Frauen in der Revolution
Frankreich. Photo: renner-institut.at
Jetzt, da die libyschen Aufständischen schon fast das Regime beseitigt/besiegt haben, machen sich die Amis zum Eingreifen bereit, um zum Einen „ihre Ölversorgung“ sicher zu stellen und zum Anderen wieder Ruhe in der „Region“ – ihrer „Einflußzone“ – zu haben: „USA schließen Militäraktion nicht mehr aus,“ heißt es heute Mittag in den Tickermeldungen. Und in der Jungen Welt schreibt die Korrespondentin Karin Leukefeld: „Lybien droht Intervention“. In ihrem Artikel heißt es:
„Der bisherige Oberkommandierende der libyschen Spezialkräfte, General Fatih, wies ein Eingreifen europäischer oder US-Streitkräfte in seinem Land zurück. Wenn militärische Unterstützung von der Opposition gegen Ghaddafi gewünscht sein sollte, müsse diese das von einem befreundeten arabischen Land anfordern, sagte der General im Interview mit Al-Dschasira.“
Dazu gibt es einen JW-Kommentar von Sara Flounders, sie arbeitet im »International Action Center« in New York und ist Mitglied im Sekretariat der »Workers World Party«: „Libyen und der Imperialismus“:
Von allen Kämpfen, die gegenwärtig in Nordafrika und dem Nahen Osten ausgetragen werden, ist der in Libyen am schwierigsten zu entwirren. Welchen Charakter trägt die Opposition gegen das Regime Muammar Al-Ghaddafis, die, Berichten zufolge, Bengasi im Osten des Landes kontrolliert? Ist es nur ein Zufall, daß die Rebellion in Bengasi begann, einer Stadt, die nicht nur nördlich der reichsten Ölfelder Libyens liegt, sondern auch in der Nähe der meisten seiner Öl- und Gaspipelines, Raffinerien und seines Hafens für verflüssigtes Erdgas? Gibt es einen Plan, das Land zu teilen? Wie groß ist das Risiko einer imperialistischen Militärintervention, die die größte Gefahr für die Menschen der gesamten Region darstellen würde?
Libyen ist nicht Ägypten. Sein Führer, Muammar Al-Ghaddafi, war keine Marionette des Imperialismus wie Hosni Mubarak. Über viele Jahre war Ghaddafi Verbündeter von Ländern und Bewegungen, die den Imperialismus bekämpften. Als er in einem Militärputsch 1969 die Macht übernahm, nationalisierte er das libysche Öl und investierte einen Großteil des Geldes in die Entwicklung der libyschen Wirtschaft. Die Lebensbedingungen der Menschen verbesserten sich dramatisch. Deshalb waren die Imperialisten entschlossen, Libyen zu zermürben. 1986 bombardierte die US-Luftwaffe Tripolis und Bengasi und tötete 60 Menschen, darunter auch Ghaddafis kleine Tochter – aber das wird von den Konzernmedien gern verschwiegen. Die USA und die UNO verhängten verheerende Sanktionen, um die libysche Wirtschaft zu ruinieren.
Nachdem die USA im Jahr 2003 den Irak überfallen und mit massiven Bombardements – die sie triumphierend »Schockmethode« nannten – große Teile von Bagdad dem Erdboden gleich gemacht hatten, versuchte Ghaddafi, die Gefahr einer weiteren Aggression gegen Libyen abzuwehren, indem er den Imperialisten gegenüber große politische und wirtschaftliche Zugeständnisse machte. Er öffnete die Wirtschaft für ausländische Banken und Konzerne; er akzeptierte die Forderungen des IWF nach »Strukturanpassungen«, privatisierte viele Staatsbetriebe und reduzierte staatliche Subventionen für lebensnotwendige Güter wie Lebensmittel und Benzin. Das libysche Volk leidet unter den gleichen hohen Preisen und der Arbeitslosigkeit als Folge der weltweiten kapitalistischen Wirtschaftskrise, die auch ein Grund für die Rebellionen in anderen Ländern ist.
Zweifellos finden die Kämpfe für politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit, die die arabische Welt erfaßt haben, Anklang in Libyen. Zweifellos ist die Unzufriedenheit mit dem Ghaddafi-Regime die Motivation für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung. Progressive überall sollten jedoch wissen, daß viele, die vom Westen jetzt als Oppositionsführer gefördert werden, langjährige Agenten des Imperialismus sind. Am 22. Februar zeigte die BBC, wie Menschenmengen in Bengasi die grüne Fahne der Republik einholten und sie durch die Fahne des 1969 gestürzten Monarchen König Idris ersetzten. Idris war die Marionette des US-amerikanischen und britischen Imperialismus.
Die westlichen Medien stützen einen großen Teil ihrer Berichte auf vermeintliche Tatsachen, die ihnen von der Exilgruppe »National Front for the Salvation of Libya« geliefert werden. Diese Exilgruppe wurde vom CIA trainiert und finanziert. Man muß einfach den Namen der Organisation und das Kürzel des US-Geheimdienstes bei Google eingeben, um Hunderte Hinweise zu finden.
In seinem Leitartikel vom 23. Februar schrieb das Wall Street Journal, daß »die USA und Europa helfen sollten, das Ghaddafi-Regime zu stürzen«. In den Vorstandsbüros und Korridoren in Washington spricht jedoch niemand davon, in Kuwait, Saudi-Arabien oder Bahrain zu intervenieren, um die dortigen Diktatoren zu Fall bringen. Das ist undenkbar, trotz all der Lippenbekenntnisse für die Massenkämpfe, die gegenwärtig die Region erschüttern. In Ägypten und Tunesien versuchen die Imperialisten ihr Möglichstes, um die Massen von den Straßen wegzubekommen.
Keiner sprach von einer US-Intervention, um den Palästinensern in Gaza zu helfen, als Tausende von ihnen unter der Blockade, den Bomben und während der Invasion Israels starben. Im Gegenteil, die USA intervenierten, um eine Verurteilung des zionistischen Siedlerstaates zu verhindern.
Das Interesse des Imperialismus an Libyen ist leicht zu durchschauen. Bloomberg.com schrieb am 22. Februar, daß Libyen zwar nur der drittgrößte Erdöllieferant Afrikas sei, aber erwiesenermaßen die größten Reserven besitze – 44,3 Milliarden Barrel. Libyen hat eine zahlenmäßig relativ kleine Bevölkerung, aber das Potential für gigantische Profite für die großen Ölkonzerne. So sehen es die Superreichen, und das steckt hinter ihrer angeblichen Sorge um demokratische Rechte der libyschen Bevölkerung.
Ghaddafis Zugeständnisse sind den imperialistischen Ölbaronen nicht genug. Sie wollen eine Regierung, die sich ihnen vollständig unterwirft. Sie haben Ghaddafi den Sturz der Monarchie und die Verstaatlichung des Öls nie verziehen. In seinen »Reflexionen« schreibt Fidel Castro vom imperialistischen Hunger nach Öl und warnt davor, daß die USA dabei sind, die Grundlage für eine Militärintervention in Libyen zu schaffen.
In den USA versuchen einige Kräfte, auf der Straße für eine US-Intervention zu mobilisieren. Wir müssen uns dem mit aller Macht widersetzen und Wohlmeinende an die Millionen von Menschen erinnern, die im Irak und in Afghanistan durch die US-Interventionen den Tod fanden oder fliehen mußten. Progressive Menschen haben Sympathie mit dem, was sie als Volksbewegung in Libyen sehen. Wir können dieser Bewegung am besten helfen, indem wir ihre rechtmäßigen Forderungen unterstützen und gleichzeitig jede imperialistische Intervention verurteilen, egal in welcher Form sie daherkommt. Das libysche Volk muß über seine Zukunft selbst bestimmen können.
