamenei)“, lautete die Parole, die am 14. Februar von zehntausenden Demonstranten unter anderem in Teheran gerufen wurde. Das Regime schlug brutal zu. Am Sonntag gedachten einige tausend Oppositionelle der beiden Toten. Es gab ein weiteres Todesopfer. Heißt es, dass nun auch im Iran so wie in Tunesien, Ägypten und vermutlich auch Libyen die Stunde für die Machthaber geschlagen hat? Wohl kaum.

Zwar ist die wirtschaftliche Lage im Iran um keinen Deut besser als etwa die in Ägypten. Die von der UNO und zusätzlich von den USA, der EU und einigen anderen Staaten verhängten Sanktionen wegen des umstrittenen Atomprogramms und die Streichung staatlicher Subventionen für Energie und Grundnahrungsmittel haben die Preise rapide in die Höhe getrieben. Die Arbeitslosigkeit ist enorm gestiegen. Heute lebt jeder vierte Iraner unter der Armutsgrenze. Die Korruption ist nahezu grenzenlos. Im Vergleich zu den islamischen Gottesmännern waren die Anhänger des Schahs kleine Taschendiebe.

Was den gravierenden Unterschied zwischen Iran und Ägypten ausmacht, ist die Staatsmacht. Während in Ägypten die Macht auf einen Mann konzentriert war, der sich als Diktator nur wegen der Unterstützung der USA und des Westens behaupten konnte, regiert im Iran kein Alleinherrscher. Revolutionsführer Chamenei verfügt nur nominell über die absolute Macht.

Das iranische Regime ist aus einer Revolution hervorgegangen, die damals von nahezu der Gesamtheit der Bevölkerung getragen wurde. Und es bewaffnete sich mit einer Ideologie, die auf dem Glauben basierte – einer Waffe, die dem Regime in Ägypten gänzlich fehlte. Der ägyptische Staatschef Husni Mubarak hingegen rühmte sich, die islamischen Kräfte in Schranken halten zu können. Der Friedensvertrag mit Israel und seine Abhängigkeit vom Westen nahmen ihm die Möglichkeit, sich wie viele Despoten als Nationalist zu gebärden.

Die Machtinstrumente Mubaraks waren die Armee, die Polizei und die Geheimdienste. Aber die Armee, die von den USA ausgebildet und finanziert wurde, orientierte sich eher an Washington als an Kairo. Die Rolle, die die Streitkräfte bei den Unruhen als eine mehr oder weniger neutrale Macht zwischen Mubarak und den Aufständischen einnahmen, bestätigt dies. Zunächst zögernd, handelten sie in dem Augenblick, als Washington sich entschloss, Mubarak fallen zu lassen.

Die Islamische Republik hat demgegenüber von Anbeginn ihre eigenen Machtinstrumente aufgebaut. Als Alternative zu der regulären Armee wurde die Organisation der Revolutionswächter (Pasdaran) gegründet, die Rolle der Justiz übernahmen zunächst die Revolutionsgerichte, die der Polizei die Revolutionskomitees. Hinzu kam die Milizenorganisation der Basidschis. Der achtjährige Krieg gegen den Irak stärkte diese Machtinstrumente und beschleunigte die Verbreitung der schiitischen Märtyrerideologie, vor allem bei den Militärs, Milizen und Sicherheitskräften.

