vonHelmut Höge 04.03.2011

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Solche Viren können etwas „auslösen“. Photo: abendblatt.de

AFP meldet aus Libyen:

In Libyen haben sich Gegner und Anhänger von Machthaber Muammar el Gaddafi am Freitag schwere Auseinandersetzungen geliefert. In Tripolis prügelten dutzende Anhänger beider Lager mit bloßen Fäusten aufeinander ein, als es nach dem Freitagsgebet zu Protesten hunderter Menschen kam. Die Luftwaffe griff im östlichen Adschdabija eine Kaserne an, während sich Gaddafi-Gegner Richtung Westen bewegten.

Ein Augenzeuge in Tripolis sagte AFP, dass es die Schlägereien nahe des Grünen Platzes in der libyschen Hauptstadt gegeben habe. Auf dem Platz selbst demonstrierten rund hundert Anhänger Gaddafis für den Revolutionsführer, wie ein AFP-Journalist berichtete. Einem anderen Augenzeugen zufolge kam es im Stadtbezirk Tadschura zu Zusammenstößen zwischen hunderten Regierungsgegnern und Sicherheitskräften.

Wegen der angekündigten Proteste hatte die Regierung Journalisten mit Festnahme gedroht, falls sie ohne offizielle Erlaubnis auf die Straße gehen sollten. „Terroristen wollen Gewalt heraufbeschwören und die Anwesenheit von Journalisten würde die Situation nur verschlimmern“, sagte Regierungssprecher Mussa Ibrahim.

Am Freitagmorgen hatten Gaddafi-treue Einheiten erneut aus der Luft eine Kaserne nahe Adschdabija angegriffen, verletzt wurde aber niemand. Nach Angaben eines AFP-Korrespondenten hat die Militärbasis bislang alle Angriffe unbeschadet überstanden. In der Stadt Misrata gab es einem Augenzeugen zufolge am Donnerstagabend einen Toten, als diese von Gaddafi-Truppen mit schweren Waffen angegriffen wurde.

Die Opposition versuchte unterdessen, die Kontrolle über die Stadt Brega zu behalten. Die Stadt gilt als wichtiger Verkehrsknotenpunkt. „Wenn die Regierungstruppen diesen Ort besetzen, werden sie auch nach Adschdabija gelangen“, sagte ein Ingenieur, der anonym bleiben wollte. „Adschdabija ist ein zentraler Punkt, weil er den Westen mit dem Osten und dem Süden verbindet.“

Beobachtungen eines AFP-Reporters zufolge bewegten sich mehrere Rebellengruppen in Richtung Westen: Zwischen 60 und 70 bewaffnete Aufständische drangen auf der Küstenstraße in der Nähe von Ukayla nach Westen vor, einem Dorf 280 Kilometer von Bengasi entfernt. „Wir möchten nicht kämpfen, wir wollen psychischen Druck auf die ausüben“, sagte der abtrünnige Oberst Baschir Abdulkadir mit Blick auf Gaddafis Truppen. „Aber wenn wir sie töten müssen, um diese Schlacht zu gewinnen, werden wir das tun.“

Wenn die FAZ einen Kriegsreporter losschickt, dann einen langgedienten, der sich nicht nur mutig bis nahe an die Front wagt, sondern auch die Waffenarten unterscheiden kann, da macht es nichts, dass er – wie Malaparte – einen Aufstand von unten nicht von einem Putsch von oben unterscheiden kann, also das ihm das Wesentlichste für den Sieg (des „Humanismus“) entgeht. Man könnte ihn einen Scholl-Latour-Schüler nennen.

Er berichtet aus der libyschen Hafenstadt Pelda:

„Ein übergelaufener Major der libyschen Armee versucht, den desorganisierten Haufen der Aufständischen zu koordinieren. Es wird ein Angriff der Gaddafi-Truppen befürchtet.“ Der „Haufen“ – ein herabsetzendes Wort der Kriegsherren aus dem Dreißigjährigen Krieg für die aufständischen Bauernheere –  ist nicht „desorganisiert“, sondern noch unorganisiert, ein großer Unterschied. Solschenizyn zitiert in seinem Kapitel über den Eersten Befehl des revolutionären Soldatenrates  in ironischer Absicht Lenin: „Wenn die Revolution nicht die Armee desorganisiert, dann desorganisiert die Armee die Revolution.“ Man merkt, der gute FAZ-Mann ist in der Bundeswehr und nicht in der Nationalen Volksarmee der DDR groß geworden.

Dennoch verkennt er nicht, dass der noch unorganisierte Haufen Freiwilliger die Mängel seiner Kampfkraft gegenüber den Söldnern des Regimes durch Enthusiasmus ausgleicht:

„Die Rebellen lassen sich nicht irritieren. Was ihnen an militärischen Fähigkeiten und Ausbildung fehlt, machen sie durch Motivation wett.“ Der Irritationsfaktor, das hat der FAZ-Autor schon durchs Fernglas von weitem gesehen, besteht aus einem

„Schwenkflügelbomber vom russischen Typ Suchoj-24, der über dem Universitätsgelände kreist. Er fliegt zu hoch, außerhalb der Reichweite der Flugabwehr. Nun wäre die Zeit gekommen für die chinesischen Lenkwaffen, doch gerade jetzt ist keine davon verfügbar.“

Schlamperei bei den Nachschub-Einheiten, die natürlich ebenfalls noch nicht richtig „durchorganisiert“ und „koordiniert“ sind!

Bei einer „wilden Verfolgungsjagd“ in „Toyota-Pritschenwagen mit aufmontierten Waffen“ – „dem typischen afrikanischen Kampfgefährt“ – kann sich  der Autor en passant auf den Kriegs- und Guerillakriegs-Forscher  der Humboldt-Universität Münkler berufen, der den Einsatz dieses Kriegsgeräts in fast allen „Konfliktgebieten“ ausgemacht hat. Auf die „Gaddafi-Truppen“, die ebenfalls solche Toyotas haben, stoßen sie nicht, wohl aber auf einen von deren afrikanischen Söldnern verletzten „Neutralen“ (Zivilisten/Bürger), dem sie u.a. sein „Handy“ geklaut haben, wie die Rotarmisten im letzten“ Weltkrieg“ den Deutschen die Uhren. Die Gaddafi-Truppen sind geflüchtet, der „Haufen“ kehrt nach Brega zurück. „Die Nachricht vom Sieg der Rebellen macht schnell die Runde. Seit einigen Tagen funktionieren die Mobilfunknetze wieder.“ Wie weiland  während der Studentenbewegung, wo wir uns nach einer  „Straßenschlacht“ schnell zum nächsten Fernsehapparat begaben, um  zu sehen, wie wir gewesen waren – diese Manöverkritiken hatten damals den selben Stellenwert wie heute die Sportschau.  Der FAZ-Autor hockt sich ebenfalls vor den Fernseher und sieht sich „die über Satellit übertragenen Bilder eines arabischen Senders aus Brega“ an.

Dabei ändert er seine Meinung vom „desorganisierten Haufen“:

„Auch wenn es nur ein kleines Scharmützel war, hat der Sieg vom Mittwoch für die Rebellen doch Symbolcharakter und stützt ihre Moral. Gezeigt hat das Gefecht aber auch, dass es der libyschen Revolution nicht in erster Linie an Waffen, sondern an militärischer Ausbildung mangelt. Anführer der Rebellen sind sich dessen bewusst und wollen sich deshalb vorerst darauf konzentrieren, die Macht der Aufständischen in den befreiten Gebieten zu konsolidieren.“

Man hat den Eindruck, der deutsche Autor würde am Liebsten selbst diese zwar disziplinlose, aber tapfere Truppe auf Vordermann bringen – „konsolidieren“.

Im übrigen erinnern die vielen von ihm geschilderten Schießereien der Rebellen – in die Luft an die Schilderungen der innerkurdischen Stammeskriege, wie sie von dem holländischen Kurdologen Martin van Bruinessen – in „Agha, Scheich und Staat“ geschildert werden: Es geht dabei weniger darum, Gegner zu erschießen als sie durch das Verschießen der vielen Munition davon zu überzeugen, dass sie keine Chance haben.

AFP meldet heute um 20 Uhr 30:

„Verwirrung um Lage im umkämpften Brega.“ Hoffentlich schafft der FAZ-Korrespondent es, rechtzeitig aus der Stadt raus zu kommen.

Die Süddeutsche Zeitung und die Berliner Zeitung, die anscheinend gerade über keine solche „Frontschweine“ verfügen, schicken dafür zwei ausgewisene deutsche Orientalisten in den Debattenreigen um die richtige Interpretation der arabischen Aufstände. Diese bestehen als erstes darauf, dass man dabei differenzieren müsse – jedes arabische Land  sei anders.