In einem 2. Kommentar von Werner Pirker heißt es:
Mit Ghaddafis Regime geht nicht nur für Libyen, sondern für die ganze arabische Welt eine Ära zu Ende. Der libysche Oberst ist der letzte Vertreter der arabischen Revolution der 1950er und 60er Jahre, die sich aus Militärrevolten gegen die überkommenen Feudalregime ergab und die Massen in ihren Bann zog. Die arabische Revolution 2011 geht von der Straße aus. Wohin sie geht, ist noch ungewiß. In Ägypten könnte sie von den Militärs kassiert werden. Und in Libyen gleich direkt unter westliche Vorherrschaft geraten.
Iran. Photo: iranische-frauenbewegung.blogspot.com
Außerdem veröffentlicht die JW erneut ein Interview mit Angelo del Boca, der ehemalige Partisan und Historiker beschäftigt sich mit dem italienischen Kolonialismus:
In Libyen überschlagen sich die Ereignisse. Der östliche Landesteil mit den Städten Bengasi, Al-Beida und Tobruk scheint in der Hand der Aufständischen zu sein. Die Zahl der Toten soll im dreistelligen Bereich liegen. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Das Land ist tatsächlich zweigeteilt, wobei die Revolte in der Cyrenaika vorhersehbar war. Es ist dort nicht das erste Mal. Innerhalb der letzten 15 Jahre handelt es sich mindestens um den dritten Aufstand. Die letzten Unruhen gab es 2006 wegen der antiislamischen Provokation des Lega-Nord-Politikers und Ministers für Vereinfachungen (der Gesetze) Roberto Calderoli. 1996 wurde nicht einmal die Anzahl der Toten und Verletzten bekannt, aber die Zahl der Verhafteten ging in die Tausende. Gegen die damalige islamistische Revolte wurden Heer, Luftwaffe und Marine eingesetzt. Den starken Einfluß der historischen, politisch-religiösen Senussi-Bruderschaft, an deren Spitze der am 1.September 1969 gestürzte König Idris I. stand, darf man nicht unterschätzen. Auch der sagenumwobene Nationalheld Omar Al-Mukhtar, der als »Löwe der Wüste« zehn Jahre lang den Widerstand gegen die italienischen Besatzer leitete, ist in der kollektiven Erinnerung noch immer lebendig.
Sind die Stunden von Oberst Muammar Al-Ghaddafi gezählt?
Nein, das denke ich nicht, auch weil die Familie Ghaddafi ebenfalls gespalten ist und sich das für den Machterhalt als sehr nützlich erweisen kann. Zum Lager der Hardliner zählt sein Sohn Khamis, der an der Spitze der Sicherheitsbataillone steht, die quasi die Prätorianergarde des Regimes bilden, sowie Motassem, der ebenfalls zur Armee gehört, und auf der anderen Seite haben wir Saif Al-Islam, von dem wir wissen, daß er der einzige ist, der in dieser Situation Informationen über die Ereignisse weitergibt und in den letzten Monaten dafür gesorgt hat, daß Hunderte aus Bengasi stammende, islamische Fundamentalisten freigelassen wurden, nachdem sie sich reumütig gezeigt und der Gewalt abgeschworen hatten.
Was unterscheidet das Geschehen in Libyen von dem in Tunesien und Ägypten?
Unterschiede gibt es zweifellos auf der ökonomischen Ebene, da Libyen, dank des Erdöls, über ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen verfügt, das mit 12020 Dollar fast die europäischen Standards erreicht. Es ist mehr als viermal so hoch wie in Tunesien und beträgt das Sechsfache des ägyptischen. Hinzugefügt werden muß, daß in Libyen Preisobergrenzen für Güter des Grundbedarfs gelten und diese in den letzten Tagen noch weiter gesenkt wurden.
Wo liegen die Gemeinsamkeiten?
Trotz der regional relativ guten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die die anderen Maghrebiner nicht haben, leiden auch die Libyer unter der Last einer mittlerweile mehr als vierzig Jahre dauernden Diktatur.
Wie beurteilen Sie die Übergangsprozesse in Ägypten und Tunesien?
Dort zeigt sich, daß der Demokratisierungsprozeß keineswegs linear verläuft und die Ergebnisse nicht von vornherein klar sind. In Kairo liegt die Macht in den Händen der Streitkräfte, die das Parlament aufgelöst und die Verfassung »eingefroren« haben. Sicher, sie haben versprochen, auf die Opposition zuzugehen und die Abhaltung eines Verfassungsreferendums zugesichert. Es bleibt allerdings eine Tatsache, daß es sich im Moment um einen Militärputsch handelt. Genauso klar ist, daß die Straßenproteste nicht aufhören und neben Lohnerhöhungen auch weiterhin demokratische Garantien gefordert werden. Vor allem wollen die Oppositionskräfte nicht ihre 18tägige Revolte vergeuden, die zum Sturz des dreißigjährigen Mubarak-Regimes geführt hat. Es besteht die Angst, daß ihre Revolution verraten wird.
Und in Tunesien?
Da liegen die Dinge ein bißchen anders. In Tunesien gibt es eine Regierung, zwar nur eine provisorische, aber sie existiert. Es herrscht jedoch auch viel Konfusion, was dazu führt, daß viele Tunesier versuchen, übers Meer nach Italien und damit in die EU zu gelangen.
Welche Rolle spielt Europa in diesem Zusammenhang und was sollte es Ihrer Meinung nach tun?
Nirgendwo berichtet jemand konkret, wie die Aufständischen nun, wo auch immer, ihre Selbstorganisation bewerkstelligen und was sie dabei in Angriff nehmen. Die Linke ist hierzulande noch immer in ihre Privatheiten verstrickt, sie hat ja auch diesbezüglich einige Jahre verloren. Enttäuschend vor allem die „konkret“, der nur die immer selbe Litanei über die Gefahren, die aus Arabien vom radikalen Islamismus ausgehen, einfällt, auch noch in ihrem März-Heft, das wieder voller Sorge um Israel kreist. Gibt es überhaupt noch sogenannte Altlinke, die sich für die Revolution, den Aufstand begeistern können? Oder interessieren die sich auch nur noch als idiotische Realvernünftler für Kinder, Kegel, Datsche, Biogemüse und intelligente Politiker, die dort in demokratischen Wahlen jetzt an die Macht kommen und gefälligst alle alten bilateralen Verträge bestätigen sollen?
Zur Erinnerung – ein Artikel aus der heutigen JW:
Während des algerischen Befreiungskrieges, und erst recht während des Vietnamkrieges, setzte sich die westeuropäische Linke engagiert für politische Flüchtlinge ein, der SDS z.B. half desertierten US-Soldaten, meist Schwarze, zur Flucht ins sichere Asyl nach Schweden. Der Elan ließ nach, als man meinte, es mit immer mehr „Wirtschaftsflüchtlingen“ zu tun zu haben. Dafür versuchten Aktionsgruppen, wie die Kreuzberger Gemeinde von Pastor Quandt, immer entschiedener die Abschiebung von Asylanten zu verhindern, vor allem nachdem einige der abgelehnten Asylbewerber dabei zu Tode gekommen waren.
