vonHelmut Höge 28.02.2011

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Tahrir-Platz. „Unsere Führer sind die Fünfjährigen!“ Photo: haz.de

„Die Erhebung einer ganzen Gesellschaft hat den Bürgerkrieg erstickt“ (der nur ein anderes Wort für Klassenkampf ist). „In der Geschichte eines Volkes ist nichts bedeutsamer als die seltenen Augenblicke, in denen es sich erhebt, um ein nicht mehr erträgliches Regime zu stürzen. Erhebungen gehören zur Geschichte, aber in gewisser Weise entgehen sie der Geschichte. Für den Menschen, der sich erhebt, gibt es letztliche keine Erklärung. Weil Erhebungen gleichermaßen in der Geschichte und ‚außerhalb der Geschichte‘ stehen und weil es für alle um Leben und Tod geht, wird verständlich, warum sie ihren Ausdruck so oft in religiösen Formen finden. Einem Menschen, der sein Leben gegen eine Macht setzt, kann man keine Vorschriften machen.“ (Michel Foucault, „Kritik des Regierens“)

Es ist zum Kotzen: laufend melden die Nachrichtenagenturen, dass diese ganzen komischen deutschen Politiker  – Merkel, Wulff, Westerwelle, Guttenberg und wie sie alle heißen, hinzu kommen noch Obama, Putin und wer weiß wer noch, Gaddafi zum Einlenken, zum Frieden, zur Herausgabe allen Öls, zum Rücktritt und wer weiß was noch auffordern. Sie sind doch die nächsten, die abserviert werden…

Der Spiegel schickt heute wieder seinen seit 37 Jahren aus dem Nahen Osten berichtenden Korrespondenten vor – ein ebenso alter Politikersack, den die Redaktion anpreist wie saure Milch: „Er begleitete Sadat 1977 nach Jerusalem, er begleitete 1979 Chomeini nach Teheran“ usw.. Statt sich in den Dörfern, Universitäten und Betrieben umzukucken, mit den Leuten zu reden, hat er diese ganzen wichtigtuerischen Arschlöcher umschleimt.

Auch Michel Foucault flog nach Teheran und nach Qom – 1978. Anschließend schrieb er in der „Nouvel Observateur:

„Was wollen sie?“ die gegen den Schah, diese US-Marionette, revoltierenden Iraner? „Ich hütete mich, diese Frage Berufspolitikern zu stellen, sondern diskutierte sie lieber – zuweilen sehr ausführlich – mit Geistlichen, mit Studenten und mit Intellektuellen, die sich für die Probleme des Islam interessierten, oder auch mit jenen Guerillakämpfern, die den bewaffneten Kampf 1976 aufgegeben und beschlossen hatten, ihre Ziele auf andere Weise zu verfolgen, nämlich innerhalb der traditionalen Gesellschaft.“

Der Spiegel war einmal ein wichtiges linksliberales Nachrichtenmagazin, jetzt ist er nur noch ein albernes Infotainment-Medium, ebenso wie die ganzen Politiker, die er stets mit Wichtigkeit aufgeblasen hat. Sein o.e. Nahost-Korrespondent schreibt in seinem „Arabischen Tagebuch (II)“ heute am Schluß – nach allen möglichen nostalgischen Rückblicken auf seine schönen Begegnungen mit Nasser, Mubarak, Obama, Zewail („ein geeigneter Mann“) etc.:

„Die Revolutionäre des Jahres 2011 meiden jedoch bewusst die Nähe zu Washington…“ diesen Satz muß man zwei Mal lesen – wie verblödet kann so ein gutverdienender Charmeur aus dem Kairoer Café Riche (!) werden? Weiter heißt es: „Der beliebte private Fernsehkanal al-Haja hat diese Stimmung auf den Punkt gebracht: ‚Wir Araber machen unsere Revolution ohne fremde Hilfe und ohne fremdes Geld.“

Die darauffolgenden Spiegel-Artikelautoren haben daraufhin im Kaffesatz des Café Riche gelesen und damit die Frage zu beantworten versucht: „Zündet der Funke des Widerstands auch in Saudi-Arabien?“Es ist darin vom „Revolutionsvirus“ die Rede und davon, dass die jungen Saudis noch besser als die tunesischen und ägyptischen ausgebildet sind und fast fläckendeckend das Internet benutzen, deswegen empfinden sie die Restriktionen des saudischen Regimes als „besonders drückend“. Für den 11. März haben sie eine „Revolution der Sehnsucht“ angekündigt.

Ein weiterer Spiegel-Spökenkieker-Artikel stellt sich die Frage: „Von Weissrussland bis Kuba und Simbabwe fürchten Gewaltherrscher um ihre Zukunft. Wer stürzt als Nächster?“

Wie kann man nur so fixiert auf die ganzen Pappnasen an der vermeintlichen Macht sein?  Es geht doch um das Revolutionär-Werden von immer weiteren Teilen der Bevölkerung. Es ist dies die erste globale Revolution. Aber scheiß auf die „Revolutionen“ (die immer schrecklich enden) und scheiß auf die Pappnasen, irgendwelche Wichtigtuer finden sich immer, die partout „Verantwortung“ übernehmen  wollen, für was auch immer. In Ägypten hat auch gerade irgendein eitler Peinsack verkündet, er wolle Präsident des Landes werden, weil er nämlich so beliebt ist, wie irgendein Nachrichtensender meldet…

Reuters meldete Sonntag-Nacht:

„Zehn Tage nach dem Beginn des Volksaufstandes gegen den libyschen Machthaber Muammar Gaddafi haben Aufständische am Wochenende die wichtige Stadt Sawija eingenommen. Die Rebellen rechneten am Sonntagabend mit einem Angriff von Gaddafi-Anhängern. Der Staatschef verliert nach mehr als 40 Jahren an der Macht immer mehr die Kontrolle über das Land.