Der Orientalist der SZ, Bernhard Haykel, hatte – ebenso wie auch Al Quaida – damit gerechnet, dass die arabischen Jugendrevolten eine „Form des Islamismus“ annehmen würden:

„Wir hatten nicht damit gerechnet, dass dies eine bürgerliche, westlich orientierte Jugend zwischen zwanzig und dreißig sein würde. Diese Leute waren nicht politisch. Wir dachten, das sind lediglich Leute, die sowieso Geld haben, die die guten Jobs in Dubai und Abu Dhabi kriegen. Wir sahen sie eher als verwöhnte Gören ohne jede Ideologie.“

„Im Moment tappt al-Qaida im Dunklen. Aber da ist sie nicht allein. Die Regimes sind auch ahnungslos. Genauso wie der Westen. Al-Qaida fragt sich vor allem, warum ihr das alles nicht selbst gelungen ist. Irgendwie bewundert sie Figuren wie Wael Ghonim, den ägyptischen Google-Manager, wenn sie sie nicht sogar beneidet.“

Der Autor scheint Al Quaida quasi von innen zu kennen, indem er nämlich deren „gerade heftig geführten internen Debatten“ aufmerksam „im Internet“ verfolgt. Bei den ebenfalls „heftig geführten internen Debatte“ in der taz hat es bisher noch keiner geschafft, sie über das „Internet“ abzuschöpfen. Vielleicht sind aber auch die Themen, um die es dabei geht, zu weit hergeholt („Laufgitter gesucht“ z.B.).

„Al-Qaida kommuniziert im Netz immer noch über Bulletin Boards und Webseiten. Mit Facebook und Twitter kann sie überhaupt nicht umgehen.“

Old School eben:

Sie könnte eine solche „Volksbewegung“ gar nicht mehr initiieren, „weil sich al-Qaida immer auf Gewaltakte konzentriert hat. Ich habe neulich die Predigt des Al-Qaida-Ideologen Abu Baseer Al-Tartusi gehört, in der er beschrieb, wie Ghonim Millionen Menschen bewegen konnte, nur weil er im Fernsehen weinte. Das war dieses Interview mit dem Blogger Wael Ghonim, als er gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde und sie ihm die Bilder der Menschen zeigten, die von Sicherheitstruppen getötet wurden. Das war in Ägypten ein ganz entscheidender Moment, der Hunderttausende mobilisierte. Tartusi war sehr erstaunt, dass es eben Tränen waren, die die Massen mobilisierten.“

Der Islam-Experte siehe einen großen Unterschied in der Sprache der Islambrüder von Al Quaida und der Facebook-Generation:

„Die Sprache der al-Qaida ist religiös, aufwühlend, strotzt nur so vor Kraft, aber al-Qaida spricht nicht über die Würde des Einzelnen. Das klingt alles so, als hätte sie irgendein Utopia im Sinn, aber es wird nicht wirklich klar, was sie wirklich will. Sie sagt einfach, vertraut uns nur, wir werden das islamische Recht einführen, und alles wird gut.

Sowohl Al Qaida als auch Mubarak sprachen immer in einem sehr klassischen Arabisch. Das waren Stimmen der Vergangenheit. Mubaraks Sprache war dabei sehr herablassend. Er hat seine Bürger wie dumme Kinder behandelt. Er hat mit Klischees argumentiert, mit der unsichtbaren Hand des Auslands, mit vermeintlichen Verschwörungen der Juden, der Israelis, der Amerikaner. Das empfanden die meisten als Beleidigung. Dabei klang er sehr steif, als hätte er den Draht zum Volk schon lange verloren.“

Die „jungen Revolutionäre“ dagegen „sprechen sehr persönlich. Da klingt vielleicht Nationalismus an, aber es geht doch sehr um den Individualismus. Das wirkt alles sehr ernsthaft und ehrlich. Diese Sprache berührt. Außerdem mischen sie es mit Englisch und zeigen so, dass sie zu einer globalen Kultur gehören. Das ist eine sehr zeitgemäße Umgangssprache.“

Wie geht es aber nun weiter – schon landet auch er bei den libyschen Aufständischen und seiner Aufwirkung auf die anderen arabischen Staaten:

„Das Blutvergießen in Libyen könnte ähnlichen Bewegungen in Syrien zum Beispiel eine Warnung sein, dass der Preis für einen Wandel unter Umständen zu hoch ist. In Syrien, Jemen oder Bahrain könnte es zu ähnlichen Kämpfen kommen. Man darf den Nahen Osten aber nicht als monolithische Region sehen.
Jedes dieser Länder hat eine andere Gesellschaftsstruktur. In Syrien gibt es eine Minderheitensekte, die das Land dominiert. Die Alawiten. Für die wären Unruhen auch ein Kampf, bei dem sie alles verlieren könnten. Da ist ein Blutbad nicht auszuschließen. Das einzige Zugeständnis, das sie vielleicht machen würden, wäre, Leute zu schmieren, um die Opposition zu spalten. Was derzeit viele Länder machen.“

„In Bahrain haben sie jeder Familie mehrere tausend Dollar gegeben. In Saudi-Arabien werden gerade alle möglichen Subventionen erhöht. Fast alle Golfstaaten geben derzeit viel Geld für Bestechung und Subventionen aus. Wo immer es Öl gibt, können es sich Regierungen leisten, nicht nur die Opposition, sondern auch große Teile der Bevölkerung mit Geld ruhigzustellen.“

Und was Ägypten betrifft:

„Bei der Forderung nach mehr Würde geht es nicht nur um individuelle Menschenwürde, sondern auch um nationale Würde. Ägypten hat Besseres verdient. Es muss wieder zum Herz der arabischen Welt werden, zum Zentrum des kulturellen, intellektuellen, wirtschaftlichen Lebens.“

Der „Orientalist“ aus Beirut/Princeton-University kuckt sich in diesem Zusammenhang an, was seine arabischen Kollegen, die „Okzidentalisten“ dazu beitragen könnten:

„Es gibt einen Austausch zwischen den nordafrikanischen Intellektuellen in Tunesien, Algerien, Marokko und Paris. Einiges ist ins Netz abgewandert. Aber wenn man das große Ganze betrachtet, ist das eine ziemlich armselige Veranstaltung.“

Und wie halten es die Facebooker mit der islamischen Religion?

„In vielen Punkten fordern die Jugendbewegung, Islam und auch der Islamismus dieselben Dinge. Die Religion des Islam fordert soziale Gerechtigkeit, eine Regierung, die zur Verantwortung gezogen werden kann, dass der Wohlstand eines Volkes nicht vergeudet oder gestohlen wird. Folter ist nicht akzeptabel. In anderen Punkten widersprechen die Jugendbewegungen dem Islam allerdings. Die Gleichbehandlung der Religionen und Geschlechter sind zum Beispiel keine islamischen Werte.“

Der Islam-Experte votiert in diesem Zusammenhang für das „türkische Modell“ des neoliberalen Erdogan. Und dafür nun der ganze Forschungsaufwand – die hunderte von Stunden vor dem Bildschirm, um Al Quaida-Interna zu studieren und Al Dschasira-News zu verfolgen.

Zur Einordnung der Gesamtbewegung in die Revolutionen und Aufstände seit 1848:

„Mit 1989 kann man das nur schwer vergleichen. Da gab es in Russland und Osteuropa keine Jugendblase. Es gab nichts Vergleichbares zur Macht des Internets und der sozialen Medien.“ (Sein Wort „Jugendblase“ hat der „Orientalist“ Gunnar Heinsohn sich mit „Youth-Bulg in der Bevölkerungspyramide“ ins Deutsche übersetzt!)

„Der Vergleich mit Iran 1979 funktioniert auch nicht. Da gab es eine Revolution, die zunächst sowohl links, als auch nationalistisch und islamistisch war, dann aber von den Islamisten kooptiert wurde. In Ägypten haben wir es mit einer unideologischen Jugendbewegung zu tun, die die Revolution bis zu dem Punkt brachte, an dem der Staatschef zurücktritt. Aber es gibt keinen wirklichen Umsturz, weil das Regime in Gestalt der Armee immer noch an der Macht ist. Und es ist nicht ganz klar, wo die Islamisten stehen, und ob sie letztlich die Jugendbewegung zerstören, um die Macht zu übernehmen. Wir haben es also wirklich mit einer ganz neuen Situation zu tun. Doch wir wissen nicht, ob es eine richtige Revolution ist, weil der Wandlungsprozess erst am Anfang steht.“

Mit Tschou En-lai könnte der Islamwissenschaftler auch sagen: „Es ist noch zu früh, um diese „Revolution“ beurteilen zu können. Der rotchinesische Ministerpräsident bezog diese Äußerung seinerzeit allerdings auf die Französische Revolution 1789.