Mit der Auflösung der Sowjetunion kamen Flüchtlinge nicht mehr nur aus dem Süden, aus Bürgerkriegsgebieten, sondern auch aus Osteuropa. Während die westeuropäischen Staaten nach der Wende ihre Grenzsicherungsanlagen mit Hightech perfektionierten und Abschiebeverträge mit befreundeten Regimen z.B. im Nahen Osten aushandelten, geriet der davon betroffene „Migrant“ in den Fokus der Künstler und Kulturwissenschaftler. Die „Migrationsforschung“ konnte Drittmittel in bis dahin unbekannter Höhe aquirieren, die autonome Antifa-Jugend organisierte „Grenzcamps“, Menschenrechtler setzten sich in Brüssel für die Grenzbefreiung von Sinti und Roma ein, und es gründete sich ein „Bundesverband Schleppen & Schleusen“ – zur Entkriminalisierung der Schlepperbanden, die von außen versuchten, die EU-Grenzen für ihre Kunden zu überwinden. (1)
Während des algerischen Bürgerkriegs, d.h. nachdem die militanten Islamisten in den Neunzigerjahren einen Guerillakampf begonnen hatten, veröffentlichte eine algerische Lehrerin in der Zeitschrift „Die Aktion“ einen Artikel: Die oft gerade gegen Frauen furchtbare Verbrechen verübenden Islamisten, so schrieb sie, wären in der Mehrzahl arbeits- und hoffnungslose Jugendliche gewesen. Früher konnten sie nach Frankreich emigrieren, aber seitdem das nicht mehr geht, fühlen sie sich wie in einem Gefängnis.
In den letzten Jahren kommen die diesbezüglich beunruhigsten Nachrichten aus Ciudad Juarez – der mexikanischen Industriestadt direkt am Grenzzaun zur USA, wo seit 1993 über 500 Frauen -meist Arbeiterinnen – ermordet wurden. Auch hierbei versuchen jede Menge Sozialwissenschaftler und südamerikanische Feministinnen das „Phänomen“ zu verstehen. Die kirchlichen Hilfsstellen für Migranten, die versuchen, über die Grenze in die USA zu gelangen, sprechen von einer regelrechten Schwarmbildung, einer Jugend-„Mode“, die auch in Venezuela noch die Jugend erfaßt.
Wenn man will, kann man nun, da wohl in all den vom arabischen Aufstand betroffenen Ländern sich Flüchtlingstrecks nach „Europa“ bilden, von einem Übergreifen dieser lateinamerikanischen Elends-„Wanderung nach Norden“ sprechen. Den Anfang machten die tunesischen „Bootsflüchtlinge“, die auf Lampedusa landeten, ihnen folgten Ägypter. Und nun bangt Europa – laut dpa, dass es von „libyschen Flüchtlingen“ überflutet wird. „Die Zeit“ fragte zu Recht: „Was heißt hier Fluten?“ Alle EU-Politiker tönen, den arabischen Ländern helfen zu wollen, aber bei 300 „Boatpeople“ wähnen sie sich bereits von islamisch fanatisierten Arabern überrannt. Italien forderte als erstes die Grenzschutzagentur Frontex, um den „Flüchtlingsstrom zu stoppen“, wie der Tagesspiegel schreibt. „Die EU-Küstenwacht soll Flüchtlingsboote abfangen, zurückschicken und so zur Abschreckung beitragen. Hubschrauber, Überwachungsflugzeuge, Schnellboote, Wärmebildkameras – mit diesen Waffen bekämpft die Frontex-Küstenwacht die illegale Einwanderung im Mittelmeer und im Atlantik. Aus polizeilicher Sicht ist ihre Arbeit ziemlich erfolgreich“: In vier Jahren ging die Zahl der afrikanischen „Bootsmigranten“, die es schafften, durchzukommen, von 32.000 auf 200 zurück.
Die sich jetzt aus den Aufstandsgebieten im Nahen Osten und im Maghreb aufs EU-Territorium Flüchtenden haben meistens schon lange auf diesen „Kairos“ – den richtigen Augenblick – gewartet. Und da die Weltpresse sich gerade auf diese Region stürzt, glaubt ihnen nun jeder, dass sie vor dem Bürgerkrieg geflohen sind. Bei der Ausländerpolizei ist man quasi verpflichtet, das angestrengt zu bezweifeln. Der CDU-Bundesinnenminister Thomas de Maizière lehnt eine Aufnahme tunesischer Flüchtlinge in Deutschland strikt ab: „Wir können nicht die Probleme der ganzen Welt lösen.“ Er fügte hinzu: „Wenn es einen Grund gibt, Tunesien nicht mehr zu verlassen, dann jetzt, wo dort eine Demokratie aufgebaut wird. Jeder Tunesier ist gefordert, das neue demokratische Tunesien mit aufzubauen.“ Es klang wie: „Jeder Tunesier wird hiermit aufgefordert!“
Dem gegenüber stehen all jene Linken, die nahe genug am arabischen Aufstand sind, um bereits von einer kommenden „Weltrevolution“ zu sprechen. Sie wird vollends alles durcheinander bringen, u.a. in Form von Wanderungsbewegungen größeren Ausmaßes in alle Richtungen. Mithin sei jetzt quasi alles „Kismet“.
Anmerkung
(1) „Die Fackel der Befreiung“ ist von den seßhaften Kulturen an „unbehauste, dezentrierte, exilische Energien“ weitergereicht worden, „deren Inkarnation der Migrant“ ist. So spricht z.B. der Exilpalästinenser Edward Said.
Für den Engländer Neal Ascherson sind es insbesondere die „Flüchtlinge, Gastarbeiter, Asylsucher und Obdachlosen“, die zu Subjekten der Geschichte geworden sind. Der polnische Künstler Krzysztof Wodiczko zog daraus den Schluß: „Der Künstler muß als nomadischer Sophist in einer migranten Polis aufzutreten lernen“ – auf ihren neuen Agoren, den Plätzen, Märkten, Parks und Bahnhofshallen der großen Städte. Ebenfalls an die urbane „intellektuelle Zirkulations“-Scene wandten sich die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari – mit einer ganzen (mehrbändige) „Nomadologie“, deren Credo zuvor Michel Foucault formuliert hatte: „Glaube daran, dass das Produktive nicht seßhaft, sondern nomadisch ist!“
Dieser positiven Sicht auf alle „Entsetzten“ – infolge der dritten industriellen Revolution – hält der selbst einst exilierte polnische Soziologe Zygmunt Baumann das Elend der „Überflüssigen“ entgegen: also das Schicksal all derer, die weltweit eine neue Existenzweise suchen – und dabei jedoch nicht mehr wie noch vor 150 Jahren auf so genanntes „unterbesiedeltes Land“ auswandern können. Damals stellte der US-Präsident Theodore Roosevelt die Ausrottung der büffeljagenden Indianer durch diese meist aus Europa kommenden armen Siedler und Pioniere noch als einen „gerechten Krieg“ dar: „Dieser großartige Kontinent konnte nicht einfach als Jagdgebiet für elende Wilde erhalten werden“.
Aber auch im Innern Europas kam es immer wieder zur Verfolgung, Vertreibung und Ausrottung von Nomaden – vor allem der Zigeuner, aber auch der Juden, die von den Christen stets aufs Neue exiliert wurden. Erstere wurden in Osteuropa erst von den Kommunisten zur Seßhaftigkeit gezwungen und dann ab 1990 fast alle arbeitslos. Noch 2003 erhielt die Slowakei, wo besonders viele Sinti und leben, bei ihrem EU-Beitritt die „strikte Anweisung“ aus Brüssel, „dafür Sorge zu tragen, dass das slowakische problem nicht zu dem werde, was es immer war, nämlich zu einer europäischen Angelegenheit. Der freie Verkehr von Waren und Personen, der einer der wichtigsten Gründe war, dass sich die EU überhaupt formierte, sollte denen erschwert werden, die diesen Verkehr in Europa seit Jahrhunderten praktizierten,“ schreibt der Salzburger Schriftsteller Karl-Markus Gauß.
