vonHelmut Höge 24.02.2011

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Stuttgart 21 – Modell. Photo: stuttgarter-nachrichten.de


In einer Prenzlauer Berg Diskussion über die „Arabische Revolution“ berief man sich heute Nacht im Wesentlichen auf vier Aufstands-Anekdoten:

1. Den letzten Videoschnipsel-Vortrag von Kuttner und Meier in der Volksbühne, der aus quasi aktuellem Anlaß den Okzidentalismus thematisiert hatte – und das bereits mit der Endlosschleife am Anfang: Sie bestand aus einem DDR-Fernsehbeitrag, der zeigte, wie der Ministerpräsident Otto Grotewohl in Ägypten begrüßt wurde: Ein Ägypter läuft die Cheops-Pyramide runter – auf die DDR-Delegation zu und freut sich, als er darin Otto Grotewohl entdeckt, noch im Laufen zieht er eine Deutschlandfahne aus der Hosentasche und winkt ihm damit zu. Leider war es keine DDR-Fahne. Unterlegt wurde dieser Schnipsel mit der „Deutschen Nationalhymne 2015“ der anonymen türkischen Band „Grup Tekkan“ (http://www.bittekunst.de/deutsche-nationalhymne-2015-trkischer-pop-macht-kultur).

2. Einen FAZ-Text von Mark Siemons aus Peking, in dem er behauptet, die Aufrufe im Internet zu einer chinesischen „Jasmin-Revolution“ hätten im Wesentlichen nur die internationale Presse auf den Plan gerufen sowie Zivil- und Geheimpolizisten.

3. Ein tunesischer Filmschaffender aus einer Berlinale-Jury, der gefragt wurde, was er von den Bootsflüchtlingen auf Lampedusa halte. Er meinte, 99% von denen seien Nutznießer des alten Systems oder Kriminelle gewesen.

4. Ein Beobachter der Partei „Die Linke“ aus einer lateinamerikanischen Stiftung, der meinte, die arabischen Facebook-Jugendlichen machen nicht die Revolution, sondern die Arbeiter und Bauern, wenn überhaupt. Die Facebooker würden bloß von den westlichen Medien derart hochgejubelt werden.

Vor der Industrie- und Handelskammer in Bochum bekundeten gestern Abend 30-40 autonome Aktivistinnen und Aktivsten ihre Solidarität mit den Aufständischen in Libyen. Die IHK Bochum ist Schwerpunktkammer für Libyen und Ägypten und fördert Kontakte und Handelsbeziehungen mit den Regimes beider Länder. Es wurden Flugblätter an PassantInnen verteilt und rote Farbe im Eingang des Gebäudes hinterlassen, um gegen die Kumpanei der westlichen Konzerne mit den arabischen Despoten zu protestieren. Die Forderungen der Demonstranten lauteten:

FRONTEX stürzen!
Für ein Ende deutscher Rüstungsexporte!
Solidarität mit den Aufständischen in Maghreb und Maschrek.

(Photo und Text: indymedia.org)


Der Gesamttenor der Prenzlauzer Berg Diskussion war in etwa der, dass man die Aufstände im Nahen Osten und im Maghreb aus lauter Revolutionsromantik nicht überschätzen dürfe. Und vor allem: Dass es darauf ankäme, sich ein klares Bild von den hiesigen Klassenkämpfen zu machen.

Wenn US-Analysten eine Aufstands-Linie von Kairo bis nach Stuttgart (21) ziehen, dann ignorieren sie völlig, dass es sich bei dem „Schwabenstreich“ hier um ein ganz konservatives Aufbegehren gegen ein spekulatives Großprojekt handelt. Überhaupt nicht zu vergleichen mit den arabischen Aufständen gegen die despotische Regime in der Region, die insofern auf eine nachgeholte Modernisierung  hinauslaufen, was schon dadurch erhellt wird, dass sie von Bloggern, Rappern und ähnlichen Mittelschichtjugendlichen angeführt wurde. Ob die den alten Machthabern und Tricksern im Verein mit den bürgerlichen Schweinepolitikern des Westens gewachsen bleiben, das sei noch sehr fraglich.