Die Berliner Zeitung hat ihre Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer schon öfter interviewt  – 2008 z.B. zu der Frage „War Mohammed ein Feminist?“ („Wenn man liest, was junge engagierte Musliminnen in Internetforen schreiben, reibt man sich verwundert die Augen. Da ist von „Gendergerechtigkeit“ und sogar von „Gender Jihad“ die Rede – wobei Jihad nicht als Krieg, sondern als „große Anstrengung“ – zu verstehen ist“). Im heutigen Interview mit iher geht es darum, dass „Auch Muslime sich einen Rechtsstaat wünschen“ – also um den „Demokratisierungsprozeß in der arabischen Welt“:

Frau Krämer ging noch nie davon aus, dass irgendein Volk unfähig zu „Idee und Praxis der Demokratie“ ist. Sie wüßte andererseits auch von keiner Alternative zu Parlamenten, Parteien, Wahlen…Aber es gibt natürlich doch unterschiedliche „historische Voraussetzungen“ in den einzelnen arabischen Ländern. Das gilt auch für die Anwendung der Scharia, die ebenso unterschiedlich ist.

Zudem kann man aus ihr sowohl ein „westliches Werteverständnis“ als auch eine „Einschränkung von Menschenrechten“ ableiten. Da sind wir wieder bei der Französischen Revolution – und keinen Schritt weiter! Die Berliner Zeitung will es genau, ob man das den Deutschen wirklich zumuten kann: „Was bietet die Scharia für eine demokratische Grundordnung an?“

Man müßte die Scharia dazu noch einmal neu interpretieren, dann könne sie z.B. auch so etwas Vertracktes wie die „Gleichheit der Geschlechter garantieren“.

Und das dann auch für alle – Gläubige wie Ungläubige? (die Leser der Berliner Zeitung sind nach wie vor mehrheitlich Ungläubige! – Anm.d.Red.)

Ja, sagt Frau Krämer, es gibt eine solche Scharia-Interpretation von „einflussreichen Muslimen“

Also wären auch „säkulare Staaten“ als Resultat der Aufstände möglich? Das kann sie noch „nicht erkennen“, irgendwas Islamisches wird bleiben, aber Tunesien verspricht diesbezüglich „interessant“ zu werden. Im übrigen waren dort wie auch in Ägypten die Initiatoren der Aufstände Ägypten keine religiösen Gruppen, sondern „relativ gut ausgebildete und sehr gut vernetzte junge Leute“, die dann von allen sozialen, religiösen und Alters- und Geschlechtergruppen aus den Städten getragen wurden.

Durch diese Aufhebung aller Trennungen ist genau das passiert, wovor sich die Regime immer gefürchtet haben. Nun müssen sich jedoch aus diesem Zusammenkommen politische Parteien bilden, meint die Islam-Expertin.

„Der Blick auf Nordafrika ist für den Westen zugleich ein Blick in den Spiegel?“

“In der Tat,“ antwortet Frau Krämer – und man denkt schon, da geht es um die Chancen eines Aufstands der europäischen Facebook-Generation, nein, es geht darum, dass „der Westen“ erst diese menschenverachtenden Regime dort in Arabien aus niedersten Motiven (Öl) unterstützt hat und dass jetzt erst recht sein „entschiedenes Handeln“ gefordert ist, also „zu Gunsten der Demonstranten zu agieren“.

In der FAZ wagen heute der algerische Regisseur Nacim Kheddoucci und der „Maghreb-Berater“ Claus Josten eine Deutung des Arabischen Aufstands – unter der Überschrift „Die Zivilgesellschaft ist am Ende“:

Auch in Algerien schien der „Funke zu zünden“. Nun leiten jedoch die „Samstagsmärsche“ – als „Ventil für den Volkszorn“  – wie „manche meinen“ eine „Transition“ (George Soros) ein, ein Begriff, „der der neuen amerikanischen Doktrin vom sanften Übergang entspricht“. Ihr Résümee lautet: „“Unfähigkeit, Nichtwissen und Blindheit der westlichen Gesellschaften beim Dialog mit Afrika und der arabischen Welt werden in diesen Tagen sehr deutlich.“

Freundlicherweise erwähnen sie den neuen Film der algerischen Regisseurin Habina Djahnine, der den schönen Titel hat:

„Vor dem Überschreiten der Linie am Horizont“

Die Jungle World hat in Voraussicht auf den internationalen Frauentag einen Bericht über ägyptische Frauen von Helga Hansen – „Revolution in jedem Haus“ sowie ein Interview mit der ägyptischen Feministin Aida Saif al-Dawla veröffentlicht:

Frau Hansen schreibt:

„Die Bloggerin Zeinobia war skeptisch. Noch am 19. Januar fragte sie auf egyptianchronicles.blogspot.com: »Wird der 25. Januar ein beachtenswerter Tag in unserer Geschichte werden?« Er wurde weit mehr als ein beachtenswerter Tag, inzwischen steht fest, dass der 25. Januar, der »Tag des Zorns«, als Beginn der ägyptischen Revolution in die Geschichte eingehen wird.

Ermutigt von den Erfolgen der tunesischen Demokratiebewegung ging die ägyptische Bevölkerung auf die Straße. Angetrieben wurden die Proteste auch von einem Video einer jungen Ägypterin. In einer knapp fünfminütigen selbstgedrehten Ansprache wandte sich Asmaa Mahfouz an ihre Mitmenschen und mahnte die Unterstützung des Protests an. Es gehe nicht um politische Rechte, sondern um etwas noch viel Fun­damentaleres: um Menschenrechte, die es endlich von der korrupten Regierung einzufordern gelte. Wer zu Hause bliebe, sei eine Schande für sich selbst und eine Schande für die Protestbewegung.

Auf ihrem Blog »Brownie« (http://atbrownies.blogspot.com) beschrieb sie den Konflikt mit ihrer eigenen Familie, die ihre Teilnahme an den Demonstrationen zu verhindern suchte. Doch nicht einmal die Drohung, dass sie nicht wieder nach Haus zurückkehren dürfe, konnte sie aufhalten. Wie ihr erging es auch anderen Frauen, so dass sie schließlich schrieb: »Die Revolution findet nicht nur auf dem Tahrir-Platz statt, sie ist in jedem ägyptischen Haus.«

Die Öffentlichkeit als Männersphäre und das Private als Frauensphäre – in Ägypten hielt sich dieses Dogma des Patriarchats bis heute. Praktisch bedeutete dies für Frauen, dass sie sexuelle Belästigung fürchten müssen, sobald sie das Haus verlassen. Das Ägyptische Zentrum für Frauenrechte (ECWR) berichtete 2008 in einer Studie, dass 83 Prozent der Ägypterinnen und 98 Prozent der in Ägypten lebenden Ausländerinnen bereits belästigt wurden. Für viele war das sogar ein tägliches Erlebnis, aber kaum eine Frau ging zur Polizei. Im vorigen Jahr wurde erstmals im Parlament diskutiert, sexuelle Belästigung explizit als Straftat zu werten. Die Frauenrechtlerinnen waren jedoch skeptisch. Für eine echte Verbesserung bedürfe es eines kulturellen Wandels und mehr Respekts vor Frauen. Mit dem gemeinsamen Kampf der vergangenen Wochen könnte diese Veränderung begonnen haben.

Die Augenärztin und Bloggerin Eman Hashim engagiert sich schon seit einigen Jahren für Frauenrechte, sie kämpft gegen häusliche Gewalt und Genitalverstümmelung. Sie beteiligte sich an den Protesten auf dem Tahrir-Platz in Kairo und berichtete über Twitter. In der Menschenmenge sei sie niemals in unangenehmer Weise berührt oder auch nur angeschaut worden. Für sie war das der Beginn eines neuen Umgangs zwischen Männern und Frauen: »Das große Problem war immer, dass Frauen als Objekte gesehen wurde. Aber nachdem die Männer uns Seite an Seite haben kämpfen sehen, schreiend, Veränderungen verlangend, Treffer von Bomben und Geschossen einsteckend und auf der Straße schlafend – ich denke, sie wissen sehr gut, dass wir alle gleich sind.« Für sie ist das Engagement der Frauen auch nichts Neues. Sie haben so lange für ihre Rechte gekämpft, wie sie sich erinnern kann. Trotzdem will sie die positiven Veränderungen und den Schwung der Revolution nutzen. Für den Internationalen Frauentag am 8. März sind die nächsten Aktionen geplant, das Thema ist »Revolution«.

In Algerien ist die Gleichberechtigung schon weiter fortgeschritten, Frauen stellen ein Drittel der Anwälte im Land, Abtreibungen wurden früher als in den USA legalisiert. Die Beteiligung zahlreicher Frauen an den Protesten war daher selbstverständlich, doch fürchten nun einige Frauen, bisher verbotene religiöse Parteien könnten sich dafür einsetzen, ihre Rechte wieder zu beschneiden. Andere halten die feminis­tische Bewegung für stark genug, um solche Angriffe abzuwehren, sie sei durch ihren jahrelangen Einsatz für Demokratie allgemein anerkannt. Tatsächlich kommen zu den Demonstrationen von Frauenrechtsorganisationen weit mehr Menschen als zu islamistischen Aufmärschen.