Nach dem geglückten Weltraumflug von Juri Gagarin 1967 hatte noch der jüdische Philosoph Emanuel Lévinas gejubelt: Damit werde nun endgültig und weltweit das „Privileg der Verwurzelung und des Exils“ beseitigt. Das Gegenteil ist jedoch ebenso wahr (geworden): die einstige jüdische „Juxtaposition“ gilt nun für alle und jeden! Der Slawist Karl Schlögel spricht gar von einem „Planet der Nomaden“, wobei er jedoch noch schwankt, ob dies zu begrüßen ist.
Dazu zitiert er den gleich mehrfach exilierten jüdischen Philosophen Vilém Flusser: „Wir dürfen also von einer gegenwärtig hereinbrechenden Katastrophe sprechen, die die Welt unbewohnbar macht, uns aus der Wohnung herausreisst und in Gefahren stürzt. Dasselbe lässt sich aber auch optimistischer sagen: Wir haben zehntausend Jahre lang gesessen, aber jetzt haben wir die Strafe abgesessen und werden ins Freie entlassen. Das ist die Katastrophe: dass wir jetzt frei sein müssen.“
Mexiko. Photo: de.academic.ru.
Bisher sind es hier fast ausschließlich die linken Frauen, die sich für die im Arabischen Aufstand aktiv gewordenen Frauen interessieren – und Mehr darüber in Erfahrung bringen wollen. In der taz berichtet heute Renate Fisseler aus Tunis über „Die Frauen der Revolution“:
Die Proteste auf den Straßen von Tunis enden nicht. Am Sonntag trat auf Druck der Straße, darunter viele junge Frauen, der Premierminister der Übergangsregierung Mohammed Ghannouchi, ein Mann des alten Regimes, zurück. Der neu nominierte Premierminister, Béji Caïd Essebsi, gilt unter Frauen als laizistischer Politiker. „Das ist ein gutes Omen“, sagt Emna Ben Miled, Frauenforscherin und Mitbegründerin eines Masterstudiengangs in Frauenforschung. „Denn auch der Verantwortliche der Verfassungskommission Ben Achour ist laizistischer Überzeugung und will das Prinzip der Geschlechtergleichheit in der Verfassung verankern.“
Seit dem 14. Januar ist die tunesische Öffentlichkeit weiblicher geworden. In Radio, Fernsehen oder Zeitungen sind bekannte Feministinnen wie Sana Ben Achour, Vorsitzende der Vereinigung Demokratischer Frauen, Noura Borsali, Khadija Cherif, Bochra Belhaj Hmida, Neila Jrad jetzt gefragte Gesprächspartnerinnen. Was sie über Religion und Politik denken, ob ihnen die Islamisten Angst machen, wie ihre Haltung zum Schleier ist.
Sichtbar mischen sich Feministinnen ins revolutionäre Geschehen ein, bei Diskussionen über Islam und Laizität, über Verfassung und Politik, sie schreiben Manifeste, die junge Generation ist im Netz unterwegs, informiert, diskutiert, verbreitet Petitionen. Überwachung, Verbot von öffentlichen Aktionen, polizeiliche Willkür – das war der Alltag tunesischer Feministinnen in den Jahrzehnten der Diktatur. „Bis zur Revolution haben wir in gewisser Weise unsichtbar gearbeitet“, sagt Emna Ben Miled, „die herrschende Macht hat uns keine soziale Sichtbarkeit gestattet. Das war auch so, als wir vor zwei Jahren die feministische Universität, immerhin mit UN-Geldern finanziert, eröffnet haben. Wieder stand der Polizeibus mit den schwarz Uniformierten vorm Tor. Sogar das Schild mit der Aufschrift ,Frauenuniversität‘ konnten wir erst nach dem 14. Januar anbringen.“
„Es geht jetzt konkret darum“, erklärt Emna Ben Miled, die bei den Femmes Démocrates aktiv mitarbeitet, „im neuen Tunesien das umzusetzen, woran Frauenrechtlerinnen seit Langem arbeiten. Dazu gehöre die Reform des Erbrechts auf der Basis von Geschlechtergleichheit genauso wie die rechtliche Verankerung der Gleichheit von Männern und Frauen in einer tunesischen Verfassung. Gewalt gegen Frauen stehe noch immer im Fokus, da muss ein Rahmengesetz her, das effektiveres Handeln ermöglicht. „Ein erster sichtbarer Schritt könnte die Streichung der tunesischen Vorbehalte in den unterzeichneten internationalen Konventionen zur Beseitigung jeglicher Diskriminierung von Frauen durch die jetzige Übergangsregierung sein“, sagt Emna Ben Miled
Bei der neuen Frauenministerin Lilia Labidi, selbst Frauenforscherin und eine der beiden Frauen in einer mehr als zwanzigköpfigen Übergangsregierung, müssten diese Forderungen auf offene Ohren treffen. Vor einigen Tagen war die Vereinigung demokratischer Frauen (ATFD) bei Lilia Labidi und hat nachdrücklich an die Notwendigkeit erinnert, Reformen für die Rechte der Frauen verstärkt fortzuführen.
Schon seit den 1920er Jahren setzten sich Pionierinnen der Frauenemanzipation in Tunesien öffentlich für die Rechte der Frauen und gegen deren gesellschaftlichen Ausschluss ein. Nach der Unabhängigkeit 1956 wurde die UNFT (Union Nationale des Femmes Tunisiennes) als staatliche Frauenorganisation gegründet. Eine autonome Frauenbewegung entwickelte sich seit Ende der 1970er Jahre. Die zwei unabhängigen feministischen Vereinigungen ATFD (Tunesische Vereinigung demokratischer Frauen) und AFTURD (Vereinigung tunesischer Frauen für Forschung und Entwicklung) wurden 1989 zugelassen. Das Engagement unabhängiger Feministinnen wurde vom Staat immer wieder behindert und eingeschränkt. Doch die Emanzipation der tunesischen Mittelschichtsfrauen ist sicher auch ein Erfolg dieser Bewegungen.
Für viele junge Frauen sind die erlangten Rechte eine Selbstverständlichkeit. „Ich bin frei, fühle mich frei“, sagt Azza Lamine, die 25-jährige Softwarespezialistin. „Ich brauche nicht auf die Straße zu gehen, um für unsere Freiheit als Frauen zu demonstrieren.“ Früher habe sie sich in die Politik nicht eingemischt. Die Videos über die brutalen Gewalteinsätze im Landesinneren, die Bilder der Toten in Thala, Kasserine, Gafsa haben sie aufgerüttelt. Am 14. Januar ging sie zum ersten Mal in ihrem Leben, zusammen mit Freundinnen und „viel Angst im Bauch“, zu einer Demonstration, um den Diktator zu verjagen. „Jetzt will ich wissen, was die Übergangsregierung macht, ich informiere mich über Parteien und Vereine. Früher war das fast ein Tabuthema. Ich sehe aber keine Partei, die mich besonders interessiert. Da wird viel geredet. Aber was ist mit der Zukunft, was ist euer Programm? Ich beobachte alles mit kritischen Augen und möchte gern etwas Neues für die junge Generation hinzufügen.“
Selma Ammar, die 27-jährige Erdölingenieurin, war auf einem Meeting der Partei von Nejib Chebbi, der jetzt Minister für regionale Entwicklung ist. „Die Parteivorsitzende Maya Jeribi hat mir gefallen. Vielleicht kann ich die im Wahlkampf unterstützen. Mal sehen“, sagt sie. Auch die 30-jährige Ärztin Soukaina Ouerdi interessiert sich jetzt mehr für Politik. Sie findet, dass in der Übergangsregierung ganz gute Leute sitzen. „Es stimmt, da sind nicht so viele aus der jungen Generation wie der Blogger Slim Amamou, der jetzt Staatssekretär ist. Wir Jungen brauchen noch etwas Zeit, glaube ich, um in die Politik hineinzuwachsen. Und sollte man versuchen, uns Frauen etwas wegzunehmen, bin ich wieder auf der Straße.“
Dem Aufruf von Feministinnen zum Marsch der Zivilgesellschaft sind Selma Ammar, Azza Lamine und Soukaina Ouerdi nicht gefolgt. „Meine Mutter ist dorthin gegangen“, sagt Soukaina. Tunesische Feministinnen wollen, dass sich die laizistische Richtung bei den ersten freien Wahlen in Tunesien durchsetzt. „Da liegt viel Arbeit vor uns“, sagt Emna Ben Miled: „Nicht nur unter Ben Ali, auch unter Bourguiba ist uns eine ,culture de citoyenneté‘ [zivilgesellschaftliche Kultur] verweigert worden. Seit der Revolution sprechen und handeln Menschen zusammen, und viele sind bereit zu hören, was ,citoyenneté‘ bedeutet.“ Ben Miled hält eine Weiterbildung in zivilgesellschaftlichem Denken – sie nennt es „recyclage des citoyens“, für erforderlich, bevor Wahlen stattfinden können.