Zum Glück hatte jemand ein IPhone dabei, so dass man sich irgendwann in die aktuelle Nachrichtenlage einklinken konnte:

Widerstand gegen das Projekt. Photo: welt.de


Der Spiegel ist bei seiner Berichterstattung über die Kämpfe in Libyen schon bei einem „Minutenprotokoll.

Um 0 Uhr 10 heißt es dort:

Während im Osten des Landes die Menschen schon ihre Befreiung von der Herrschaft Muammar al-Gaddafis feiern, sagte Saadi Gaddafi, ein Sohn des Staatschefs, etwa 85 Prozent Libyens seien „sehr ruhig und sehr sicher“. Es gebe zwar Proteste gegen die Herrschaft seines Vaters. Das sei normal. Jeder dürfe seine Meinung frei äußern. Sein Vater werde seiner Ansicht nach auch in Zukunft eine wichtige Rolle in dem nordafrikanischen Land spielen. Allerdings werde „neues Blut“ die direkte Kontrolle übernehmen und Reformen einführen müssen, sagte der Sohn Gaddafis im Telefon-Interview der „Financial Times“. „Mein Vater würde als der große Vater bleiben, der berät“, fügte er hinzu. Sein Bruder Saif al-Islam arbeite an einer neuen Verfassung und werde bald eine Erklärung abgeben.

AFP meldete um 0 Uhr 11:

Schwerbewaffnete Sicherheitskräfte haben in der libyschen Stadt Misrata am Mittwoch nach Angaben von Augenzeugen Demonstranten angegriffen und mehrere Menschen getötet. „Anhänger des Regimes haben unbewaffnete Demonstranten mit Maschinengewehren und Panzerfäusten attackiert“, sagte ein Augenzeuge der Nachrichtenagentur AFP am Telefon. Es habe „mehrere Märtyrer“ gegeben. Am späten Abend seien immer noch mehrere hundert Demonstranten im Stadtzentrum von Misrata versammelt gewesen. Sie seien von den Sicherheitskräften umstellt, „die jeden Moment angreifen können“.  Bereits am Wochenende hatten Augenzeugen von blutigen Zusammenstößen in Misrata zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften berichtet, die von „afrikanischen Söldnern“ unterstützt worden seien. Die Mittelmeerstadt ist die drittgrößte Stadt Libyens und liegt 200 Kilometer östlich der Haupstadt Tripolis.

Der Spiegel faßte wenig später zusammen:

„In Tripolis feuern Regierungstreue willkürlich in den Straßen: In der Hauptstadt und nahe der Grenze zu Tunesien wehrt sich Gaddafis Regime gegen den drohenden Untergang.“

„Von China bis Kanada arbeiten zahlreiche Länder mit Hochdruck daran, ihre Bürger aus dem Land zu holen, die Rückkehrer berichten von kriegsähnlichen Szenen. Eine britische Lehrerin etwa erzählt von „mindestens 20 Explosionen“, über Tripolis kreisten ständig Flugzeuge. „Es ist furchtbar. Vor dem Flughafen sitzen Tausende Menschen herum“, sagte ein anderer Augenzeuge.“

Al Dschasiras Libyen-Korrespondentin meldet:

Muammar Gaddafi, Libya’s long-standing ruler, has reportedly lost control of more cities as anti-government protests continue to sweep the African nation despite his threat of a brutal crackdown.

Protesters in Misurata said on Wednesday they had wrested the western city from government control. In a statement on the internet, army officers stationed in the city pledged „total support for the protesters“.