„Wenn wir für die Freiheit kämpfen, sind wir bereit, dafür zu sterben“, sagte ein früherer Polizeimajor in Sawija, der auf die Seite der Opposition wechselte. Nach Angaben der Rebellen umstellten etwa 2000 Gaddafi ergebene Soldaten die Stadt. Nach Worten des früheren Majors standen mehr als 2000 übergelaufene Polizisten bereit, die Stadt zu verteidigen. Die Aufständischen verfügten über Panzer und Flugabwehrgeschosse. Sawija befindet sich etwa 50 Kilometer westlich von Tripolis. Bewohner der Hauptstadt besetzten in manchen Teilen Barrikaden. Auch dort schwindet die Macht Gaddafis.

In Sawija berichteten Einwohner von erbitterten Kämpfen mit schweren Waffen. Ein Mann sagte, Gaddafis Anhänger hätten Panzerfäuste eingesetzt. Die Behörden ließen eine Gruppe ausländischer Journalisten in die Stadt, offenbar um zu zeigen, dass die Regierung noch immer die Kontrolle hat. Bei dem Besuch zeigte sich jedoch, dass die Rebellen die Macht haben. Auch der Osten des Landes ist weitgehend unter ihrer Kontrolle. Dort gab es Bestrebungen von Rebellen, mit einer Stimme zu sprechen. Sie gründeten in Benghasi einen Nationalen Libyschen Rat.

Zahlreiche Menschen verlassen unterdessen das Land. Etwa 100.000 flohen nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge in der vergangenen Woche. Hauptziele waren Tunesien und Ägypten, wo die Unruhen ihren begannen.“

Ansonsten meldet auch Reuters lang und breit, was alle möglichen Ausländer (Politiker) dazu sagen, androhen, etc. Kann man diese ganzen ölbesorgten Arschlöcher nicht einfach ignorieren? Die arabischen Aufständischen sind gerade dabei, das leninistische Revolutionsmodell zu überwinden. Da braucht es keine bescheuerten Statements von Wichtigtuern aus dem Westen, sie erklären nichts, sie verstehen nichts, sie wollen nur die Zeit zurückdrehen, um wieder zum „business as usual“ zurückzukehren.

AFP meldet Sonntag-Nacht:

„Auch im Westen Libyens haben Regierungsgegner nach eigenen Angaben inzwischen mehrere Städte unter ihre Kontrolle gebracht. Das Mitglied eines Revolutionskomitees in der Stadt Nalut, rund 240 Kilometer westlich der Hauptstadt Tripolis, sagte einem AFP-Reporter am Sonntag, die Stadt sei bereits am 19. Februar von Anhängern des Machthabers Muammar el Gaddafi befreit worden.

Das Komitee-Mitglied Schaban Abu Sitta nannte neun weitere Städte, aus denen Gaddafi-treue Sicherheitskräfte bereits abgezogen seien. „In all diesen Städten sind die Kräfte Gaddafis abgezogen, und ein Revolutionskomitee wurde eingesetzt“, sagte Abu Sitta. Die Komitees hätten sich unter die Führung der Übergangsregierung von Bengasi gestellt, die der ehemalige Justizminister Mustafa Abdel Dschalil ausgerufen hatte.

Nun würden überall die Kräfte für einen Marsch auf Tripolis gesammelt, „um die Hauptstadt vom Joch Gaddafis zu befreien“, sagte Abu Sitta. Die östliche Hafenstadt Bengasi, die zweitgrößte Stadt Libyens, war bereits bald nach Beginn des Volksaufstandes gegen Gaddafi vor knapp zwei Wochen unter die Kontrolle der Regierungsgegner gefallen.“

Am Sonntag Nachmittag gab AFP folgenden Aufstands-Überblick:

„In Nordafrika und im Nahen Osten haben am Wochenende erneut tausende Menschen gegen autoritäre Führer und soziale Missstände protestiert. In Tunesien, wo die Proteste im Dezember begonnen hatten, trat am Sonntag der Chef der Übergangsregierung, Mohammed Ghannouchi, nach Straßenschlachten mit drei Toten zurück. In Libyen klammerte sich Muammar el Gaddafi trotz UN-Sanktionen und Rücktrittsforderungen weiter an die Macht.

Er werde das Amt des Ministerpräsidenten niederlegen, sagte Ghannouchi in Tunis. Er hatte schon unter dem am 14. Januar gestürzten langjährigen Staatschef Zine El Abidine Ben Ali als Regierungschef gedient und danach den Vorsitz der Übergangsregierung übernommen. Zumeist junge Demonstranten hatten sich am Samstag und Sonntag Straßenschlachten mit der Polizei geliefert und Parolen gegen die Übergangsregierung gerufen. Die Polizei setzte Tränengas ein, nach Angaben des Innenministeriums starben drei Menschen. Die von Ghannouchi angekündigten Reformen gehen den Demonstranten nicht weit genug.

Im Sultanat Oman tötete die Polizei am Sonntag zwei Demonstranten. Fünf weitere Menschen wurden durch Gummigeschosse verletzt, als in der Küstenstadt Sohar Demonstranten eine Polizeiwache zu stürmen versuchten. Wie Augenzeugen berichteten, hatten rund 250 Arbeitslose zuvor für Arbeitsplätze demonstriert.