Eine der wichtigsten Quellen zu den Protesten in Tunesien ist die Bloggerin Lina Ben Mhenni (atunisiangirl.blogspot.com). Sie reiste durch das Land, fotografierte die Toten und die Zerstörung und schrieb darüber auf Arabisch und Französisch, einige Beiträge sind sogar auf Englisch und Deutsch erschienen. Außerdem setzt auch sie sich speziell für Frauen ein, berichtet darüber, dass die Frauenrechte zwar gesetzlich garantiert, im politischen Leben aber nicht verwirklicht sind, und stellt andere Feministinnen vor. Von einem Einbruchsdiebstahl in ihrer Wohnung ließ sie sich von der Arbeit nicht abhalten. Inzwischen bemüht sie sich darum, der tunesischen Jugend noch mehr Medienkompetenz zu vermitteln – unter anderem mit Hilfe von Blogs.

Doch nicht nur in Ägypten und Tunesien haben sich Frauen engagiert, auch bei den Protesten in Libyen, Bahrain und im Jemen sind sie unter den Demonstrierenden und produzieren beispielsweise Youtube-Videos, die an ihre Mitmenschen appellieren, auf die Straße zu gehen. Viele Frauen wurden auch verhaftet. Und in einem Land, das bisher verschont blieb, könnte sich etwas ändern: In Saudi-Arabien plant eine Facebook-Gruppe für den 11. März Demonstrationen. Sie fordert explizit auch die Gleichberechtigung der Frauen und die Abschaffung der Diskriminierung. Darüber hat unter anderem Eman al-Nafjan berichtet, eine bekannte saudische Bloggerin, die sich für Frauenrechte einsetzt. Wie bedeutend die Proteste werden, ist noch unklar, doch selbst in Saudi-Arabien, wo Frauen nicht einmal ein Auto lenken dürfen, werden sie eine wichtige Rolle spielen.“

Frau Saif al-Dawla sagt in dem Interview:

„Die Forderung nach Frauenrechten wurde nicht sehr laut gestellt. Auf der anderen Seite zeigt die Teilnahme von vielen Frauen an den Protesten, dass Frauenrechrte nicht mehr in Frage gestellt werden können.

In jedem Fall hat Ägypten jedoch noch einen langen Weg vor sich. Es gibt Leute, die behaupten, die Revolution sei vollzogen. Doch davon sind wir noch weit entfernt.“

Der deutsche Chaos-Computer-Club hat den aufständischen Bloggern u.a. in Oman und Libyen mit Rat und Tat geholfen, als die Regime das Internet torpedierten. Einige waren auch vor Ort. Ihr Eindruck ist:

Als das Internet abgestellt wurde, gingen die jungen Leute auf die Straße – und spielten das nach. „World of Warcraft“ z.B.. Sie hatten sich aus Langeweile ins Facebook begeben. (Mündliche Mitteilung)

dpa meldet um 17 Uhr 15:

Die USA bereiten sich nach einem Bericht der „Washington Post“ auf die Möglichkeit neuer islamistischer Regime in Nordafrika und Nahost vor. Grundlage ist demnach die Erkenntnis, dass die Volksaufstände in den Regionen politische Führungen hervorbringen könnten, die stärker religiös geprägt sind.

Zurzeit sei die US-Regierung mit der Analyse verschiedener politischer Bewegungen beschäftigt, heißt es in der Freitagausgabe der Zeitung. Dabei gelte es für das Weiße Haus, zwischen den Ideologien und Ambitionen der einzelnen Gruppen oder Strömungen zu differenzieren. Sie wichen teils stark voneinander ab, so etwa im Fall der Muslimischen Bruderschaft in Ägypten und der Al-Kaida, wie eine interne Einschätzung im Auftrag des Weißen Hauses ergeben habe.

„Wir sollten uns nicht vor Islam in der Politik dieser Länder fürchten“, zitiert das Blatt einen namentlich nicht genannten hochrangigen US-Regierungsbeamten. „Wir werden die politischen Parteien und Regierungen nach ihrem Verhalten beurteilen, nicht nach ihrem Verhältnis zum Islam.“

AP meldet um 19 Uhr 4:

In Libyen haben sich die Protestbewegung und loyal zu Machthaber Muammar al Gaddafi stehende Truppen am Freitag heftige Kämpfe um die Stadt Sawija geliefert. Mindestens 18 Menschen wurden nach Angaben eines Augenzeugen getötet und 120 weitere verletzt. In der Hauptstadt Tripolis gingen Sicherheitskräfte mit Tränengas gegen hunderte Demonstranten vor, die den Rücktritt Gaddafis forderten.

Regimetreue Truppen hätten Sawija von zwei Seiten aus angegriffen, erklärte der Gewährsmann. Die Stadt werde aber weiter von der Protestbewegung gehalten. Das rund 50 Kilometer westlich von Tripolis gelegene Sawija war in den vergangenen Tagen immer wieder Ziel von Angriffen Gaddafis.

In Tripolis versammelten sich nach dem Freitagsgebet zahllose Menschen zu Protesten, obwohl das Regime die Präsenz von Sicherheitskräften deutlich erhöht hatte. Allein im Stadtteil Tadschura strömten rund 1.200 Menschen aus einer Moschee und forderten in Sprechchören Gaddafis Rücktritt. Am vergangenen Freitag waren Gaddafi-treue Milizen mit brutaler Härte gegen Demonstranten in der Hauptstadt vorgegangen und hatten eine bisher unbekannte Zahl von Menschen getötet.

Bereits seit Tagen kommt es in Tripolis regelmäßig zu Verhaftungen. Die Leichen von Menschen, die plötzlich verschwunden waren, wurden häufig später auf offener Straße abgeladen. Videoaufnahmen zeigen, dass Milizen auch nachts mit Geländewagen durch die Stadtviertel fahren und Oppositionelle aus ihren Häusern verschleppen.

„Die schweren Gefechte in Libyen dauern an. Ein Zentrum der Kämpfe: der Ölhafen Ras Lanuf. Laut einem TV-Bericht soll es dort zahlreiche Tote gegeben haben. Die US-Regierung plant weitere Maßnahmen, um den Druck auf Gaddafi zu erhöhen“, meldet der Spiegel auf seinem „Libyen-Ticker“.

Um 19 Uhr 12 heißt es dort:

Ein Reporter der britischen Zeitung „Guardian“ berichtet al-Dschasira von seinen Erlebnissen in Tripolis. Nach den Freitagsgebeten seien die Proteste in Teilen der libyschen Hauptstadt sofort auseinandergetrieben worden. Er habe Hunderte von Soldaten und Dutzende Panzer gesehen. Gaddafi-treue Milizionäre schossen nach Angaben von anderen Augenzeugen in die Luft.

Die letzte Nachrichtenmeldung aus Sawija lautet:

Truppen des libyschen Machthabers Muammar Gaddafi haben sich am Samstag mit Aufständischen erbitterte Kämpfe in der Küstenstadt Sawija geliefert. Dabei kamen nach Angaben eines Arztes mindestens 30 Menschen ums Leben, zumeist Zivilisten.

Ein Sprecher der Aufständischen berichtete aus Sawija, die Regierungstruppen seien am Morgen mit Hunderten Soldaten und Panzern in die Stadt vorgerückt, die etwa 50 Kilometer westlich der Hauptstadt Tripolis am Mittelmeer liegt. Es sei gelungen, die Offensive zurückzuschlagen. Im Laufe des Tages umstellten Gaddafi-treue Truppen aber die Stadt und errichteten etwa drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt Kontrollpunkte.

Auf seinen Live-Blogs meldet Al Dschasira:

Thousands gathered in Tahrir Square on Friday.

Anti-Government Proteste in Bahrain, im Irak und im Jemen.