The protesters also seemed to be in control of much of the country’s east, and an Al Jazeera correspondent, reporting from the city of Tobruk, 140km from the Egyptian border, said there was no presence of security forces. „From what I’ve seen, I’d say the people of eastern Libya are the ones in control,“ Hoda Abdel-Hamid, our correspondent, said. She said there were no officials manning the border when the Al Jazeera team crossed into Libya.

„All along the border, we didn’t see one policeman, we didn’t see one soldier and people here told us they [security forces] have all fled or are in hiding and that the people are now in charge, meaning all the way from the border, Tobruk, and then all the way up to Benghazi.

„People tell me it’s also quite calm in Bayda and Benghazi. They do say, however, that ‚militias‘ are roaming around, especially at night. They describe them as African men, they say they speak French so they think they’re from Chad.“

Major-General Suleiman Mahmoud, the commander of the armed forces in Tobruk, told Al Jazeera that the troops led by him had switched loyalties. „We are on the side of the people,“ he said. „I was with him [Gaddafi] in the past but the situation has changed – he’s a tyrant.“

Benghazi, Libya’s second largest city, was where people first rose up in revolt against Gaddafi’s 42-year long rule more than a week ago. The rebellion has since spread to other cities despite heavy-handed attempts by security forces to quell the unrest.“

Zusammenstöße mit der Polizei in Stuttgart. Photo: welt.de


Zur Diskussion der arabischen Bootsflüchtlinge kam dann noch ein Beitrag aus der Jungen Welt dazu:

Während des algerischen Befreiungskrieges, und erst recht während des Vietnamkrieges, setzte sich die westeuropäische Linke engagiert für politische Flüchtlinge ein, der SDS z.B. half desertierten US-Soldaten, meist Schwarze, zur Flucht ins sichere Asyl nach Schweden. Der Elan ließ nach, als man meinte, es mit immer mehr „Wirtschaftsflüchtlingen“ zu tun zu haben. Dafür versuchten Aktionsgruppen, wie die Kreuzberger Gemeinde von Pastor Quandt, immer entschiedener die Abschiebung von Asylanten zu verhindern, vor allem nachdem einige der abgelehnten Asylbewerber dabei zu Tode gekommen waren.

Mit der Auflösung der Sowjetunion kamen Flüchtlinge nicht mehr nur aus dem Süden, aus Bürgerkriegsgebieten, sondern auch aus Osteuropa. Während die westeuropäischen Staaten nach der Wende ihre Grenzsicherungsanlagen mit Hightech perfektionierten und Abschiebeverträge mit befreundeten Regimen z.B. im Nahen Osten aushandelten, geriet der davon betroffene „Migrant“ in den Fokus der Künstler und  Kulturwissenschaftler. Die „Migrationsforschung“ konnte Drittmittel in bis dahin unbekannter Höhe aquirieren, die autonome Antifa-Jugend organisierte „Grenzcamps“, Menschenrechtler setzten sich in Brüssel für die Grenzbefreiung von Sinti und Roma ein, und es gründete sich ein „Bundesverband Schleppen & Schleusen“ – zur Entkriminalisierung der Schlepperbanden, die von außen versuchten, die EU-Grenzen für ihre  Kunden zu überwinden. (1)

Während des algerischen Bürgerkriegs, d.h. nachdem die militanten Islamisten in den Neunzigerjahren einen Guerillakampf begonnen hatten, veröffentlichte eine algerische Lehrerin in der Zeitschrift „Die Aktion“ einen Artikel: Die oft gerade gegen Frauen furchtbare Verbrechen verübenden Islamisten, so schrieb sie, wären in der Mehrzahl arbeits- und hoffnungslose Jugendliche  gewesen. Früher konnten sie nach Frankreich emigrieren, aber seitdem das nicht mehr geht, fühlen sie sich wie in einem Gefängnis.