Im Golfstaat Bahrain forderten am Samstag erneut tausende Oppositionsanhänger den Sturz von König Hamad bin Issa el Chalifa. Am Sonntag trat die schiitische Opposition im Parlament, El Wefak, geschlossen zurück.

In Saudi-Arabien forderten mehr als hundert Intellektuelle in einem Appell im Internet politische, wirtschaftliche und soziale Reformen, Gewaltenteilung sowie die Schaffung einer konstitutionellen Monarchie. Unter anderem solle Frauen das Recht auf Arbeit, Bildung, Eigentum und Teilnahme am öffentlichen Leben zugestanden werden.

In der algerischen Hauptstadt Algier verhinderten Sicherheitskräfte Proteste von Regierungsgegnern. Wie ein AFP-Journalist berichtete, wurden die Demonstranten nicht zum Märtyrer-Platz durchgelassen, auf dem sie sich am Samstag zu einer Kundgebung versammeln wollten. Hunderte Polizisten versperrten die Zugänge zum Platz und drängten die Demonstranten ab.

In Ägypten entschuldigte sich die Armeeführung für das gewaltsame Vorgehen von Militärpolizisten, nachdem es in der Nacht zum Samstag auf dem Kairoer Tahrir-Platz zu Zusammenstößen mit Demonstranten gekommen war, die den politischen Wandel in Ägypten feierten. Die Polizisten hatten Schlagstöcke und Elektroschocker gegen Demonstranten eingesetzt, um die Menge zu zerstreuen.

Im Jemen wurden bei heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei in der Stadt Aden mindestens vier Menschen getötet. Ein Augenzeuge sprach von „wahren Kriegsszenen“. Mehrere wichtige Stammesführer sagten sich mit zehntausenden ihrer Anhänger von Präsident Ali Abdallah Saleh los. Der umstrittene Staatschef bekräftigte seine Absicht, das „republikanische Regime“ bis zum „letzten Blutstropfen“ zu verteidigen.

Iraks Ministerpräsident Nuri el Maliki setzte seinen Ministern eine Frist von hundert Tagen, um eine Bilanz ihrer Arbeit zu ziehen. In zahlreichen Städten des Landes hatten zuvor tausende Menschen gegen Korruption, Arbeitslosigkeit und einen mangelhaften öffentlichen Dienst protestiert.“

Al Dschasira meldet heute morgen um 1 Uhr 15 auf seinem „Live Blog“:

„Our correspondent in Benghazi – who also covered the Egyptian revolution for Al Jazeera – tells us of the generous hospitality being offered to journalists by Libyans:

Often they simply give you food and tea and coffee for free, no questions asked. Hotel rooms were free up until today, when the volunteer management – most of the employees have fled or just stopped showing up -decided they needed to start charging. Everyone is excited to see foreign journalists around, and the atmosphere here is markedly less tense than Cairo, for instance. Men with AK-47s wave us through roadblocks instead of subjecting us to intense checks.“

In einer anderen Al Dschasira-Meldung heißt es:

Gaddafi hat in den vergangenen  Jahren gute Kontakte zu den neuen „Führern“ in  Südamerika aufgebaut – Chavez, Ortega, Morales, Castro usw.. Und diese kleinen zu spät gekommenen Lenins denken „strategisch“, dabei machen sie „strategische Fehler“: sie stehen wie ein Mann hinter den libyschen Irren – Gaddafi. Jetzt fangen sie natürlich an, sich von ihm zu distanzieren, aber zu spät: Ihr strategischer Fehler wird ihnen den Kopf kosten!

Wegen ihrer Kontakte zum alten tunesischen Regime ist jetzt die französische Außenministerin zurückgetreten. Das ist eine ähnliche Meldung wie –  in China ist ein Sack Reis umgefallen.

Apropos – „Die Zeit“ meldet heute:

„China fürchtet Proteste wie im arabischen Raum. Polizisten gehen hart gegen Demonstranten der „Jasmin-Revolution“ vor, der Regierungschef verspricht mehr Gerechtigkeit.“

Wieder wird wiedergegeben, was irgendein „Regierungschef“ sagt oder nicht sagt oder verspricht… Die Zeit dieser Sorte Unmenschen läuft ab, ebenso wie die der „Manager“. In bälde wird es keine „Manager“ mehr geben, nicht einmal mehr solche, die bloß vorgeben, ihre Familie „managen“ zu wollen. Die Menschen werden sich selbst „managen“!

Israel löst sich langsam aus seiner Schockstarre – und schlägt um sich:

Der Standard meldet:
„Nahost-Konflikt: Israel fliegt schwerste Angriffe auf Gaza seit 2009 -Nach Raketenangriff auf israelische Wüstenstadt“
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Latina Press meldet:
„Der Iran fördert den Terrorismus in Lateinamerika und im Nahen Osten. Dies gab der israelische Staatspräsident Schimon Peres in einem Interview bekannt.“
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Welt.de meldet:
Seekonflikt: Irans Kriegsschiffe im Suez-Kanal provozieren Israel.
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Das Handelsblatt fragt sich:
Der Nahe Osten brennt – Libyen, Oman, Kuwait und Jordanien – jetzt steht ganz Arabien in Flammen. Der Wandel zeigt Wirkung: Ägypten hat die Grenzen zum Gaza-Streifen geöffnet: Öffnen sich nun die Schleusen der Instabilität in ganz Nahost?
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Südtirol online berichtet aus Gaza:

Der Freiheitsfunke springt auf Gaza-Jugend über. Das F-Wort kommt wie aus einem Maschinengewehr geschossen. „Fick dich Hamas, Fick dich Israel, Fick dich Fatah, Fick dich Vereinte Nationen, Fick dich Flüchtlingshilfswerk und Fick dich USA“, heißt es in einem „Manifest für den Wandel“.