Für die Junge Welt schrieb ich – über Feste Freunde und Facebook-Friends:

Spätestens als Aristoteles die (monosexuelle) Freundschaft in den Rang einer Tugend hob, wurde diese kultiviert. Erst mit dem Militär und dem militarisierten Christentum geriet sie in Zweifel. Der Pariser Philosoph Michel Foucault erwähnt dazu die Jesuiten. Um die homosexuellen Begehren in den Männerbünden zu bekämpfen, kam man auf die „Bruderschaft“ und „Kameradschaft“, letztere wurde bald auch auf den Handelsschiffen hoch gehalten. Die Militärmaschine übersetzte sich währenddessen in die industrielle. Der proletarische Kumpel ist noch immer homophob. Umgekehrt bezeichnete der Pariser Philosoph Michel Foucault 1982 „das Problem der Freundschaft“ als das neue Ziel, auf das die Schwulenbewegung zusteuere. Auch für die heterosexuellen Liebesbeziehungen ist die Freundschaft ein Problem. 2002 heißt es in der „Einführung in den Bürgerkrieg“ der Pariser Gruppe Tiqqun: „In der ziemlich reichhaltigen Sammlung von Mitteln, die der Westen bereit hält, um sie gegen jegliche Form von Gemeinschaft anzuwenden, findet sich eines, das ungefähr seit dem 12. Jahrhundert eine gleichermassen vorherrschende als auch über jeden Verdacht erhabene Stellung einnimmt: das Konzept der Liebe. Man muß ihm, über die falsche Alternative, die es jetzt allem aufzwingt („liebst du micht oder liebst du mich nicht?“), eine Art ziemlich furchterregender Effizienz bezüglich dem Vernebeln, Unterdrücken und Aufreiben der hochgradig differenzierten Palette der Affekte und der himmelschreienden Intensitätsgrade, die beim Kontakt zwischen Körpern entstehen können, zugestehen. So half dieses Konzept mit, die gesamte extreme Möglichkeit der differenzierten Ausbildung der Spiele zwischen den unterschiedlichen Lebensweisen einzuschränken.“

Daraus folgt u.a.: Die Liebe steht der Freundschaft quer. In der Umgangssprache ist die Liebe sexuell und muß es auch sein, drückend gar, während die Freundschaft möglichst „platonisch“ daherkommen soll, in „partnerschaftlichem Umgang“. Man spricht von „Idealpartnerschaften“, das meint nicht selten Ehepaare, die sich immer noch lieben und gleichzeitig dicke Freunde geblieben bzw. geworden  sind. Für die Intelligencija war dies ein  Aufklärungsziel: die frei gewählte, gleichberechtigte Beziehung ,sei sie hetero- oder homosexueller Natur und Kultur.

Mit der „intelligenten“ Technik kommt nun angeblich ein neuer Partnerschaftsbegriff auf: die Facebook-Friends. Zum Einen ist hier die Anzahl nicht unwichtig und zum Anderen der Ort der „Begegnung“ entwertet, entkrampft quasi. Aber während z.B. die „Facebook-Generation“ von Kairo mit ihrer ganzen Privatheit ins Internet sozusagen flüchtete – um sich von dort aus wieder in die reale Öffentlichkeit vorzutasten, und schließlich kollektiv vorzustürmen (ein Zeit-Korrespondent schlug sich neulich als erster deutscher Journalist zur „libyschen Blogger-Zentrale“ durch), scheint es hierzulande genau umgekehrt zu sein: dass die „Facebook-Generation“ sich als schon fast Atomisierte aus einem zu viel an Öffentlichkeit in eine kollektive Privatheit stürzt.

Die hiesige  Nachkriegs-Intelligenz will ihr da nicht mehr folgen. Das ist ihnen alles zu oberflächlich und konsumistisch: In zwei neuen Romanen (von Horst Bosetzky und Silvia Bovenschen) sind die gealterten Schriftsteller bereits dabei, aus ihrem schrumpfenden Marktsegment  auszusteigen. Sie hätten einst schon den ersten Personalcomputer am Liebsten ihrer Sekretärin überlassen, so sie eine hatten. Aber dann wurde diese als erstes wegrationalisiert. An der Universität Bremen hatte dieses Unglück der marxistische Erkenntnistheoretiker Alfred Sohn-Rethel bereits1974 in seinem Seminar über die Auswirkungen der „Maschinisierung von Kopfarbeit“ geahnt. Dass es jetzt aber auch die schöpferische Intelligenz selber erwischt hat…

Der Pariser Soziologe Michel Maffesoli  sieht sie bereits durch die neuen „Facebooker“ ersetzt. So wie man einst von der Einheit von Theorie und Praxis sprach, sind für ihn jetzt die Steine werfenden Jugendlichen in der Pariser Banlieue  im Grunde mit denen identisch, die sich in Internetforen anonym  über Oral- oder Analsex und das Leben überhaupt auslassen. Beides  zeugt Maffesoli zufolge vom Ende des „Individualismus“, dem Leiden an der Privatisierung und der Rückkehr zu Gemeinschaftsidealen: dem Wunsch nach Aufhebung aller Trennungen, der dabei durchaus der Lust quer kommen kann, wie der Pariser Philosoph Gilles Deleuze gegenüber Michel Foucault zu bedenken gab.

Die taz widmet heute der Musik das Arabischen Aufstands mehrere Artikel. Adrian Fariborz schreibt über“Die Jungs aus Bab el-Qued“:

Wenn sich in den letzten Wochen viele Beobachter im Westen ungläubig die Augen gerieben haben über die Intensität der Aufstände gegen die Despotien in der arabischen Welt, ist das nur Indiz dafür, wie wenig man die Unzufriedenheit der Zivilgesellschaften wahrhaben wollte. Das gilt insbesondere für die Jugend, die sich vehement gegen die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung, der künstlerischen Freiheit, die soziale Misere und die berufliche Perspektivlosigkeit in ihren Ländern auflehnt.

Junge Menschen, die heute die Bevölkerungsmehrheit in den arabischen Staaten stellen, waren bereits seit Jahrzehnten – wie in Ägypten – die Leidtragenden, so wie es der Soziologe Saad Edin Ibrahim formulierte: Sie waren Opfer von Zensur, Folter und juristischer Willkür. Es war ihre Ohnmacht, die nun das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

Karim Kandeel, Sänger und Gitarrist der Punkband Brain Candy aus Kairo, ist einer jener Verzweifelten, die viel gelitten hatten. „Wir waren schon hirntot und krepierten langsam, aber sicher vor uns hin“, fasst der 23-Jährige die Jahrzehnte unter Mubarak zusammen. „Unsere Songs handeln von negativen Erlebnissen, von dem Frust und dem Gefühl, auf immer hier gefangen zu sein.“ Brain Candy machten ihre Musik in dem festen Glauben, dass sie einem größeren Publikum verwehrt bleiben würde, da ihre rebellische Haltung zu sehr bei der Obrigkeit anecken und – angeblich – die religiösen Gefühle der Menschen verletzen könnte. Mit dem unerwartet schnellen Fall des Pharao schöpft Kandeel neue Hoffnung: „Wir haben schon nicht mehr daran geglaubt, dass sich je etwas ändern könnte. Nun atmen wir zum ersten Mal den Duft der Freiheit.“

Wie Kandeel geht es vielen Musikern, die vom ägyptischen Staat systematisch schikaniert wurden. Während des 18-tägigen Aufstandes strömten sie zahlreich zum Kairoer Tahrir-Platz, um ihren Unmut über das Regime Luft zu machen und lautstark die Anti-Mubarak-Chöre der Demonstranten auf dem zentralen Platz der Befreiung zu begleiten.

Junge Musiker fühlen sich durch das politische Erdbeben nun ermutigt, offen gegen die Zustände zu protestieren. Die Rapcrew Arabian Knightz aus Kairo geißelt in ihrem Song „Not your prisoner!“ die Polizei-Brutalität bei der versuchten Niederschlagung des Aufstandes. Das auf Arabisch und Englisch rappende Trio rief in seinem Song „Rebel!“ schon während der Proteste zum Sturz des Regimes auf. Ihre Parolen seien „emotional aufbauend“ und drücken „Herz, Mut und Geist des ägyptischen Volkes“ aus, sagen sie selbst. Ganz ähnlich The Narcicyst (feat. Amir Sulaiman, Ayah, Freeway, Omar Offendum), die im Stil US-amerikanischer Rapper in schroffen Beats mit ihrem Videoclip „25. Januar“ den Beginn der Unruhen der Revue passieren lassen. Die Zeiten, als Musiker und Popfans in Ägypten vom Geheimdienst inhaftiert und diffamiert wurden, scheinen endlich vorbei zu sein.

Die Entwicklung in den benachbarten Maghrebstaaten verlief dagegen völlig anders. In Algerien und Tunesien hat sich eine politisch aufgeklärte Generation junger Musiker etabliert, die mit Hilfe von Rap herrschende Missstände, Korruption und Vetternwirtschaft der politischen Eliten in ihren Ländern anprangert. Im Verlauf der „Jasminrevolution“ avancierte der Protestsong „Herr Präsident, Ihr Volk stirbt!“ des tunesischen Rappers Hamada Ben Amor (auch El Général genannt) zum Hit. In dem Text kritisiert der 22-jährige Rapper aus der Hafenstadt Sfax Verschwendungssucht und Selbstbereicherung der Präsidentenfamilie sowie die grassierende Armut in seinem Land. Via Facebook, YouTube und Twitter erlangte El Général rasch Popularität. Die Resonanz war so überwältigend, dass ihn die tunesische Geheimpolizei verhörte. Auch der tunesische Rapper Balti – alias Dragonbalti – gilt wegen seiner sozialkritischen Reime als Ikone der HipHop-Subkultur. Auch er war den Tugendwächtern ein Dorn im Auge.