In den letzten Jahren kommen die diesbezüglich beunruhigsten Nachrichten aus Ciudad Juarez – der mexikanischen Industriestadt direkt am Grenzzaun zur USA, wo seit 1993 über 500 Frauen -meist Arbeiterinnen – ermordet wurden. Auch hierbei versuchen jede Menge Sozialwissenschaftler und südamerikanische Feministinnen das „Phänomen“ zu verstehen. Die kirchlichen Hilfsstellen für Migranten, die versuchen, über die Grenze in die USA zu gelangen, sprechen von einer regelrechten Schwarmbildung, einer Jugend-„Mode“, die auch in Venezuela noch die Jugend erfaßt.

Wenn man will, kann man nun, da wohl in all den vom arabischen Aufstand betroffenen Ländern sich Flüchtlingstrecks nach „Europa“ bilden, von einem Übergreifen dieser lateinamerikanischen Elends-„Wanderung nach Norden“ sprechen. Den Anfang machten die tunesischen „Bootsflüchtlinge“, die auf Lampedusa landeten, ihnen folgten Ägypter. Und nun bangt Europa – laut  dpa, dass es von „libyschen Flüchtlingen“ überflutet wird. „Die Zeit“ fragte zu Recht: „Was heißt hier Fluten?“ Alle EU-Politiker tönen, den arabischen Ländern helfen zu wollen, aber bei 300 „Boatpeople“ wähnen sie sich bereits von islamisch fanatisierten Arabern überrannt. Italien forderte als erstes die  Grenzschutzagentur Frontex, um den „Flüchtlingsstrom zu stoppen“, wie der Tagesspiegel schreibt. „Die EU-Küstenwacht soll Flüchtlingsboote abfangen, zurückschicken und so zur Abschreckung beitragen. Hubschrauber, Überwachungsflugzeuge, Schnellboote, Wärmebildkameras – mit diesen Waffen bekämpft die Frontex-Küstenwacht die illegale Einwanderung im Mittelmeer und im Atlantik. Aus polizeilicher Sicht ist ihre Arbeit ziemlich erfolgreich“: In vier Jahren ging die Zahl der afrikanischen „Bootsmigranten“, die es schafften, durchzukommen, von 32.000 auf 200 zurück.

Die sich jetzt aus den Aufstandsgebieten im  Nahen Osten und im Maghreb aufs EU-Territorium Flüchtenden haben meistens schon lange auf diesen „Kairos“ – den richtigen Augenblick – gewartet. Und da die Weltpresse sich gerade auf diese Region stürzt, glaubt ihnen nun jeder, dass sie vor dem Bürgerkrieg geflohen sind. Bei der Ausländerpolizei ist man quasi verpflichtet, das angestrengt zu bezweifeln.  Der CDU-Bundesinnenminister Thomas de Maizière  lehnt eine Aufnahme tunesischer Flüchtlinge in Deutschland strikt ab: „Wir können nicht die Probleme der ganzen Welt lösen.“ Er fügte hinzu: „Wenn es einen Grund gibt, Tunesien nicht mehr zu verlassen, dann jetzt, wo dort eine Demokratie aufgebaut wird. Jeder Tunesier ist gefordert, das neue demokratische Tunesien mit aufzubauen.“ Es klang wie: „Jeder Tunesier wird hiermit aufgefordert!“

Dem gegenüber stehen all jene  Linken, die nahe genug am arabischen Aufstand sind, um bereits von einer kommenden „Weltrevolution“ zu sprechen. Am 22.2 verbreitete z.B. die „MaoistRebellNews“ in einer Videobotschaft „Lybia Enters the Arab Revolution“. Ich stellte gestern einen Artikel von Ann Talbot auf der „World Socialist Web Site“ in den blog, in dem sie ausgehend vom libyschen Aufstand auf die nahe Weltrevolution zu sprechen kommt. Auch weniger enthusiasmierte Kommentatoren sehen diese bereits am Horizont dräuen. Sie wird vollends alles durcheinander bringen, u.a. in Form von  Wanderungsbewegungen größeren Ausmaßes in alle Richtungen. Mithin sei jetzt quasi alles „Kismet“.