Der verbale Rundumschlag und die geballte Frustentladung sind derzeit ein Renner auf Computern im Gazastreifen. Mehr als 18.950 Mal ist die Seite „Gaza youth brakes out“ im sozialen Netzwerk Facebook bislang angeklickt worden. Die zentrale Botschaft dürfte auch die im Gazastreifen herrschende radikal-islamische Hamas-Organisation alarmieren: „Eine Revolution wächst innen in uns, eine immense Unzufriedenheit und Frustration, die uns zerstören wird, es sei denn wir finden einen Weg, diese Energie zu kanalisieren in etwas (…), das uns irgendeine Art von Hoffnung geben kann.“

Fünf junge Männer und drei Frauen aus dem Gazastreifen stecken hinter dem Projekt. Ihre Namen wollen sie vorsichtshalber nicht veröffentlicht wissen. Die radikal-islamische Hamas-Organisation herrscht im Gazastreifen nämlich mit eiserner Faust. Das Manifest klingt wie eine Abrechnung: „Hier in Gaza haben wir Angst, ins Gefängnis zu kommen, verhört, geschlagen, gefoltert, bombardiert, getötet zu werden. Wir haben Angst zu leben, weil jeder einzelne Schritt, den wir tun, wohl durchdacht sein muss.“ Der letzte Tropfen auf einen heißen Stein sei die Schließung des Scharek-Jugendzentrums in Gaza am 30. November 2010 gewesen, berichtet die Gruppe. Sicherheitskräfte der Hamas hätten dann am 5. Dezember noch eine Demonstration gegen die Entscheidung gewaltsam aufgelöst. 16 Freunde seien festgenommen worden.

In 21 Sprachen ist das Manifest bislang übersetzt worden, darunter auch in solch exotische wie Chinesisch. Die Gruppe hofft jetzt vor allem auch auf Unterstützung aus dem Ausland. Im arabischen Original kommt übrigens das F-Wort nicht vor. Die Übersetzung heißt eher: „Verderben über sie“ oder „zur Hölle mit ihnen“. Als „größtes Freiluftgefängnis der Welt“ wird der Gazastreifen oft von Menschenrechtsorganisationen beschrieben. Das kleine Palästinensergebiet mit seinen mehr als 1,5 Millionen Einwohnern ist praktisch von der Außenwelt abgeriegelt.

Acht von zehn Einwohnern gelten als arm. Seit die Hamas im Juni 2007 mit blutiger Gewalt die Macht übernommen hatte, sind die Grenzen nach Israel und Ägypten geschlossen. Wer reisen möchte, braucht eine Genehmigung und sollte in der Regel jünger als 16 oder älter als 35 Jahre alt sein.

Dies erklärt unter anderem, warum die junge Generation so aufmuckt.

„Wir sind wie Läuse zwischen zwei Nägeln, leben einen Alptraum in einem Alptraum, ohne Raum für Hoffnung, ohne Raum für Arbeit“, heißt es in der deutschsprachigen Übersetzung. „Wir sind krank und müde, ein beschissenes Leben zu leben, von Israel in einem Gefängnis gehalten, von der Hamas zusammengeschlagen und vom Rest der Welt komplett ignoriert zu werden“, gibt die Gruppe Einblick in ihr Gefühlsleben.

Dass die Gruppe einen heißen Tanz auf einem Vulkan vollführt, ist den Mitgliedern durchaus bewusst. Eine junge Frau bittet darum, weder ihr Alter noch andere persönliche Angaben zu nennen. Sie sei einfach eine Studentin, sagt sie. Die junge Frau hat eine Heidenangst, in einem der berüchtigten Gefängnisse zu landen. „Sie setzen jeden hinter Gittern, der protestiert oder demonstriert“, sagt sie.

Reuters meldet um 11 Uhr 35:

Libysche Rebellen haben ein Kampflugzeug der Luftwaffe abgeschossen und die Besatzung gefangengenommen, wie ein Augenzeuge am Montag berichtete. Das Flugzeug habe eine Rundfunkstation bei Misrata beschossen.

Nahe der 200 Kilometer östlich der Hauptstadt Tripolis gelegenen Stadt kommt es nach wie vor zu Kämpfen zwischen den Rebellen und loyal zu Machthaber Muammar Gaddafi stehenden Truppen. Die Gefechte konzentrierten sich auf einen Militärstützpunkt, der teilweise noch von den Gaddafi-Truppen gehalten werde, sagte der Augenzeuge der Nachrichtenagentur Reuters. Das Munitionsdepot des Stützpunktes sei aber in den Händen der Rebellen, ebenso wie die Stadt selbst und der Flughafen.

Epd berichtet:

Die im Süden Libyens lebende ethnische Gruppe der Tuareg verlangt ein Ende ihrer Diskriminierung und mehr Mitsprache bei der Öl- und Erdgasförderung auf ihrem Land. „Seit Beginn vergangener Woche fordern Tuareg in mehreren Demonstrationen in den Städten Ubari und Ghat den Rücktritt Gaddafis“, sagte der Afrikareferent der Gesellschaft für bedrohte Völker, Ulrich Delius, am Montag in Göttingen. Rund ein Drittel der Erdöl- und Erdgasproduktion Libyens stamme aus den Tuareg-Regionen.