Das große Vorbild für Tunesiens Rapper ist zweifellos die seit langem aktive HipHop-Szene in Algerien. Von dort haben sich die Styles und Beats bereits Ende der neunziger Jahre in die gesamte arabische Welt ausgebreitet. HipHop lief dem bis dahin bei der algerischen Jugend so populären Raï-Folk-Pop den Rang ab und entwickelte sich während des „schwarzen Jahrzehnts“ des Bürgerkriegs zum politischen Sprachrohr der sozial entrechteten, prekären Jugendlichen in den Armenvierteln der großen Metropolen von Algier, Annaba und Oran.

Mehr denn je trifft HipHop das Lebensgefühl der algerischen Jugend, die heute wieder gegen das Regime Bouteflika aufbegehrt. Fast ein Jahrzehnt nach Kriegsende haben sich die Lebensbedingungen nicht wesentlich gebessert. Vom Reichtum profitiert die kleine wirtschaftliche und politische Elite des Landes. Der Großteil der Bevölkerung geht leer aus, allen voran die Jugend. Perspektivlosigkeit bestimme ihren Alltag, wie Nabil Bouaiche von der algerischen HipHop-Crew Intik berichtet: „75 Prozent der Bevölkerung unter 30 – eigentlich wären das genug Menschen, um ein wunderbares Land aufzubauen. Aber das Gegenteil ist der Fall! Wir rackern uns ab und kämpfen ums tägliche Überleben. Menschen mit Hochschulabschlüssen müssen sich als Kellner durchschlagen. Uns fehlen die finanziellen Mittel, um Musik zu machen. Wir mussten ständig drauflegen, um Tracks zu produzieren zu können. Einer von uns versetzte sogar einmal seine Schuhe, um die Studioaufnahmen zu bezahlen!“

Die Misere der Jugend droht nun auch in Algerien in einen Aufstand der Entmündigten umzuschlagen. Während der Brotunruhen 1988 standen sie auf, um gegen die Diktatur der FLN-Einheitspartei unter Chadli Benjedid zu demonstrieren. Und schon damals galt das verarmte Arbeiterviertel Bab El-Oued als Zentrum des Widerstands. In Bab El-Oued war es denn auch, wo sich zum ersten Mal in der arabischen Welt in den neunziger Jahren eine vitale, politisierte Hip-Hop-Bewegung zu formieren begann. Heute stehen die demonstrierenden Jugendlichen aus Bab El-Oued erneut im Fokus der Weltöffentlichkeit, um mit dem Mikrofon oder dem Stein in der Hand erneut gegen die sozialen Missstände zu protestieren. Nichts hat sich geändert. Und so bewahrt sich auch heute, was Le Micro brise Le silence (MBS), eine der angesagtesten algerischen Rapcrews und Pioniere der HipHop-Szene, bereits vor Jahren in ihrem Kultsong „Monsieur le Président“ beklagten, nämlich die anhaltende „algerische Tragödie“: „Monsieur Le Président hat gesagt: Algerien ist ein Haus aus Glas!/ Kommt, schaut her: Alles klar, wir sind doch Freunde!/ Von der Terrasse bis zur Garderobe alles voller Leichen!/ Die ganze Welt weiß es! Wozu noch darüber im Fernsehen reden!/ Diese Leute töten nicht mehr, also lasst sie doch!/ Unsere Generäle haben sich die Taschen voll gestopft, na und?/ Wem nützen schon die Namen und die Nummern der Schweizer Konten?/… Doch für uns ist das keine Diktatur mehr wie vor 40 Jahren, weil wir inzwischen die Kunst der Folter gelernt haben!“

(Der Autor ist Islam- und Politikwissenschaftler und Redakteur des Onlinemagazins Qantara.de. 2010 erschien im Palmyra-Verlag: „Rock the Kasbah – Popmusik und Moderne im Orient“.)

Susanne Knaul schreibt über den „Macher des Gaddafi-Songs“:

Noy Alooshe haucht ein müdes „Ja“ in den Telefonhörer. Seit einer Woche schläft der 31-Jährige nur noch sporadisch. Den halben Tag verbringt er damit, über Musik und Musiker zu schreiben, den anderen halben Tag damit, selbst Lieder zu machen. Jedenfalls war das so, bevor ihn sein YouTube-Hit „Zenga Zenga“ zur „Web-Celebrity“, wie er sagt, gemacht hat. Jetzt muss Alooshe Interviews geben über den Filmspot, in dem er den libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi von Hip-Hop-Rhythmen unterlegt zur pathetisch wütenden Witzfigur werden lässt.

Der Titel „Zenga Zenga“ ist ohne jede Bedeutung, nur dass er sich im Klang an die arabischen Worte „Zanqa, zanqa“ anlehnt, die Gaddafi mehrmals wiederholte, als er damit drohte, „die Demonstranten zu jagen“ bis in die letzte zanqa, die letzte Gasse. Vier Millionen Mal, so sagt Alooshe, sei der Spot schon angeklickt worden. „Ich dachte, die Sache wird vielleicht in Israel ein bisschen Wind machen“, meint der junge Musiker, dessen Großeltern in den 50er Jahren aus Tunesien nach Israel kamen. „So etwas hätte ich mir nie erträumt.“

Obwohl ihn inzwischen wiederholt Morddrohungen erreichen, bleibt Alooshe gelassen. „Ich bekomme alle möglichen Reaktionen“, sagt er. „Manche schreiben ,Tod den Zionisten‘ oder drohen, dass sie mich töten werden. Das hat jedes Maß verloren.“ Anderen, „auch Palästinensern“, gefällt der Hit. „Ein Libanese hat geschrieben, er hofft, dass es bald Frieden mit Israel gibt.“ Am meisten habe er sich über eine Nachricht aus Libyen gefreut. „An dem Tag, an dem Gaddafi fällt, werden wir zu ,Zenga Zenga‘ tanzen“, heißt es dort. Das sei gut möglich, denn „in Marokko tanzt man jetzt schon in den Pubs dazu“.

Schon am dritten Tag nachdem Alooshe seinen Film ins Internet gestellt hat, kamen die ersten Angebote aus dem Ausland, um den Gaddafi-Hit als Klingelton für Handys zu vermarkten. Der Bitte einiger junger Iraner, einen ähnlichen Song diesmal mit Ahmadinedschad zu machen, will Alooshe vorläufig nicht nachkommen. „Ich habe keine Ambitionen, zum Hymnenschreiber arabischer Revolutionen zu werden.“ Stattdessen soll es noch einen Spot mit Gaddafi geben.

In der Le Monded Diplomatique schrieb 2010 Ed Emery über die „Die Wiederentdeckung der iranischen Volksmusik:

Eine Menge junger Leute hatte sich in dem kleinen Konzertsaal in der englischen Universitätsstadt Oxford eingefunden. Auf dem Programm standen iranische Lieder, darunter auch Stücke auf Aseri, Kurdisch und Armenisch. Der Abend war schon weit fortgeschritten, als jemand aus dem Publikum rief, er wolle „Der Winter ist vorbei“ (Sar umad zemestoun) hören, ein Lied aus den 1960er Jahren, das heute zu den Hymnen der grünen Protestbewegung im Iran gehört.1

Die Musiker erklärten sich bereit, das Stück zu spielen, aber nur wenn das Publikum mitsänge. Nach und nach versammelte man sich am Bühnenrand zum Stegreifchor, wohl wissend, dass dies einem öffentlichen Bekenntnis gleichkam: Das Konzert wurde nämlich gefilmt, und die Agenten des iranischen Regimes würden es vielleicht schon am nächsten Tag auf YouTube sehen können. Wer Angehörige im Iran hat, musste in diesem Moment befürchten, dass seine Familie bald Schikanen ausgesetzt sein würde.

Nach den umstrittenen Wahlen vom Juni 2009 kochte im Iran der Volkszorn. Als die Prozessionen am Aschura-Tag im Dezember 2009 in Protestkundgebungen gegen das Regime mündeten und die Demonstranten die Basidsch-Milizen auf offener Straße attackierten, hatte man den Eindruck, dass die eine Hälfte der Leute mit Steinen und die andere mit Handykameras bewaffnet war. Die Bilder von den Tumulten wurden via YouTube und Facebook in die ganze Welt hinausgetragen.(2) Dass die Menschen sich bei der Straßenschlacht filmen ließen, deutete man damals als Zeichen dafür, dass die Tage der Theokratie im Iran gezählt seien.