Samstag, 26. Februar. Um die Statue Ibn Khaldoun im Zentrum von Tunis hat sich – wie so oft in letzter Zeit – eine große Menschentraube gebildet. Spruchbänder werden hochgehalten: “ Für eine demokratische, laizistische Republik“ – „Gleichheit, erste Priorität“ – „Nein zu Obskurantismus, ja zu Modernität“. Frauen und Männer aus der Zivilgesellschaft sind dem Aufruf für ein laizistisches Tunesien zu Tausenden gefolgt. „Nein zur Diskriminierung. Alle sind gleich in dieser Nation. Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Auch die Minoritäten müssen vertreten sein.“
Als Rached Ghannouchi, Chef der islamischen Ennahdha, nach zwanzig Jahren Exil zurückkehrt, gab es auf Facebook einen Aufruf, ihn im Bikini am Flughafen zu begrüßen. Ein paar Feministinnen sind gekommen – nicht im Bikini, aber mit Plakaten, die man ihnen aus den Händen reißt.“ Wir haben keine Angst vor den Islamisten“, sagt Sana Ben Achour, „denn wir haben ein außergewöhnliches Potenzial an Menschen in unserem Land, das bewiesen hat, dass es eine Diktatur zu Fall bringen kann. Und wir befreien uns nicht aus der einen Diktatur, um uns in einer anderen wiederzufinden.“ Fragt man Frauen, was sie von der Rückkehr der Islamisten auf die politische Bühne in Tunesien halten, ähnelt ihre Antwort häufig der von Sana Ben Achour. Das Vertrauen in die eigene Kraft ist in der Revolution mächtig gewachsen.
In einem Kasten fügte die taz-Redaktion hinzu: Keine Polygamie:
Eherecht: Direkt nach der Unabhängigkeit 1956 führte Präsident Bourguiba im Bestreben zügiger Modernisierung das Personenstandsrecht ein: Polygamie und Verstoßung wurden abgeschafft, die gerichtliche Scheidung auf der Grundlage von Geschlechtergleichheit eingeführt (damit ist Tunesien absoluter Vorreiter in der arabischen Welt). Seit 1957 ist die zivilrechtliche Eheschließung Gesetz.
Frauenrechte: Das Wahlrecht bekamen die Tunesierinnen direkt nach der Unabhängigkeit. Seit 1963 ist Abtreibung in bestimmten Fällen rechtlich gestattet, seit 1973 ist sie straffrei. 1993 wurde die Kooperation der Eltern in der Familie eingeführt, der Vater bleibt jedoch Familienvorstand.
Bildung: Nach offiziellen Zahlen werden heute 99 Prozent der Mädchen eingeschult, in ländlichen Gebieten teils früher als Jungen wieder aus der Schule genommen. Gleichwohl sind mehr als 50 Prozent der tunesischen Abiturienten weiblich, ebenso liegt der Anteil von Frauen unter den Studierenden bei mehr als 50 Prozent.
Arbeitsmarkt: Mehr als ein Viertel der Frauen ist berufstätig. In den Städten ist ihr Anteil weit höher. Frauen mit Hochschulabschluss sind stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als ihre männlichen Kollegen.
Spanien – im Bürgerkrieg. Photo: stepanovic.wordpress.com
Reuters verbreitet ein Pressemitteilung – Tunesien betreffend – von Amnesty International: „Tunesien muss Tötung von Demonstranten untersuchen“. Was für ein bürgerlicher Scheißdreck. Es geht darum, das ganze Scheißsystem hinwegzufegen – solche Forderungen, gerichtet an irgendwelche Nochimmerherrschenden oder nach demokratischen Wahlen Demnächstherrschenden stabilisieren deren System bloß, indem sie ihnen wohlmöglich nachkommen und irgendwelche armen Schweine unter den Polizisten oder Soldaten anklagen -. ihnen einen sauberen Prozeß machen. Gerichte, Rechtsanwälte – das alles gehört vielmehr mit weggefegt. Für immer. Alle tun hier so im Westen, als gäbe es nichts anderes als die Errungenschaften der Französischen Revolution – freie Wahlen, Presse, Regierungen, Gewaltenteilung etc.. Das alles gehörte längst auf den Misthaufen der Geschichte – es gibt ein viel größeres Revolutionsziel: die Abschaffung der Warenproduktion und die Aufhebung aller Trennungen.
Aus Libyen kam heute morgen als erstes die Nachricht – über AFP:
Wie die politischen Umstürze in Tunesien und Ägypten sind auch die Massenproteste in Libyen eng mit dem Schicksal einer zentralen Identifikationsfigur verbunden: Als die Kundgebungen am 15. und 16. Februar in der Stadt Bengasi im Nordosten des Landes ihren Anfang nehmen, fordern die Demonstranten vor allem die Freilassung des Anwalts Fethi Terbil. Er vertritt einige jener Familien, die im Jahr 2006 bei einer Schießerei im Gefängnis Abu Salim in der Hauptstadt Tripolis etwa 1200 Verwandte verloren.
Nach seiner Festnahme versammeln sich in Bengasi Unterstützer zu einer Sitzblockade vor einer Polizeiwache. Es kommt zu Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften von Machthaber Muammar El Gaddafi, bei denen fast 40 Demonstranten verletzt werden. Ab diesem Zeitpunkt breitet sich der Aufstand über das ganze Land aus. Das Ziel ist bald der Sturz Gaddafis. Die Vorbilder sind Tunesien, wo die Selbstverbrennung eines jungen Arbeitslosen die Proteste auslöste, und Ägypten, wo ein Aktivist Gräueltaten der Polizei anprangerte.
Als Terbil seine Geschichte erzählt, ist er sehr aufgeregt. Die große Aufmerksamkeit der Medien ist er nicht gewohnt. Er entschuldigt sich für die Schirmmütze auf seinem Kopf und die Turnschuhe an seinen Füßen. Beides bezeichnet er als „Kleidung der Revolution“, die er wieder ablegen werde. In die Politik wolle er nicht, stellt er sofort klar. Sein Ziel sei nur Gerechtigkeit für die im Gefängnis Getöteten. Sie hätten lediglich bessere Haftbedingungen gefordert und seien deswegen getötet worden, klagt er.