Die Ureinwohner beklagten, dass sie zwar unter den ökologischen Folgen der Ölproduktion litten, jedoch nicht an den Profiten beteiligt würden, obwohl die Rohstoffe unter ihrem Land lägen. „Statt den Dialog zu suchen, schickt Gaddafi Geheimdienstmitarbeiter, die die Ureinwohner einschüchterten und bedrohten“, sagte Delius.

Seit Jahren klagen die Tuareg nach Angaben der Menschenrechtler über ihre Verelendung und verlangen einen finanziellen Anteil an den Öleinnahmen des Staates sowie die Anerkennung ihrer Kultur und Tradition. Staatsoberhaupt Muammar al-Gaddafi leugne jedoch systematisch ihre Existenz. Im Murzuk-Becken im Süden Libyens leben den Angaben zufolge mehr als 10.000 Tuareg in festen Siedlungen.

IPS-Inter Press Service meldet:

„In Libyen baut der internationale Bau- und Anlagenkonzern SNC-Lavalin mit Sitz in Montréal ein hochmodernes Zentralgefängnis. Nach Angaben kanadischer Medien wie CBC, ‚Globe and Mail‘ und ‚The Gazette‘ hatte die Regierung von Muammar al-Gaddafi das Projekt im Wert von 275 Millionen US-Dollar im vergangenen Herbst in Auftrag gegeben.

In Québec City kritisierte Amir Khadir, der im Provinzparlament die Linkspartei ‚Québec solidaire‘ (QS) vertritt, die Zusammenarbeit von SNC-Lavalin mit Libyen und forderte die sofortige Annullierung des Auftrags. „Schließlich hat der Wunsch nach Freiheit in Libyen viele Menschen ins Gefängnis gebracht“, erklärte der Abgeordnete.“

Spiegel online berichtete heute Nachmittag  aus Oman:

Die Protestwelle in der arabischen Welt droht nun auch Oman zu erfassen. In dem Sultanat kamen offenbar mehrere Menschen bei Demonstrationen ums Leben – Protestierende halten die Zufahrtsstraßen zum Hafen in Sohar besetzt.

Sohar – In Oman schwellen die Demonstrationen für politische Reformen offenbar zu einem gewaltsamen Protest an. Die Zahl der Toten sei auf sechs gestiegen, sagte ein Notarzt des staatlichen Krankenhauses in der wichtigen Industriestadt Sohar am Montag. Der Gesundheitsminister sprach hingegen von einem Toten. Etwa Tausend Demonstranten blockierten am Montagmorgen die Straßen zum Hafen und der Raffinerie der Stadt. Ein Supermarkt wurde geplündert und anschließend in Brand gesetzt. Soldaten patrouillierten zwar in der Stadt, griffen aber nicht ein, berichteten Beobachter.

Am Sonntag waren bei Protesten in Sohar Augenzeugen zufolge zwei Menschen ums Leben gekommen. Die Polizei setzte demnach Tränengas sowie Schlagstöcke ein, feuerte Gummigeschosse in die Menge. Dabei habe sie zwei Menschen getötet und einen weiteren schwer verletzt. Die Demonstranten hätten mit Steinen geworfen und Regierungsgebäude und Autos in Brand gesetzt. Das Militär sei eingerückt, um den Ort zu sichern, berichteten mehrere Zeugen.Etwa 2000 Demonstranten fanden sich den Angaben zufolge den zweiten Tag in Folge in Sohar ein. In den Tagen zuvor hatten sich nur wenige hundert Protestierende in der Hauptstadt Maskat versammelt und Arbeitsplätze und friedliche Reformen gefordert. Auch aus der südlichen Stadt Salalah wurden Proteste gemeldet.

Oman ist ein Sultanat am Arabischen Meer mit 2,6 Millionen Einwohnern. Sultan Kabus Ibn Saïd herrscht seit rund 40 Jahren mit absoluter Macht über das Land. Parteien sind verboten. Das Land ist ein Ölexporteur und unterhält enge militärisch und politische Verbindungen zu den USA, ist aber nicht Mitglied der Opec. Eine offizielle Arbeitslosenquote gibt es in Oman nicht. Der US-Geheimdienst CIA schätzte sie 2004 auf etwa 15 Prozent.

Letzte Meldung gestern von der AP-Korrespondentin aus Ägypten:

„Aus Protest gegen Korruption unter den Behörden blockierten Dorfbewohner im Süden Ägyptens Augenzeugenberichten zufolge vorübergehend die Fernstraße von Assiut nach Kairo mit brennenden Reifen. Außerdem setzten sie am Sonntag in der Provinz Assiut drei Regierungsgebäude in Brand. 2.000 öffentliche Bedienstete traten in einen Streik für bessere Lebensbedingungen. Ihrer Ansicht nach verteilen die Vorgesetzten Sozialleistungen ungerecht.“

Indymedia meldete gestern:

„Am Samstag fanden sich in Berlin vor dem Roten Rathaus ab 13 Uhr mehrere hundert Personen zur Solidemo für den Freiheitskampf der libyschen Bevölkerung ein. Auf vielen Transparenten und Plakaten wurden die blutigen Repressionen des Gaddafi-Regimes aber auch die Heuchelei von EU und den USA angeprangert. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, daß ein freies Libyen wie auch die anderen nordafrikanischen Regionen, die ihre Herrschenden zum Teufel gejagt haben bzw. noch dabei sind, zwar gerne Hilfe von außen annehme und brauche aber keine Bevormundung wolle, die letztlich nur wieder Abhängigkeit von den eher zweifelhaften westlichen „Demokratien“ bedeuten würde.“