Das „Zentralorgan des Neoliberalismus ‚ortneronline'“ meint:

Junge, sympathische Menschen, in deren Herzen die Sehnsucht nach Demokratie, Freiheit und Menschenrechten (und nach Internet, wenns geht) brennt – so wird die Revolution in Ägypten seit zwei Wochen in den westlichen Medien dargestellt. Mit nicht geringer Empathie für den Aufstand versehen, weht die revolutionäre Romantik durch alle Kanäle. Ist ja auch nicht falsch – aber vermutlich eine etwas kindliche Sicht der Dinge. Eine weniger erfreuliche, aber dafür wirklichkeitsbasierte Analyse hier.

Wenn man darauf klickt, kommt man auf einen NZZ-Artikel des israelischen Politologen  Shlomo Avineri, der in dem Satz gipfelt: „So oder so wird Ägyptens Weg zur Demokratie mühsam und kompliziert werden, und er könnte viele Überraschungen bergen.“


Der österreichische „Standard“ hat zwar Schwierigkeiten mit der Logik, bemüht sich jedoch tapfer, nahöstliches Herrschaftsdenken in bezug auf die wahren Absichten des Westens auf das Entschiedenste zurück zu weisen:

„Wenn Gaddafis Sohn Saif al-Islam – von dem der Lack des aufgeklärten Humanismus, den seine Freunde hierzulande so gerne bei ihm sahen, längst ab ist – vor einem „Bürgerkrieg“ warnt, dann ist das eher eine Drohung damit, dass Regimereste bis zum letzten Moment Terror stiften wollen. Dazu gehört natürlich auch die Verschwörungstheorie, dass der Westen den Aufstand in Libyen angezettelt habe, um das Land zu zerschlagen und sich das Öl unter den Nagel zu reißen.

Dass diese Behauptung imperialistischer und rassistischer ist als alles, was dem Westen einfallen könnte – etwa die „Besetzung Libyens durch die Nato“ , vor der Fidel Castro warnt -, darauf kommen die Verschwörungstheoretiker nicht: Sie negieren, dass die Libyer und Libyerinnen das Recht und den eigenen Willen haben, ihre Würde durch die Beseitigung eines unwürdigen Regimes wiederzuerlangen.“

Die konservative Wiener „Presse“ schreibt über die Aufstandsflüchtlinge aus Arabien und dem Maghreb:

„Dass die Angst der Europäer vor dem Massenansturm größer als das Mitleid mit den gepeinigten Menschen ist, kann (…) weder überhört noch übersehen werden. Dabei könnte man bei einigem guten Willen davon ausgehen, dass ein mehr oder weniger großer Teil der libyschen Flüchtlinge nach Deeskalation der Lage wieder in ihr eigenes Land zurückkehren oder wie schon bei vielen Balkan-Bürgern der Fall auf andere Kontinente weiterreisen würde.

Doch, wie gesagt, vorrangig ist dabei nicht der Wille, vorrangig ist der Widerwille. Es rächt sich nämlich zweierlei: das außenpolitisch dumme Spiel der Europäer mit dem kauzigen Diktator und das jammervolle innenpolitische Spiel vieler EU-Länder, das zwischen notwendiger, aber unorganisierter Zuwanderung und permanenter, zuweilen sogar ganz unverhohlener Angstmache vor jedem Ausländer schwankt.“

Anmerkung

(1) „Die Fackel der Befreiung“ ist  von den seßhaften Kulturen an „unbehauste, dezentrierte, exilische Energien“ weitergereicht worden, „deren Inkarnation der Migrant“ ist. So spricht z.B. der Exilpalästinenser Edward Said.