Seit der Übernahme der Mandate in den juristischen Verfahren um die Gefängnisschießerei ist Terbil sieben Mal festgenommen worden, zuletzt am 15. Februar. „Rund 20 schwer bewaffnete Sicherheitskräfte sind zu mir nach Hause gekommen und haben mich mitgenommen“, sagt er. Die Nachricht habe sich unter den Familien der Opfer verbreitet und zu den Protesten geführt. „Ich wurde zu Abdallah Senussi, Gaddafis persönlichem Sicherheitsverantwortlichen, gebracht“, sagt Terbil weiter. Dieser sei wegen der Proteste „sehr nervös“ gewesen.
Dpa zitierte das niederländische „Handelsblad“:
„Was von außen wie eine Revolution aussieht, ist in vielen Ländern eher ein Verhandlungsprozess zwischen Machthabern und Vertretern der Opposition. Im Jemen, in Bahrain und Oman. Ein rituelles Feilschen, begleitet durch Opfer auf den Plätzen der Freiheit. Anders ist das in Libyen. Dort hat der Aufstand den Charakter eines blutigen Krieges von Bürgern und übergelaufenen Soldaten gegen Gaddafi und seine Söldner angenommen. Deshalb hat die internationale Gemeinschaft für dieses Land die Alarmglocke geläutet, mit einer Resolution des Sicherheitsrates als möglichem ersten Schritt zum Eingreifen. In Libyen scheint der Aufstand nun am weitesten auf dem Weg zu einer echten Revolution zu sein.“
Von AP kommt um 11 Uhr 55 der Korrespondentenbericht:
Der libysche Machthaber Muammar al Gaddafi ist isoliert. Selbst enge Verbündete und eigene Diplomaten haben dem Despoten den Rücken gekehrt. Bedingungslose Treue halten Gaddafi nun offenbar noch ausländische Söldner, die ihn bis zum bitteren Ende verteidigen wollen. Die Kämpfer, die der angeschlagene Staatschef Berichten zufolge gegen sein eigenes Volk einsetzt, kommen aus mehreren afrikanischen Ländern – und unterstehen ihm wohl nicht erst seit dem Beginn des jüngsten Volksaufstands.
Gaddafi setze schon seit langer Zeit Söldner ein und lasse zahlreichen Rebellenorganisationen in Westafrika finanzielle Unterstützung zukommen und sie militärisch ausbilden, erklärt der Nordafrika-Experte Paul Sullivan von der Hochschule des US-Verteidigungsministeriums und der Georgetown Universität.
Nach dem Vorbild der französischen Fremdenlegion holte Gaddafi bereits in den 1970er und 1980er Jahren viele junge Menschen aus Mali und dem Niger in die sogenannte Islamische Legion. Ein Großteil der Rekruten gehörten der Volksgruppe der Tuareg an.
Derzeit seien 16.000 Mitglieder der Tuareg Teil der libyschen Sicherheitskräfte, die in der Hauptstadt Tripolis und der westlibyschen Stadt Sabha die bröckelnde Machtbasis Gaddafis sicherten, erklärt der Politiker Ibrahim Ag Mohammed Assaleh. „Wir werden von einigen von ihnen telefonisch über die aktuelle Lage in Libyen informiert“, sagt er der Nachrichtenagentur AP. „Ihr Befehl lautet, Gaddafi zu schützen. Sie werden ihn bis zum Ende verteidigen.“
AFP meldet von der libysch-tunesischen Grenze:
Nach der Flucht zehntausender Menschen aus Libyen ist die Lage an der Grenze zum benachbarten Tunesien den Vereinten Nationen zufolge unhaltbar geworden. Die Situation habe „den Krisenpunkt erreicht“, sagte die Sprecherin des UN-Flüchtlingswerkes UNHCR, Melissa Fleming, am Dienstag in Genf. Allein am Montag seien 14.000 Menschen von Libyen über die Grenze nach Tunesien geflohen. Dies sei die bisher höchste Zahl an einem einzigen Tag. Seit dem 20. Februar seien damit 70.000 bis 75.000 Menschen nach Tunesien geflüchtet, sagte Fleming weiter. Am Dienstag würden weitere 10.000 bis 15.000 Menschen erwartet, die versorgt werden müssten.
Zehntausende Menschen warteten nun an der Grenze in Tunesien auf einen Weitertransport, sagte Fleming. „Es ist absolut notwendig, dass dieser möglich wird, um eine Krise zu vermeiden.“ Auf libyscher Seite stünden derweil tausende Menschen teils schon seit drei Tagen Schlange, um die Grenze zu überqueren.
Vor allem Menschen aus Schwarzafrika würden von den Grenzbehörden oft nicht nach Tunesien gelassen, sagte Fleming. „Wir sind sehr besorgt darüber, dass dabei Rassismus ein Faktor sein könnte.“ Das weiterhin geöffnete UNHCR-Büro in Tripolis habe verzweifelte Anrufe von Menschen erhalten, die nicht aus Libyen herauskämen. Afrikaner seien „besonders verängstigt“. Fleming las dazu eine Mitteilung an das UNHCR vor: „Wir werden von örtlichen Leuten angegriffen, weil sie sagen, dass wir Söldner sind“, hieß es darin. Fleming forderte, dass Flüchtlinge ohne Diskriminierung der Übertritt der Grenze erlaubt werden müsse. „Jeder, der fliehen muss, sollte in der Lage sein zu fliehen.“
Die Grenze zu Ägypten überquerten laut UNHCR seit dem 19. Februar unterdessen 69.000 Menschen. Es handele sich vor allem um Ägypter, die als Gastarbeiter in Libyen tätig waren. Rund 3000 Flüchtlinge warteten noch auf den Weitertransport.
Dpa meldete um 16 Uhr 30:
Der libysche Machthaber Gaddafi stemmt sich mit Gewalt gegen eine Niederlage. Aufständische bereiten sich auf Angriffe seiner Truppen vor. Die humanitäre Situation verschlechtert sich zusehends. Mehr als 140 000 Menschen sind schon geflohen. Es fehlt an Hilfe. In Bengasi formierte sich ein Militärrat – zum Schutz der Staatsgrenzen im Osten des Landes und für die Sicherheit der Bevölkerung. Die USA bewegen Truppen in der Region, auch Großbritannien droht dem Regime militärisch. In Städten wie Misurata wird weiter gekämpft. Die Vereinten Nationen sind wegen der Flüchtlingsströme alarmiert. In der Hauptstadt Tripolis werden Lebensmittel und Medikamente knapp.
Die Oppositionszeitung „Libya al-Youm“ berichtete, dem Militärrat in Bengasi gehörten 14 Kommandeure an. Die Offiziere wollten den Schutz der Staatsgrenzen im „befreiten“ Teil Libyens sicherstellen und für die Sicherheit der Bevölkerung sorgen, teilten sie in einer Erklärung mit. Ziel sei es, einen Staat zu schaffen, der das Prinzip der Gewaltenteilung respektiert und in dem die Menschenrechte geachtet werden.
Von Al Dschasira kam am Nachmittag folgender Bericht:
Government opponents in the Libyan city of Az Zawiyah have repulsed an attempt by forces loyal to Muammar Gaddafi to retake the city close to the capital, Tripoli, in six hours of fighting overnight, witnesses say. Tuesday’s claims follow reports that government forces attacked the city from the west and the east, and that fighter jets bombed an ammunition depot in the eastern city of Ajdabiya.
There was no word on casualties in Az Zawiyah, which is 50km west of Tripoli. „We will not give up Az Zawiyah at any price,“ one witness said. „We know it is significant strategically. They will fight to get it, but we will not give up. We managed to defeat them because our spirits are high and their spirits are zero.“ The rebels, who include army forces who defected from the government, are armed with tanks, machine guns and anti-aircraft guns. They fought back pro-Gaddafi troops who attacked from six directions using the same weapons. „We are expecting a major battle,“ the resident said, adding that the rebels killed eight soldiers and mercenaries on Monday.