Abschließend noch eine Witzmeldung aus der Hauptstadt des Stillstands:

„Über Facebook kam das Signal zur ersten Anti-Guttenberg-Demonstration. Am Samstag gegen ein Uhr wollte man sich am Potsdamer Platz in Berlin treffen. Im Aufruf hieß es: “Die Zustände der Politik in Deutschland verkommen ins Unerträgliche. Die BILD-Leser wollen einen adligen Blenderkönig haben. Wenn wir uns das gefallen lassen, wenn ein Minister in Deutschland mit so einem Monsterplagiat durchkommen kann ohne zurückzutreten, ist es bald vorbei mit Wissenschaft und Politik in Deutschland. Schicken wir Guttenberg zurück auf sein Schloss, zeigen wir dem Lügenbaron den Schuh!” Und trotz der kurzen Mobilsierungszeit kamen gut tausend Menschen.

Jeder zweite Teilnehmer der Demonstration trug alte Schuhe in der Hand: Offenkundig hatte man von den Leuten in Ägypten und Tunesien gelernt. Auf dem Weg zum Verteidigungsministerium skandierte die Menge flotte Sprüche: “Schickt den Gutti heim zu Mutti” und “Jagt ihn davon, den Lügenbaron”, gehörte zu den populärsten. Keine Partei, keine der gewohnten Organisationen hatte die spontane Aktion in Bewegung gesetzt. Selbstgebastelte Transparente beherrschten das Bild: Von “Gut-Beye-Gutti” bis “Gaddafi und Gutti – wir kriegen Euch alle” war eine hübsche Breite an Slogans vertreten. Primär jüngere Menschen waren dem Aufruf gefolgt. Unter den älteren befand sich auch Klaus Staeck, der Präsident der Akademie der Künste.

Nach ein paar kräftigen Sprechchören verlangte der Mann am Megaphon den sofortigen Rücktritt des Ministers und gab ihm eine Woche Zeit: “Sonst ist der nächste Samstag unser Tag des Zorns! Dann kommen wir wieder!” Dann gab es noch gute Musik und die Aktion tanzte sich warm. Man darf auf den nächsten Samstag gespannt sein: Gegen eins, am Potsdamer Platz, alte Verkehrsampel. Wenn der Lügenbaron nicht bis dahin zurückgetreten ist.“ („readers-edition.de)

Der Kairo-Virus hat jetzt anscheinend schon die ganze deutsche „akademische Klasse“ erwischt. Spiegel online meldet heute:

Muss Verteidigungsminister Guttenberg doch noch zurücktreten? Der Aufstand der akademischen Klasse wird für den CSU-Mann zur ernsten Gefahr.  Die wissenschaftliche Elite kann nicht hinnehmen, dass ihr eigenes Ansehen durch einen Schummel-Doktor ramponiert wird.

Und noch ein Berlin-Witz:

Auf der Internetplattform der Islamismus-Bekämpfer und Klimaerwärmungs-Leugner „Achse des Guten“ heißt es: „Auf dem Tahrir-Platz von Kairo schwindet das Zeitalter der westlichen Hegemonie,“ es wird jedoch in dem Text nicht klar, ob diese komischen Heinis das jetzt begrüßen oder bedauern. „Wir lassen das jetzt einfach mal so stehen,“ haben sie sich wahrscheinlich gesagt.

Angeblich sind die Ägypter noch berühmter für ihren Witz als die Berliner. „Die Welt“ bat den Kairoer Schriftsteller Khaled al-Khamissi, ihnen ein paar zu schuicken, z.B. den mit dem „Revolutionsvirus“, der noch vor dem Regierungsrücktritt erzählt wurde: „Eilbeschluss: Der tunesische Botschafter wird des Landes verwiesen, und kein Tunesier darf ägyptisches Hoheitsgebiet betreten, damit die Ausbreitung der Seuche verhindert wird.“

Die Süddeutsche Zeitung rezensiert heute Stephan Bierlings „Geschichte des Irakkriegs“, darin heißt es, der Autor legt die „Ruchlosigkeit“ dar, mit der George Bush und seine Schweinebande das Land überfielen – ohne Grund, die CIA wurde angewiesen, „ihre Berichte den Entschlüssen des Weißen Hauses anzupassen.“ Ganz schön US-kritisch plötzlich – die SZ. Der Iraküberfall der USA kostete bisher 1.213.000 Menschen das Leben, wird außerdem noch vermeldet. Der SZ-Korrespondent Avenarius hat sich derweil bis nach Benghasi durchgeschlagen, das seine Befreiung feiert – „aber wie lange? In Libyen selbst ist noch nichts entschieden.“ Im SZ-Feuilleton wird dialektisch argumentiert: Wenn die USA, Frankreich oder England  es sich einfallen lassen, die aufständischen Araber zu unterstützen – dann kompromittieren sie diese „heillos“. Und das würde wiederum dem „fundamentalistischen Islam“ nützen. „Bin Ladens Vize stachelt Ägypter und Tunesier zu weiteren Unruhen an“, meldet dazu passend AP um 10 Uhr 26.

Ihr „Gambit“-Szenario hat die SZ mit einem riesigen Bild von „Lawrence von Arabien“ illustriert, allerdings mit dem Hollywoodfilm-Lawrence, der auf dem Photo von einem ägyptischen Hollywoodstar fragend von unten herauf angekuckt wird.