Für den Engländer Neal Ascherson sind es insbesondere die „Flüchtlinge, Gastarbeiter, Asylsucher und Obdachlosen“, die zu Subjekten der Geschichte geworden sind. Der polnische Künstler  Krzysztof Wodiczko zog daraus den Schluß: „Der Künstler muß als nomadischer Sophist in einer migranten Polis aufzutreten lernen“ – auf ihren neuen Agoren, den Plätzen, Märkten, Parks und Bahnhofshallen der großen Städte.  Ebenfalls an die urbane „intellektuelle Zirkulations“-Scene wandten sich die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari – mit einer  ganzen (mehrbändige) „Nomadologie“, deren Credo zuvor  Michel Foucault formuliert hatte: „Glaube daran, dass das Produktive nicht seßhaft, sondern nomadisch ist!“

Dieser positiven Sicht auf alle „Entsetzten“ – infolge der dritten industriellen Revolution – hält der selbst einst exilierte polnische Soziologe Zygmunt Baumann das  Elend der „Überflüssigen“ entgegen:  also das Schicksal all derer, die weltweit eine neue Existenzweise  suchen – und dabei jedoch nicht mehr wie noch vor 150 Jahren auf so genanntes „unterbesiedeltes Land“ auswandern können. Damals stellte der US-Präsident Theodore Roosevelt die Ausrottung der büffeljagenden Indianer durch diese meist aus Europa kommenden armen Siedler und Pioniere noch als einen „gerechten Krieg“ dar: „Dieser großartige Kontinent konnte nicht einfach als Jagdgebiet für elende Wilde erhalten werden“.

Aber auch im Innern Europas kam es immer wieder zur Verfolgung, Vertreibung und Ausrottung von Nomaden – vor allem der Zigeuner, aber auch der Juden, die von den Christen stets aufs Neue exiliert wurden. Erstere wurden in Osteuropa erst von den Kommunisten zur Seßhaftigkeit gezwungen und dann ab 1990 fast alle arbeitslos. Noch 2003 erhielt die Slowakei, wo besonders viele Sinti und  leben, bei ihrem EU-Beitritt die „strikte Anweisung“ aus Brüssel, „dafür Sorge zu tragen, dass das slowakische problem nicht zu dem werde, was es immer war, nämlich zu einer europäischen Angelegenheit. Der freie Verkehr von Waren und Personen, der einer der wichtigsten Gründe war, dass sich die EU überhaupt formierte, sollte denen erschwert werden, die diesen Verkehr in Europa seit Jahrhunderten praktizierten,“  schreibt der Salzburger Schriftsteller Karl-Markus Gauß.

Nach dem geglückten Weltraumflug von Juri Gagarin 1967 hatte noch der jüdische Philosoph Emanuel Lévinas gejubelt: Damit werde nun endgültig und weltweit das „Privileg der Verwurzelung und des Exils“ beseitigt. Das Gegenteil ist jedoch ebenso wahr (geworden): die einstige jüdische „Juxtaposition“  gilt nun für alle und jeden! Der Slawist Karl Schlögel spricht gar von einem „Planet der Nomaden“, wobei er jedoch noch schwankt, ob dies zu begrüßen ist.

Dazu zitiert er den gleich mehrfach exilierten jüdischen Philosophen Vilém Flusser: „Wir dürfen also von einer gegenwärtig hereinbrechenden Katastrophe sprechen, die  die Welt unbewohnbar macht, uns aus der Wohnung herausreisst und in Gefahren stürzt. Dasselbe lässt sich aber auch optimistischer sagen: Wir haben zehntausend Jahre lang gesessen, aber jetzt haben wir die Strafe abgesessen und werden ins Freie entlassen. Das ist die Katastrophe: dass wir jetzt frei sein müssen.“

Die Baden-Württembergische Polizei fährt schweres Gerät auf. Photo: all-in.de

Letzte Stuttgart-Meldung – von dpa:

„Die Polizei zählte bei der Kundgebung am Samstag in Stuttgart rund 15 000 Teilnehmer, die Veranstalter sprachen von mehr als 39 000 Menschen. Es sollte die vorletzte Großdemonstration vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 27. März gewesen sein. Auf dem Stuttgarter Marktplatz kamen fast gleichzeitig rund 300 Befürworter des geplanten unterirdischen Bahnhofs Stuttgart 21 zusammen. Die Veranstalter von der Interessengemeinschaft „Bürger für Stuttgart 21″ verzichteten allerdings auf eine Kundgebung.“

Die Süddeutsche Zeitung über einen demnächst erscheinenden Stuttgarter Regionalkrimi:

Heinrich Steinfest macht keinen Hehl daraus, wo er steht. Je mehr er sich mit dem Milliardenprojekt Stuttgart 21 befasste, desto schlimmer sei das Ganze geworden, erzählt der preisgekrönte Wiener Autor, der seit zwölf Jahren in Stuttgart lebt.

Mit der Zeit sei er selbst zum Bürgerexperten geworden und gegen den umstrittenen Tunnelbahnhof auf die Straße gegangen. Die realen Ereignisse rund um das Projekt literarisch zu verarbeiten, ist Ziel seines Kriminalromans «Wo die Löwen weinen».

Das Buch kommt an diesem Donnerstag auf den Markt – und ist damit beileibe nicht der erste Lesestoff für Wutbürger, aber vielleicht der ernsthafteste. «Dies ist ein Roman über das Vorhaben, eine Stadt zu ermorden», schreibt der Träger des Deutschen Krimi Preises und des Heimito-von-Doderer-Literaturpreises im Klappentext. Und: «Nie erschien mir die Form des Kriminalromans passender, zwingender, befreiender.»

Die Stuttgarter Nachrichten berichtet über die dortige ausgleichende Gerechtigkeit:

Der Streit um das Bahnprojekt Stuttgart21 ist auch für die Staatsanwaltschaft Stuttgart eine Herausforderung: Seit Beginn der großen Proteste im vorigen Sommer hat die Behörde bisher 1.494 Anzeigen und Ermittlungsverfahren mit dem Hintergrund Stuttgart21 erfasst.

Allein im Zusammenhang mit der Demonstration am 30.September im Schlossgarten mit einem Wasserwerfer-Einsatz der Polizei – dem sogenannten „schwarzen Donnerstag“ – liegen der Staatsanwaltschaft 380 Anzeigen gegen Polizeibeamte und Polizeiverantwortliche vor; wobei 341 Fälle unter Umständen strafrechtlich relevant sein könnten. Gegen 19 Beamte läuft bereits ein Ermittlungsverfahren.

Auf der Gegenseite liegen der Staatsanwaltschaft 121 Anzeigen gegen Demonstranten vor, woraus sich bisher 85 Ermittlungsverfahren wegen Widerstand, Körperverletzung oder Beleidigung ableiten. Davon sind aber erst 25 Demonstranten identifiziert.

Aus einem Vorort von Stuttgart kommt via mail noch der Vorschlag:

„Lest die „Einführung in den Bürgerkrieg“von Tiqqun, vielleicht seht ihr dann etwas klarer: http://tarnac9.noblogs.org/gallery/5188/einfuehrung in den buergerkrieg.pdf.

Zwar ist diesem Text ein Athenisches Gesetz von Solon vorangestellt, des Inhalts, dass sich im Falle eines Bürgerkriegs ein jeder der einen oder anderen Partei anzuschließen habe, ansonsten werde er mit Ehrlosigkeit geschlagen und verliert alle politischen Rechte, aber Solon selbst hat dieses sein Gesetz später als falsch kritisiert. Wahrscheinlich, weil es aus der Sicht eines  Regierenden hilfreich ist, wenn es zwischen den Kontrahenten eine breite Schicht Unentschlossener bzw. Neutraler gibt, die mäßigend auf die Bürgerkriegsparteien einwirken können.

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