Tony Birtley, Al Jazeera’s correspondent in the city of Benghazi, which is under control of anti-government forces, said on Tuesday that while they are hoping for a peaceful outcome, they are also preparing for a military one. „While the threat of an attack along the ground by Gaddafi forces is receding perhaps by the day, in the air there is still a possibility that Gaddafi could unleash what remains of his air force in a final act of retribution,“ he said. The fighting in Az Zawiyah came amid mounting international pressure on Gaddafi – already under sanctions over his handling of the turmoil – to end a crackdown on opponents pushing for his ouster.
AFP meldete um 17 Uhr 44:
Libysche Aufständische haben am Dienstag in der Stadt Bengasi einen Militärrat gegründet. Das Gremium solle die militärischen Kräfte gegen den libyschen Machthaber Muammar el Gaddafi organisieren und die Verbindung mit ähnlichen Räten in anderen „befreiten“ Städten herstellen, sagte die Oppositionsvertreterin Salwa Bughaighi. Ein oppositioneller Anwalt sagte, die genaue Zusammensetzung des Rates stehe noch nicht fest, doch würden diejenigen Offiziere bevorzugt, die von Anbeginn an dem Aufstand beteiligt waren.
General Ahmed Katrani, der mit der Führung der aufständischen Streitkräfte in Bengasi beauftragt ist, schloss einen Marsch auf die Hauptstadt Tripolis aus, wie ihn mehrere Offiziere in den vergangenen Tagen erwogen hatten. „Wir sind dort mit Oppositionellen in Kontakt, doch bitten sie uns, nichts zu unternehmen“, sagte Katrani, der nach Angaben von Bughaighi noch nicht als Mitglied des neuen Militärrats ernannt worden ist. Die Regierungsgegner in Tripolis seien überzeugt, die Hauptstadt aus eigener Kraft unter ihre Kontrolle bekommen zu können, sagte Katrani.
Nach Angaben des Generals sind mehrere Gruppen von Freiwilligen von der östlichen Küstenmetropole aus durch die Wüste in das tausend Kilometer entfernte Tripolis aufgebrochen. „Sie bringen ihre Erfahrung nach Tripolis“, sagte Katrani. Nach Angaben des „Rekrutierungszentrums“ für Freiwillige in Bengasi wurde eine Gruppe von 40 Zivilisten und Soldaten bei Sirte von Anhängern Gaddafis abgefangen. 18 wurden demnach getötet, andere hätten dagegen die Hauptstadt erreicht und mehr als tausend seien in den Westen des Landes gelangt, der noch weitgehend unter Kontrolle Gaddafis ist.
Ärzte versuchten unterdessen, dutzende Schwerverletzte für Operationen ins Ausland zu bringen. Einige hätten sie bereits auf einem Boot nach Tunesien geschickt, sagte Suhail el Atrasch, der im kürzlich gebildeten Stadtrat für die Gesundheitsdienste zuständig ist. Seinen Angaben zufolge haben die Krankenhäuser Medikamente für neun Monate, auch Operationen liefen weitgehend normal. Rund tausend Verwundete befänden sich in Behandlung, die Zahl der Todesopfer der Kämpfe zwischen Anhängern und Gegnern Gaddafis liege bei mindestens 250. Die oppositionellen Kräfte hatten vor gut einer Woche in Bengasi, der zweitgrößten Stadt Libyens, die Kontrolle übernommen.
Libyen. Photo: luzernerzeitung.ch
Aus Oman meldete AFP:
In Sohar im Sultanat Oman hat das Militär mit Panzern hunderte Demonstranten auseinandergetrieben, die den Zugang zu einer Brücke und eine Hauptstraße in Richtung der Hauptstadt Maskat blockiert hatten. Bei dem Einsatz der Militärfahrzeuge am Dienstag wurde niemand verletzt, wie ein AFP-Fotograf berichtete. Die Demonstranten waren für mehr Arbeitsplätze und höhere Löhne auf die Straße gegangen. Sie forderten außerdem juristische Ermittlungen gegen in ihren Augen korrupte Minister.
Auch in anderen omanischen Städten wie Salala im Süden und in der Oasenstadt Buraimi im Norden des Landes gingen am Dienstag hunderte Menschen auf die Straße. Am Montag war es zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und regierungskritischen Demonstranten gekommen, als diese eine Polizeistation stürmen wollten. Die Beamten setzten Tränengas ein. Am Wochenende war bei Protesten in dem Land auf der arabischen Halbinsel nach Angaben der Regierung ein Mensch getötet worden; Demonstranten zufolge gab es fünf Todesopfer.
Die Financial Times Deutschland schreibt:
„Unruhen in Oman verunsichern Ölanleger“
Reuters meldete um 15 Uhr 3:
Im Sultanat Oman dauern die Demonstrationen für Demokratie und Arbeitsplätze an. In der Hafenstadt Sohar gaben Soldaten am Dienstag Warnschüsse ab, um 200 bis 300 protestierende Menschen auseinanderzutreiben. Nach Berichten von Zeugen wurde ein Mann angeschossen, als er mäßigend auf die Sicherheitskräfte einzuwirken versuchte. Nach dem Zwischenfall habe sich die Menge wieder versammelt, und die Soldaten hätten sich zurückgezogen.
AP meldete um 15 Uhr 15:
In Bahrain könnte das Formel-1-Rennen im August nachgeholt werden.
Dapd meldete ungefähr zur gleichen Zeit:
Hunderte Regierungsgegner haben am Montag den Eingang zum Parlament in der bahrainischen Hauptstadt Manama blockiert. Mit einer Menschenkette hinderten sie Regierungsmitarbeiter am Zutritt. Eine geplante Sitzung des Oberhauses musste daraufhin abgesagt werden. Die Protestaktion scheint Teil einer Strategie der Demonstranten zu sein, Kundgebungen an sensiblen Orten in der Hauptstadt abzuhalten.
Seit die Welle der Proteste in der arabischen Welt vor zwei Wochen auch Bahrain erfasste, wurden dort bei Demonstrationen mindestens acht Menschen getötet und Hunderte verletzt.
Ägypten – Kairoer Tahrirplatz. Photo: taz.de
Aus Ägypten kommen bisher nur Meldungen über die Wiedereröffnung der Kairoer Börse.
Der Kairo-Virus hat nicht nur die deutschen Wissenschaftler erfaßt, die SZ spricht heute sogar von ihrem „Aufstand“ (gegen Guttenberg), sondern auch das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft:
Nicht nur ist das neue Heft voll mit Berichten aus Forschungsbereichen, die sich mit Indien, islamischer Kunst, Megacitys, traditioneller Heilkunst, kultureller Vielfalt, Halbmonde, anderen Gefühlen in anderen Ländern und zu anderen Zeiten befassen, in einem langen Artikel geht es auch noch um die Analogie zwischen der Ausbreitung des SARS-Virus und der von „Ideen und Moden“. Beide Epidemien – die biologische wie die soziale – werden von „Influentials losgetreten“. Eine deutsch-indische Forschergruppe untersuchte anhand von Twitter, Facebook u.a. sozialen Medien, wie das mit den „Influentials“ funktioniert – und warum überhaupt.
Ich befaßte mich heute in der Holztaz mit dem ägyptischen Witz:
Unter Präsident Gamal Abdel Nasser gab es noch eine eigene Geheimdienstabteilung für regimekritische Witze. Unter Mubarak waren dann nur noch Witze über ihn verboten, Karikaturen dagegen erlaubt. Zusammen mit den ägyptischen Filmkomödien sorgten sie „für Lacher im gesamten arabischen Raum,“ wie das „Österreichisch-Arabische Informationsforum“ weiß.