Die FAZ vermeldet heute, dass der deutsche Bundespräsident plant, eine Rede an die arabische Jugend zu halten. Kein Witz! Das will dieser Idiot tatsächlich. Dabei könnte er noch nicht einmal eine Rede an die Hannoveraner Jugend halten – ohne sich lächerlich zu machen, aber vielleicht sind die arabischen ja ausländischen Wichtigtuern gegenüber höflicher… Im FAZ-Feuilleton wird das Fehlen von „Führerfiguren“ in der libyschen Revolution beklagt, waslaut FAZ  daran liegen könnte, dass „Gaddafi und sein Clan“ alle in frage kommenden „systematisch“ inhaftiert haben. Vielleicht will der deutsche Bundespräsident in diese schmerzliche Lücke springen? „In Tunesien hat sich derweil ein neuer Regierungschef gefunden,“ meldet die FAZ auf Seite 1: die Alphamännchenseinwoller sterben anscheinend nie aus. Irgendein Dummer findet sich immer, der in so eine Leerstelle springt, nachdem er seine Frau und seine (erwachsenen) Kinder gefragt hat, ob er das auch wirklich tun – wagen – soll.

Mein Zorn über die bisherige Berichterstattung zum arabischen Aufstand hat vor allem damit zu tun, dass primär irgendwelche Westpolitiker-Statements gemeldet werden und das Interesse der Westkorrespondenten an der sich ausbreitenden Revolution sich vor allem um die bange Frage dreht, inwieweit sie islamisch beeinflußt wird. Nur ganz selten wird das zentrale Problem dieser Revolution gestreift, wo und wie sie sich organisiert: „Die Erhebung einer ganzen Gesellschaft“ (s.o.), zumal wenn sie über den bürgerlich-politischen und religiösen Moment hinausgeht,  ist nicht zu verstehen ohne ihre Selbstorganisation.

Der taz-Kairo-Korrespondent Karim El-Gawhary, der sich zur Zeit in der libyschen Stadt Tobruk befindet, hat darauf heute löblicherweise abgezielt in seinem Bericht „Es gibt kein Zurück mehr“:

Das Transparent auf dem Minarett der zentralen Freitagsmoschee lässt keine Zweifel daran, wer in der ostlibyschen Stadt Tobruk den Ton angibt. „Gaddafi, du Schlächter, hau ab!“, heißt es dort kurz und bündig. Auch dass der angrenzende Platz nicht mehr „Platz der Massen“ heißt, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Zeit von Gaddafis „Republik der Volksmassen“ zumindest in dieser östlichsten Stadt des Landes, etwa 100 Kilometer von der ägyptischen Grenze entfernt, abgelaufen ist. Der Platz ist in „Platz der Märtyrer“ umbenannt worden – „Märtyrer“, weil bei der Demonstration vor einer Woche, die zur Vertreibung der Schergen des Regimes geführt hat, von der Polizeistation auf der anderen Seite des Platzes in die Menge gefeuert wurde und vier Menschen starben. Kein besonders hoher Preis der Freiheit der 120.000 Einwohner zählenden Stadt, verglichen mit dem, was sich derzeit im Westen des Landes ereignet, wo Gaddafi um sein Überleben kämpft.

Dass die Polizeiwache völlig ausgebrannt ist, zeugt davon, dass sich die Menschen nach der Schießerei nicht einschüchtern ließen. Sie sind nur kurz nach Hause gegangen, um ihre eigenen Waffen zu holen. „Ein paar Molotowcocktails, und das Gebäude stand in Flammen“, grinst der revolutionäre Fremdenführer Hajj Ali, ein alter Mann mit grauem Bart und einer elegant um den Kopf gebundenen Kufija im modischen Stil der lokalen Beduinenstämme.

Drinnen in der Polizeiwache liegen noch die verkohlten Akten herum. Vor allem eine winzige Zelle, kaum größer als drei Quadratmeter, mit einem Essnapf auf dem vollgepinkelten Boden, ist zur lokalen, wenngleich streng riechenden Sehenswürdigkeit geworden. Ein Mann kommt mit seinem etwa fünfjährigen Sohn vorbei, um ihm den Ort zu zeigen, wo zu Zeiten von Gaddafis Herrschaft Menschen eingesperrt wurden.

Draußen auf der Straße regieren jetzt die neuen Volkskomitees des befreiten Libyen. An diesem Mittag sitzen sie entspannt auf den Bänken des Platzes und wärmen sich in der Wintersonne. „Meine Eltern haben unter Gaddafi geheiratet. Ich habe unter Gaddafi meine Frau gefunden. Gott sei Dank werden meine Kinder nicht unter Gaddafi heiraten und deren Kinder im freien Libyen geboren werden“, sagt Khaled al-Marsi, der hier eine revolutionäre Straßensperre bewacht. Zeit hat er genug. Wie viele Menschen in der Region ist er seit Jahren arbeitslos. Auf die Frage, ob sie nicht Angst hätten, dass Gaddafis Truppen zurückkommen, rufen alle laut Nein und winken mit den Händen ab. „Es gibt kein Zurück mehr, auch wenn er uns alle durch den Fleischwolf dreht“, sagt ein anderer Mann an der Straßensperre.