Annabelle Sreberny, Professorin am neu gegründeten Centre for Iranian Studies in London, arbeitet an einem Buch über die iranische Bloggerszene. Die sozialen Netzwerke im Internet würden Iraner daheim und in der Diaspora vor allem zur „schnellen und weltweiten Verbreitung von politischen Inhalten“ nutzen, sagt sie. Nachdem die iranischen Behörden im Dezember 2009 den Studentenführer Madschid Tawakoli verhaftet hatten, legten sie ihm, um ihn zu demütigen, einen Hidschab an, das im Iran für Frauen obligatorische Kopftuch, und machten ein Foto von ihm, das sie in allen Zeitungen des Landes abdrucken ließen. Es dauerte keine Woche, und hunderte iranische Männer hatten sich selbst mit dem Hidschab fotografiert und die Bilder als Zeichen ihres Protests auf Facebook oder YouTube gestellt.(3)

In der neuen Protestbewegung spielen neben den Bildern auch Töne und Klänge eine wichtige Rolle: Nach den Wahlen hörte man nächtelang ein unheimliches Wehklagen in den Straßen von Teheran, das von den Balkonen und aus den Fenstern scholl: In die religiöse Formel „Allahu akbar“ („Gott ist größer“), die sie so lange riefen, bis ihre Stimmen heiser wurden, legten die Leute all ihre Wut, Entschlossenheit und Hoffnung und versicherten einander ihre Solidarität.(4 )

Zum Ärger der Behörden wurde das traditionelle Liedgut, das schon früher Teil der Protestkultur war, wieder ausgegraben. Als ein Kleriker im Fernsehen auftrat, um die Musik als Quelle des Bösen zu verdammen und dabei innerhalb von wenigen Minuten zehnmal „Santur“ (eine Art Zither) zwischen seinen dünnen Lippen ausstieß, erinnerte das die Zuschauer nur daran, dass die Regierung 2007 den Film „Santouri“ von Dariush Mehrjui über einen angehenden Santurspieler aus völlig unbegreiflichen Gründen verboten hatte. Ajatollah Chamenei verkündete letztens sogar, dass das Erlernen eines Instruments den Prinzipien der Islamischen Republik widerspreche und reine Zeitverschwendung sei. Kein Wunder, dass sich junge Iraner wieder für klassische Musik interessieren, die noch vor wenigen Jahren nur die ältere Generation hörte.

Unmittelbar vor der islamischen Revolution von 1979 kam es im Iran zu einer kurzen Renaissance traditioneller Musik. Durch die zunehmende Verwestlichung unter Schah Pahlevi, der seit 1941 als letzter Herrscher auf dem Pfauenthron saß, drohte die jahrhundertealte Tradition klassischer persischer Musik in Vergessenheit zu geraten. Als Zeichen ihres Protests veranstalteten kleine Musikgruppen aus linken und fortschrittlichen Kreisen Konzerte und nahmen Platten auf. Auf den Alben von Hossein Alizadeh, Sedigh Tarif und Mohammad Reza Shajarian finden sich mitreißende Lieder über den politischen Widerstand.

Kurz nach der Revolution wurden Alben und Lieder mit explizit politischem Inhalt verboten; schon der bloße Besitz einer Musikkassette konnte zur Verhaftung und einer Gefängnisstrafe führen. Sowohl im Iran wie in der Diaspora (deren Aktivitäten vom Regime genau beobachtet wurden) fanden praktisch keine öffentlichen Konzerte mehr statt. Shajarian, der Doyen der klassischen iranischen Musik, vermied eigentlich jede politische Äußerung. Doch als Präsident Mahmud Ahmadinedschad die Widerstandsbewegung als „Abschaum und Gesindel“ bezeichnete, gab Shajarian der BBC sofort ein Interview: „Meine Stimme diente immer dem ,Abschaum und Gesindel‘, und so wird es auch bleiben. Ich werde dem staatlichen Rundfunk und Fernsehen nie erlauben, meine Stimme zu benutzen.“

Shajarian singt Lieder der Befreiung. Ein sehr schönes Stück, bei dem er von dem legendären Parviz Meshkatian(5) auf dem Santur begleitet wird, ist in der „Tonart der Ungerechtigkeit“ (avaz-e bidad) komponiert, die einst zur musikalischen Kritik am König gehörte. Das Lied „Morgenvogel“ (morg-e sahar) klagt die Ungerechtigkeit der Tyrannen an(6),( )und das Freiheitsgedicht „Jalaluddin Rumi“ führte Shajarian jüngst in Los Angeles gemeinsam mit weiblichen Musikern auf.

Unter dem Arbeitstitel „Songs of Love and Liberation from Iran“ (Lieder der Liebe und Befreiung aus dem Iran) forscht an der Londoner School of Oriental and African Studies (Soas) gerade eine kleine Gruppe von Musikern, auch Iraner und Kurden sind dabei, über die iranische Volkskultur. Ende 2011 soll das Projekt abgeschlossen sein. Die Teilnehmer betrachten sich als Musikarchäologen. Sie nehmen mit Musikern und Sängern im Iran und in der iranischen und kurdischen Diaspora Kontakt auf, um ein Verzeichnis aller Lieder und Instrumentalstücke zu den Themen „Liebe und Befreiung“ zu erstellen.

Diese Lieder haben alle eine lange Geschichte. 1905, zur Zeit der Reformbewegung für die Einführung der konstitutionellen Monarchie, stand die klassische persische Musik noch überwiegend im Dienste des Hofes. Der Dichter und Musiker Aref Qazwini (1882 bis 1934) schrieb, dass die Liedkunst, als er mit der Komposition seiner Epen begann, damals so tief gesunken war, dass die Musiker sogar Stücke für die Katze des Königs verfassen mussten. Die konstitutionelle Bewegung wurde im Verlauf von drei Jahren, die als die „kleine Tyrannei“ in die Annalen der iranischen Geschichte eingingen, niedergeschlagen. Dieser Moment wurde zum Wendepunkt in der modernen persischen Musikgeschichte.

Qazwini, Revolutionär und Anhänger der damaligen Reformbewegung, verfasste drei Lieder über diese bittere Zeit. Besonders populär wurde das Stück „Vom Blut der Jugend unserer Heimat“ (Az khun-e javanan-e vatan), das er Haidar Khan Amu Oghli, einem der Begründer der Kommunistischen Partei Irans, widmete. Während der gesamten Herrschaft des Schahs und auch während der Iranischen Revolution war das Stück landesweit sehr beliebt. Der Sänger Shajarian hat es zweimal aufgenommen. Die Melodie folgt der Tradition der Frühlingslieder (bahariye) zum Neujahrsfest (nowruz). Der ursprüngliche Text erzählt vom Leiden der Bevölkerung und ruft zum Widerstand auf. Dieser Teil fiel jedoch der Zensur zum Opfer, weshalb alle überlieferten Tondokumente immer nur die erste Strophe enthalten. Die zensierten Stellen sollen nun nachträglich wieder eingefügt werden.

Das Soas-Projekt plant Tourneen, Workshops und Seminare. Die Auftritte sollen in Bild und Ton aufgenommen werden, um das verloren gegangene historische Repertoire im Internet zu dokumentieren. Am Ende soll es ein Archiv geben, in dem die kompletten Versionen aller vergessenen, untergegangenen oder durch die Zensur (und Selbstzensur) verstümmelten Lieder gesammelt sind, und die Gruppe will ein Songbook herausgeben. Für Musikwissenschaftler hat das Projekt Modellcharakter, das Diasporagemeinschaften einen sozialen Rückhalt geben kann.

In einem neuen Videoclip auf YouTube sieht man zwei Mädchen musizieren.(7) Die Aufnahme ist in einer iranischen Provinzstadt entstanden. Eines der Mädchen trägt ein grünes Kopftuch und spielt auf einer Setar; das andere, es ist vielleicht acht oder neun Jahre alt, schlägt die Tombak und singt eine traditionelle Weise: „Vergesst eure Reue, o Trinker, öffnet die Schänken … trinket auf heimliche Art.“ Am Ende der Vorstellung applaudieren die umstehenden Erwachsenen – und stellen den Film bei Facebook ins Netz.

Anmerkung:

(1) „Sar oomad zemeston“, YouTube, 22. Mai 2009. (2) „Demonstrators retaliate and attack the riot police and basij militia“, YouTube, 30. Dezember 2009. (3) „Tavakoli“, 12. Dezember 2009. (4) Die Aufnahmen tragen den gemeinsamen Titel „Poem for the Rooftops of Iran“. (5) „Bidad“, Ostad Shajarian auf 4shared.com. (6) „Marghe Sahar“, Auftritt beim Konzert für die Opfer des Erdbebens von Bam, 2003. (7) Siehe YouTube; im Iran beträgt die Strafe für den Konsum von Alkohol beim ersten Mal 80 Peitschenhiebe, beim dritten Mal droht die Hinrichtung. 

In der Jungen Welt schreibt Joachim Guilliard über die anwachsenden Proteste im Irak:

In der arabischen Welt brodelt es. Ignoriert vom Gros der westlichen Medien hat sich auch im Irak in den vergangenen Wochen eine massive Protestbewegung ausgebreitet. Im Unterschied zu den Demonstrationen in anderen arabischen Ländern wird darüber hierzulande kaum berichtet – vielleicht weil so mancher ernsthaft glaubt, das Zweistromland ist seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 »befreit«? Allein am vergangenen Freitag wurden bei landesweiten Demonstrationen laut Nachrichtenagentur UPI mindestens 29 Menschen getötet und mehrere hundert verletzt. 300 Demonstranten sollen festgenommen worden sein. Die Washington Post berichtete von 23 Toten – mit sehr viel Verständnis für die Regierungskräfte.