Der ägyptische Schriftsteller Khaled al-Khamissi, dessen Buch „Im Taxi: Unterwegs in Kairo“ kürzlich auf Deutsch erschien, hat Ende Januar für „Die Welt“ einige seiner Lieblingswitze aufgeschrieben, einer geht so: „Warum demonstrieren die jungen Leute in Tunesien auf der Straße? Haben sie kein Facebook?“ Dazu schrieb der Autor: „Die Tatsache, dass das ägyptische Volk Tausende von Jahren unter tyrannischer Herrschaft litt, führte dazu, dass die Ägypter die Kunst des Witzes schufen und weiterentwickelten, bis sie geradezu zum offiziellen Sprecher des ägyptischen Volkes wurde.“ Sein Lieblingswitz lautet: „Die ägyptische Regierung gab der Fluggesellschaft den Befehl, ihre Luftflotte in höchster Einsatzbereitschaft zu halten, für den Fall, dass das ägyptische Volk schnellstens ausreisen wolle, mit der Destination, die es wünsche.“
Auf „geschichtgsforum.de“ wollte es daraufhin ein „Gast“ genauer wissen: „Gibt es altägyptische Witze oder wurden die nicht schriftlich fixiert?“ Darauf antworteten die Redaktionsägyptologen: „Es gibt wohl einige Zoten, entweder auf Papyri oder später vom Griechen Herodot überliefert. Eine davon erzählt ein derbes Studentengedicht nach („Ramses, der Ägypterkönig hatte einst des Geldes wenig…“), das hier nicht verlinkt hingehört, weil hier im Forum auch Jugendliche sind.“ Ein anderer Altertumsforscher ergänzte: „Zurückhaltend waren die Ägypter allerdings nicht gerade, nicht einmal hinsichtlich der Pharaonen. Da ist sogar eine Kritzelei erhalten, die Ramses II. in seinem Harem explizit bei einschlägigen Aktivitäten zeigt.“
Aus den letzten Wochen der Mubarak-Herrschaft stammt dieser Witz: „‚Wir sind nicht Syrien, wo der Sohn des Präsidenten automatisch Nachfolger wird‘, sagt Mubarak. ‚Wir sind eine Demokratie. Bei uns kann man wählen. Ich habe nämlich zwei Söhne‘.“
Das nicht gerade für seine Witzischkeit berühmte „Handelsblatt“ titelte: „Ägypter sind wahre Humorexperten“, fügte dann noch hinzu „Im Schatten der Pyramiden wird viel gelacht“ (das Blatt meinte natürlich: „im Schatten der Hochhäuser“) und erwähnte dann eine Karikatur aus der regierungsnahen Kairoer Tageszeitung „Al-Akhbar“ aus der Zeit der amerikanischen Luftangriffe auf Afghanistan, als die USA gleichzeitig Bomben und Lebensmittelpakete abwarfen: Ein abgemagerter bärtigen Taliban-Kämpfer sitzt auf einem Hügel und hält einen Hamburger in der Hand. Mit grimmigem Blick schaut er zum Himmel und ruft: „Und wo bleibt das Ketchup, ihr ungläubigen Hundesöhne?“
Als der Vizepräsident Omar Suliman im ägyptischen Staatsfernsehen endlich den Rücktritt Mubaraks verkündete, stand die ganze Zeit ein streng blickender Mann hinter ihm: „Seitdem explodieren die Witze über die Identität und die Funktion des Mannes, der offensichtlich sicherstellen sollte, das Suliman diesmal die richtigen und ausgemachten Worte ausspricht,“ berichtete der taz-Kairo-Korrespondent Karim El-Gawhary. Einer dieser Witze ging so: „Alle fragen mich, was ich machen will, wenn ich erwachsen bin. Mein Vater sagt, du solltest Ingenieur werden, meine Mutter hofft, dass ich Künstler werde, mein Onkel schlägt Lehrer oder Verkäufer vor. Aber ich bin kein Feigling. Ich fürchte mich nicht vor Spider- oder Superman. Ich will kein Ingenieur oder Verkäufer sein, ich möchte so werden, wie der Mann hinter Omar Suliman.“ Dabei handelte es sich im übrigen um den Kommandeur der ägyptischen Special Forces: Hussein Scharif.
Der ebenfalls nicht gerade für seinen Humor bekannte Redakteur der „Zeit“ Jörg Lau stellte seinen „Lieblingswitz der ägyptische Revolte“ ins Netz: „Treffen sich Nasser, Saddat und Mubarak im Himmel. Fragen die beiden Älteren den Neuen: Gift oder Kugeln? Sagt Mubarak: Facebook.“ Nicht nur Jörg Lau hat sich wie so viele andere deutsche Ägyptentouristen von der „uralten Witztradition am Nil“ (ZDF) anstecken lassen. Auf „LinkFun.net“ findet sich z.B. dieser: „Mantafahrer in Ägypten. Auf einer Nilbrücke überschlägt er sich. Fahrer und Wagen landen im Fluß. Als die Krokodile auf ihn zukommen, meint der Mantafahrer: „Ey, goil: Rettungsboote von Lacoste, boah!“ Diesen Witz gibt es im Internet in zig Varianten. Auf der Webseite „witze.eu“ findet man jedoch eine noch seltsamere Humorleistung: „Sagt der Lehrer: ‚Fritzchen, erzähl uns was über Ägypten.‘ Da sagt Fritzchen: ‚Was denn, Herr Lehrer?'“
Es gibt aber anscheinend auch Deutsche, die weder alt- noch neuägyptische Witze hören wollen: So wird z.B. auf der Webseite „aegyptenfans.de“ von einer Fahrt mit einem Nilschiff Folgendes berichtet: „Nach dem Essen erzählte der Reiseführer ägyptische Witze. Da wir jedoch keine Freunde von Animationsprogrammen sind, gingen wir vorzeitig in unsere Kabinen.“
Auch der ägyptische Twitterwitz des US-Textilherstellers Kenneth Cole ging nach hinten los: Er textete „“Millionen sind in Aufruhr in Kairo. Das Gerücht geht um, sie hörten, dass unsere neue Frühjahrskollektion online verfügbar ist.“ Daraufhin brach ein Sturm der Entrüstung aus, viele schworen, nie wieder Cole-Klamotten zu kaufen und noch mehr ließen sich Twitter-Parodien dazu einfallen, so dass die Marke binnen weniger Stunden zu einer Lachnummer wurde, wie „Die Welt“ in ihren Berichten aus Ägypten meldete. Ein anderer Westwitz – die sogenannte „dänische Mohammed-Karikatur“ – löste zwar in Arabien kein Gelächter aus, Religionswitze sind dort Tabu, aber die Empörung über diese „Gotteslästerung“ geriet quasi zur Generalprobe der jetzigen „Arabischen Revolution“: In Damaskus wurden die nordischen Botschaften in Brand gesteckt, in Gaza die EU-Gebäude mit Steinen beworfen, in den Emiraten dänische Produkte boykottiert, in Afghanistan eine Polizeizentrale in Brand gesteckt, wobei es Tote gab, in Kairo, Bagdad und Djakarta fanden z.T. blutige Massendemonstrationen statt. „Der Spiegel“ berichtete damals – 2006: „Kairo, Damaskus, Riad, Sanaa, Tripolis und all die anderen arabischen Regime können nur hoffen, dass sich die angestaute Wut des kleinen Mannes, welche er nun so lautstark gegen das kleine Dänemark äußert, nicht bald gegen sie selbst richtet.“ Genau das passiert nun: „Da lacht der Vordere Orient/Da lacht der Hintere Orient…“ wie es in einem berühmten altdeutschen Lied heißt.
Kolumbien. Photo: 20min.ch