Inzwischen sind sowohl die Organisation der Revolutionswächter als auch die der Basidschi gigantisch gewachsen. Spätestens seit der Regierungsübernahme von Präsident Mahmud Ahmadinedschad bilden sie die erste Macht im Land, nicht nur militärisch, sondern auch politisch wie wirtschaftlich. Sie wurden mit modernsten Waffen ausgestattet. Der neue Regierungschef übergab nahezu sämtliche Schlüsselpositionen seinen ehemaligen Pasdaran-Kollegen und überließ der Organisation die meisten Staatsaufträge. Ob in der Ölindustrie oder im Straßenbau, im Export-Import-Geschäft oder im Aufbau des Kommunikationsnetzes, überall sind die Pasdaran direkt oder als getarnte Privatfirmen mit von der Partie. Allerdings hat die Militarisierung der Macht für das Regime auch gravierende negative Folgen. Bereits nach dem Krieg und kurz darauf dem Tod Chomeinis begann die herrschende Ideologie zu bröckeln. Selbst im islamischen Lager fragten sich viele, ob das Erreichte das war, wofür sie sich aktiv an der Revolution und dem Aufbau des neuen Staates engagiert hatten. Der Versuch eines Teils der Kritiker, durch Reformen den Staat an die Bedürfnisse des Volkes anzupassen, scheiterte an dem Widerstand der Radikalen, was schließlich bei den manipulierten Wahlen von 2009 zu einer großen Spaltung im islamischen Lager führte.

Mit der Militarisierung und der brutalen Niederschlagung der Proteste verlor das Regime auch vollends seine ideologische Legitimität. Selbst einfache Gläubige fragten sich, wie sich die Betrügereien, Korruption, Hinrichtungen, Folterungen und erzwungenen Geständnisse mit ihrem Verständnis vom Islam und dessen ethisch-moralischen Grundsätzen vereinbaren ließen. Die Spaltung hat sich mittlerweile auf Teile des konservativen Blocks ausgeweitet. Einflussreiche Großajatollahs, die Hauptstütze des Gottesstaates, sind zu den herrschenden Radikalen auf Distanz gegangen oder üben offen Kritik.

Doch die Möglichkeit, dass die Spaltung sich auch auf Militär- und Sicherheitskräfte ausweitet und sie die Seite wechseln, ist sehr gering. Sie genießen außerordentliche Privilegien und sind damit existenziell an die Macht gebunden. Denn anders als in Ägypten, wo das Militär durch einen klugen Schachzug zumindest bis jetzt die alte Macht bewahren und ihre Pfründen retten konnte, würde im Iran eine wie auch immer geartete Distanz von der politischen Macht zum Sturz des gesamten Regimes führen.

Ein Regimewechsel im Iran ist nur dann möglich, wenn es der Oppositionen gelingt, einerseits den inneren Zerfall der Staatsmacht zu beschleunigen und andererseits die Proteste auf Produktionszentren und staatliche Einrichtungen auszuweiten. Allein mit Straßendemonstrationen wird man die Radikalen, die vor keinem Verbrechen am eigenen Volk zurückscheuen, nicht stürzen können.

Die Berliner Zeitung veröffentlicht heute einen längeren Bericht über die Rechtlosigkeit der Beduinen in Kuwait, die am Wochenende demonstrierten.

Die FAZ hat in Bahrain den Eindruck gewonnen, dass die Stimmen, die eine Abdankung des dortigen Königs fordern, immer lauter werden und es nur noch eine Frage der Zeit ist, wann auch diese Bastion der US-Reaktion im Nahen Osten fällt.

AFP meldet: In Algerien wurde der 1992 verhängte Ausnahmezustand beendet.

Al Dschasira berichtet aus Algerien:

„Bouchachi, who was amongst those who were beaten by police earlier today, told Al Jazeera he „wasn’t seriously injured“. „The security services prevented people from coming to Algiers from the rest of the country, and they stopped the people who were in Algiers from marching,“ he said.

He said the National Co-ordination for Change and Democracy (CNCD) will be meeting in the coming days to decide what form their future protest actions against the regime will take.

Security forces stepped in the city of Algier after clashes broke out between pro- and anti-government supporters. Algerian police have thwarted a rally by thousands of pro-democracy supporters, breaking up the crowd into isolated groups in a bid to keep them from marching.

The delegation of Algerian Mothers of the „Disappeared“ also participated in the protest at Algiers today. Around 100 people attended the protest in Oran, according to the Algerian Human Rights League (LADDH).


Demonstrantin in Libyen. Photo: derstandard.at

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