Die getöteten Demonstranten sind nicht die einzigen Opfer der Repression. Zahlreiche Menschen, die aus politischen Gründen ermordet oder bei Razzien als angelbliche »Aufständische« getötet wurden, gehören dazu. Laut der vom Onlineportal »Iraqi Body Count« ausgewerteten Medien wurden im Januar insgesamt 388 und im Februar 254 Zivilpersonen getötet, die tatsächlichen Zahlen liegen erfahrungsgemäß beim Mehrfachen.

Bereits im Sommer 2010 waren die Iraker gegen die mangelnde Versorgung mit Nahrung, Strom und Wasser sowie die ungeheuerliche Korruption auf die Straßen gegangen. Mit dieser, von der unmittelbaren Not und der Wut über spezifische Mißstände gespeisten Protestbewegung, auch hier vor allem von jungen Aktivisten getragen, sind die Politiker in der »Grünen Zone« in der Hauptstadt Bagdad und die US-amerikanischen Drahtzieher in ihrer Botschaftsfestung mit einem zusätzlichen Widerstand konfrontiert, der sie erheblich unter Druck setzt.

Auch wenn die unmittelbaren Mißstände im Vordergrund stehen, gehen die Forderungen vieler darüber hinaus. Die Proteste richten sich selbstverständlich auch gegen die anhaltende Präsenz von 50000 US-Soldaten sowie gegen die Mauern, die die Städte teilen, und das gesamte ethno-konfessionelle Regime, das mit der Besatzung eingeführt wurde.

Das von Washington gestützte Regime reagiert entsprechend brutal. Mehr als 40 Demonstranten und Journalisten wurden in den ersten beiden Monaten des Jahres getötet. Schon bei den ersten Protesten Anfang Februar wurden in der südirakischen Provinz Diwanija mehrere Menschen durch Schüsse schwer verletzt, mindestens einer tödlich. In Kut setzte ein paar Tage später eine wütende Menge drei Regierungsgebäude in Brand, nachdem mehrere Demonstranten angeschossen worden waren. Dennoch breiteten sich die Proteste auf praktisch alle größeren und viele kleineren Städte des Zweistromlandes aus – einschließlich des kurdischen Nordens.

General Abdul-Asis Al-Kubaisi, Chef der Personalabteilung im Verteidigungsministerium, trat aus Protest gegen das brutale Vorgehen der Regierungskräfte zurück, riß sich in einer Sendung des Al-Sharquija-Satellitenfernsehens vor laufender Kamera seine Rangabzeichen ab. Der Militär erklärt die aktuelle Regierung unter Premier Nuri Al-Maliki sei korrupt »von der obersten Spitze bis nach unten«. Die politischen Führer im Irak würde dasselbe Schicksal ereilen wie Tunesiens Machthaber Zine El Abidine Ben Ali und Ägyptens Präsident Hosni Mubarak. Der Regimekritiker Al-Kubaisi wurde umgehend verhaftet, dennoch folgten einige Offiziere seinem Aufruf, die Armee zu verlassen und sich der Protestbewegung anzuschließen. Festgenommen wurde auch Muktader Al-Saidi, der Journalist der durch seinen Schuhwurf auf US-Präsident George W. Bush berühmt wurde.

Wie in den anderen Ländern fachte die Repression die Proteste nur noch weiter an. Vielerorts stürmten nun wütende Demonstranten Regierungsgebäude und Polizeiwachen und forderten die Absetzung der lokalen Autoritäten oder der Provinzregierung. Proteste richteten sich auch gegen willkürliche Festnahmen und die Mißhandlung von Inhaftierten, verbunden mit der Forderung nach Freilassung der politischen Gefangenen und Zugang zu den Geheimgefängnissen von Malikis Sondereinheiten. Die Demonstrationen wurden von mehreren Streiks begleitet, so z.B. in der Lederindustrie in Bagdad und in einer Textilfabrik in Kut. Arbeiterproteste gab es u.a. auch in der Northern Oil Company in Kirkuk und den Elektrizitätswerken in Basra.

Immerhin, die jüngsten Demonstrationen zeigten erste Wirkung. Die monatlichen Nahrungsmittelhilfen kamen erstmals pünktlich, zusätzlich bekommt jeder Haushalt umgerechnet zwölf Dollar als Entschädigung für die Kürzung der Rationen. Die ersten 1000 Kilowattstunden Strom in jedem Monat sollen künftig für alle Haushalte gratis sein (siehe jW vom 18. Februar 2011). Die Gouverneure dreier Provinzen, denen Unfähigkeit, Korruption etc. vorgeworfen wurde, traten zurück – alle drei gehören übrigens Malikis Dawa-Partei an. Vermutlich wird es vorgezogene Neuwahlen der Provinzregierungen geben, deren Unfähigkeit und Korruption am stärksten kritisiert werden.

Ungeachtet dessen, auch am heutigen Freitag soll es in Bagdad und anderen irakischen Städten wieder Proteste geben – und in praktisch allen anderen Ländern der Region.

Nick Brauns berichtet in der JW heute über die neue Militäroffensive der Türkei gegen die Kurden:

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat am Donnerstag der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie vorgeworfen, gemeinsam mit der Arbeiterpartei Kurdistans die Bevölkerung im Südosten des Landes im Vorfeld der Wahlen im Juni zu »provozieren«. Doch tatsächlich greift die Armee in der Provinz Hakkari zu Terror gegen die Zivilbevölkerung. So haben wachsame Passanten am Mittwoch bereits das zweite Mal innerhalb von zwei Wochen im Stadtzentrum von Yüksekova einen Bombenanschlag auf ein Einkaufszentrum verhindert. Nachdem Mitglieder der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie BDP wütende Anwohner davon abhielten, den beim Plazieren der Bombe ertappten bewaffneten Mann zu lynchen, wurden dieser und ein Komplize, der auf die Menschenmenge geschossen hatte, von der Polizei festgenommen. Als nach dem vereitelten Anschlag ein Kind von einem Panzer angefahren und schwer verletzt wurde, kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei, bei denen Dutzende Menschen verletzt und ebensoviele festgenommen wurden.

Im Februar hatte eine Konterguerilla-Gruppe namens Mezit auf Flugblättern gedroht, die »PKK und ihre Kollaborateure« aus der Stadt zu vertreiben. Am folgenden Tag wurde ein erster Bombenanschlag ebenfalls durch wachsame Anwohner vereitelt, der vermummte Täter entkam unter Einsatz seiner Schußwaffe. Ende Februar patrouillierten dann vermummte Personen trotz der Anwesenheit des Militärs durch die Stadt. Der jetzt gescheiterte Anschlag sollte offensichtlich der Einschüchterung der Bevölkerung vor einer Wahlkampfkundgebung des BDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas am Donnerstag dienen. Hakkari, die ärmste Provinz der Türkei an der Grenze zu Iran und Irak, ist eine Hochburg der kurdischen Befreiungsbewegung, in der die prokurdischen Parteien auf Rekordwahlergebnisse von über 90 Prozent kommen. Ebensoviele Einwohner folgten einem Boykottaufruf der BDP beim Verfassungsreferendum der Regierung im vergangenen September. In den letzten Jahren sind in der Region zudem Volksräte zur Umsetzung des von PKK-Führer Abdullah Öcalan vorgeschlagenen Modells des »Demokratischen Konföderalismus« entstanden.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte im vergangenen Jahr die Losung ausgegeben, Hakkari von der PKK zu »befreien«. Schon kurz nach dieser Ankündigung starben Mitte September neun Insassen eines Kleinbusses durch einen ferngelenkten Sprengsatz. Am Tatort wurden Ausrüstungsgegenstände einer Militärspezialeinheit gefunden. Offenkundig handelte es sich um einen Racheakt, da die Getöteten aus einem Dorf kamen, das lange das staatliche Dorfschützersystem mitgetragen hatte, doch sich nun zur BDP bekannte.

Konterguerillaaktionen haben in der Provinz Hakkari eine traurige Tradition. Bereits 2005 war es zu einer Reihe von Anschlägen gekommen, bis die Bevölkerung der Kleinstadt Semdinli zwei Mitglieder des Militärgeheimdienstes und einen PKK-Überläufer nach einem Handgranatenanschlag auf eine linke Buchhandlung festhalten konnte. Der damalige Generalstabschef Yasar Büyükanit hatte die Attentäter als »seine guten Jungs, die er gut kenne«, bezeichnet und versucht, eine Strafverfolgung zu verhindern.


Tweet-Verbreitung während der Kairoer Proteste. Photo: de.engadget.com



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