Hajj Ali fährt zum nächsten Restaurant. Der Verkehr ist etwas chaotisch, keiner hält sich noch an irgendwelche Einbahnstraßenregelungen, sodass sich die Autos gegenseitig blockieren. Hajj Ali tritt auf die Bremse, die ganz beachtlich knirscht. „Eigentlich bräuchte ich neue Bremsbelege, aber seit der Revolution sind alle Werkstätten zu“, entschuldigt er sich. Im Restaurant al-Umda gibt es ganz ausgezeichnete Grillhähnchen. „Die Rechnung geht auf die Revolution“, meint der Restaurantbesitzer, eine Suppe und einen halben gegrillten Vogel später. „Journalisten essen hier umsonst, das haben die Volkskomitees beschlossen“, sagt er und verabschiedet sich mit einem „Empfehlen Sie mich an Ihre Kollegen.“

Zuvor hatte sich schon Khamis al-Magli zu einem Verdauungskaffee an den Tisch gesetzt. Er sei einer der Aktivisten der Revolution, stellt er sich vor. Mit seinem zerschmetterten Brillenglas sieht er etwas verwegen aus. Aber wo Autowerkstätten geschlossen sind, haben sicherlich auch Optiker nicht geöffnet. Khamis erklärt, wie die neuen Volkskomitees funktionieren. Angefangen habe das Ganze mit den Komitees, die zur Bewachung der Straße gebildet wurden. Schnell wurden weitere Komitees gegründet, um wichtige Einrichtungen wie Ölanlagen, aber auch Schulen und Krankenhäuser zu schützen. Dann musste das Leben neu organisiert werden. Eines der akuten Probleme ist: Tripolis zahlt im aufständischen Osten keine Beamtenlöhne mehr aus. „Jetzt kann jeder Beamter, der auf der Bank ein Konto hat, einen Kredit von 300 Euro bekommen, damit er mit seiner Familie erst einmal über die Runden kommt“, erzählt Khamis, sichtlich stolz auf die Beschlüsse der Volkskomitees.

Wer genau die Komitees anführt, bleibt undurchsichtig. „Leute mit einer guten Bildung“, erklärt Khamis. Da es in Libyen unter Gaddafi keine oppositionelle Organisationen gibt, ist es schwer vorstellbar, dass bestimmte politische Gruppierungen dahinterstecken. Eher ist die Struktur der Volkskomitees entlang von Stammeslinien organisiert, die in Libyen eine große Rolle spielen. Khamis streitet das nicht ab, legt aber Wert auf die Feststellung, dass die Stämme beschlossen hätten, in der Revolution im Osten zusammenzuarbeiten.

Ein paar Autominuten entfernt führt uns Khamis zur neuesten Errungenschaft der Volkskomitees: einer Ausgabestelle für kostenlose Grundnahrungsmittel. Dort drängeln sich die Menschen, alle halten ein grünes Heftchen hoch. „Das Familienbuch“, erklärt Khamis. Darin ist die Anzahl der Kinder vermerkt, und davon hängt ab, wie viel Mehl, Reis, Nudeln und Speiseöl der Familie ausgehändigt werden. „Das sind nicht die Beamten, sondern die freien Arbeiter, erklärt Khamis. Viele hätten seit den turbulenten Tagen der Revolution keine Arbeit und müssten versorgt werden. Die Grundnahrungsmittel seien Spenden aus Ägypten oder von bessergestellten Libyern, erläutert er. „In diesen Zeiten müssen sie alle zusammenhalten“, endet er und verabschiedet sich freundlich mit einem Witz. Sein Name „Khamis“ ist das arabische Wort für „Donnerstag“. Leider, sagt er, wird es bis nächsten Freitag dauern, bis das Land Gaddafi endlich ganz loswerden wird“, grinst er, um dann zu weiteren revolutionären Taten zu schreiten.

Die Menschen in Tobruk haben aber auch begonnen, Hilfe für andere zu organisieren. In einer großen Sporthalle am Rande der Stadt befindet sich ein Zentrallager. Hier werden gespendete Medikamente und Grundnahrungsmittel aus Ägypten gesammelt und in andere Städte des Landes weitergeleitet. Hischam Tayyeb koordiniert die Operation. Mit einem etwas übermüdeten Blick sitzt er vor drei Telefonen. „Wir haben in allen Städten Krisenstäbe eingerichtet“, erzählt er. „Die rufen an, wenn etwas zur Neige geht, und wir schicken es dann los“, erläutert er das einfache System. Leider könne nur der Osten des Landes beliefert werden. Ab dem Gebiet der Syrte ist Schluss. Dort kontrollieren noch Gaddafi und die Seinen das Geschehen. Die Ereignisse in den Städten, die jenseits davon liegen, wie die Hauptstadt Tripolis, in der Gaddafi um sein politisches Überleben kämpft, verfolgen die Libyer im Osten des Landes, genauso wie der Rest der Welt, im Fernseher. Es gibt in Tobruk kein Büro und kein Haus, in dem nicht den ganzen Tag die arabischen Fernsehsender al-Dschasira oder al-Arabia laufen. Auch der Hilfskoordinator Hischam Tayyeb diskutiert mit seinen Kollegen ständig über die neusten Horrormeldungen aus Tripolis und Umgebung. Sie alle sind davon überzeugt, dass das Ganze bald mit der Ermordung oder dem Selbstmord von Gaddafi enden wird.

Fremdenführer Hajj Ali fährt seinen Gast zurück ins Hotel. Hinter uns hupt jemand ungeduldig und ohne Unterlass, weil die Straße wieder einmal blockiert ist. „Jetzt hast du 41 Jahre gewartet, bis Gaddafi weg ist“, ruft Hajj Ali aus dem heruntergekurbelten Fenster, „da kommt es doch auf ein paar Minuten auch nicht mehr an.“

Tahrir-Platz. Photo: geheimnisse-des-himalaya.de

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