vonHelmut Höge 06.03.2011

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Libyen. Photo: reuters.com

„Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln, und auch heute sind die Staatsformen freier oder unfreier im Maß, worin sie die ‚Freiheit des Staats‘ beschränken.“ (Karl Marx, 1875)


Der Allarabische Aufstand und wo es hakt

Der „Stadtteilladen ‚Zielona Gora'“ ersetzt mit vier oder fünf weiteren Kneipen in Friedrichshain die vor 20 Jahren geräumte „Mainzer Strasse“. Dafür spricht das anarchistisch-autonome Ambiente seiner „Vokü“ ebenso wie der regelmäßig dort stattfindende rätekommunistische „Rote Abend“. Und natürlich ist dieser Laden vom „Arabischen Aufstand“ nicht ungerührt geblieben. Das zeigt schon sein Programm: „Freitag ‚Arab Tresen'“, „Dienstag Film ‚Wüstenblume'“, am letzten Mittwoch war der „Rote Abend“ erneut dem „Iran“ gewidmet. In der Hauptsache referierte eine persische Genossin des Berliner „Komitees zur Freilassung der politischen Gefangenen im Iran“. Nachdem zuvor einer der Veranstalter – die „Internationalen Kommunistinnen“ – darauf hingewiesen hatte, dass die hiesige Linke auf besondere Weise mit dem Iran verbunden ist: Bei ihren Protesten gegen den Besuch des Schahs in Westberlin hatten sie am 2. Juni 1967 ihren ersten Toten zu beklagen: Benno Ohnesorg.

Die Referentin war im Kampf gegen dieses Regime im Iran selbst groß geworden. Die schiitischen Mullahs unter der Führung des Ayatollah Chomeini gingen daraus am Ende siegreich hervor. Deren „islamische Revolution“, die eine Verfassung auf der Grundlage der Scharia hervorbrachte, hatte die Rednerin ins Exil nach Berlin getrieben. Die Frauen, die da blieben, „wurden weggesperrt“ und „zwangsverschleiert“. Kommunisten und Gewerkschafter zu Tausenden von der „Revolutionsgarde“ (Pasdaran) hingerichtet. Michel Foucault hatte den Kampf Chomeinis, 1978 von dessen  Pariser Exil aus, zur Politisierung der   „Strukturen“ im Iran, „die auf unlösbare Weise zugleich sozialer und religiöser Natur sind,“ noch „eindrucksvoll“ gefunden. Viele andere Linke in Europa ebenfalls.

Die Referentin protestierte zuletzt mit einem kleinen Häuflein vor der iranischen Botschaft in Dahlem gegen die fortdauernden Hinrichtungen in ihrem Land. Es wären weitaus mehr gekommen, aber in Berlin zirkulieren so viele Gründe, gegen etwas zu protestieren, dass man auswählen muß. Die Berliner Polizei nutzte das schamlos aus, indem sie sich mit dem iranischen Botschafter, der die „Nieder mit der islamischen Republik“-Rufe nicht mehr hören konnte, gemein machte – und die Protestierer auseinanderprügelte. Ausführlich kam die Genossin sodann auf die letzten blutig geendeten Proteste gegen das „Mullah-Regime“ und seinen Präsidenten Ahmadinedschad zu sprechen. Dazu wurden zwei auf Youtube ausgestrahlte Videos aus Teheran gezeigt.

Obwohl das Land reich ist, ähneln die Verhältnisse dort den in Tunesien und Ägypten: 60% der Bevölkerung sind unter 30, davon ist fast die Hälfte arbeitslos (gezählt werden nur die Männer). Es gibt allein 137 staatliche Stellen, wo sie notfalls eine ihrer Nieren verkaufen können. Grund genug also, um gegen dieses neoliberal gewordene Schiiten-Regime zu kämpfen, in dem die Revolutionsgardisten die neue Bourgeoisie stellt: „Ihr gehören 47% der Wirtschaft“. Das macht dann auch den wesentlichen Unterschied zu Tunesien und Ägypten aus: Diese Stützen des islamischen Staates („Schon das Wort Staat genügt, um unsere Wachsamkeit zu wecken,“ schrieb Michel  Foucault 1979 an den von Chomeini mit der Regierungsbildung beauftragten Mehdi Basargan), werden sich – im Gegensatz zu den „Volksheeren“ – nicht auf die Seite der Aufständigen schlagen. Ahmadinedschad kommt aus ihrer Mitte, auch die beiden jetzt inhaftierten sogenannten Oppositionsführer Moussavi und Karroubi. Dagegen gab es dieser Tage  erneut Proteste im Iran. Zumeist von Studenten, aber auch die Frauen, die immer wieder gegen die Zumutungen der Scharia-Gesetze demonstrieren, „einige haben sich jetzt organisiert“. Außerdem streikt ein Teil der Arbeiter – u.a. weil sie zu lange nicht mehr entlohnt wurden, sie haben geheime Gewerkschaften gegründet. Es ist die vorwiegend städtische Gesellschaft, „die wegen Armut und Unfreiheit auf die Straße geht“.

Die Solidarität der deutschen Linken mit ihrem nicht selten tödlich endenden Widerstand hielt sich bisher in Grenzen: Die „Leninisten“ sehen in Ahmadinedschad einen Stützpfeiler der  „antiimperialistischen Front“; die „Antideutschen-“ befürworten gar einen amerikanisch-israelischen Krieg gegen diesen „Atom-Irren“ (Handelsblatt). Und die Unterstützung ihrer „Grünen Revolution“ 2009 durch die deutschen Parteien, voran „Die Grünen“, war auch nicht besonders hilfreich.

Der iranischen „Demokratiebewegung“, so meinten die anwesenden persischen Genossen, fehle es an einer Organisation, um die  vielen Gruppen, bis hin zu den bewaffneten, zu verbinden. Zudem mangele es ihr an einer Führung und an einem Programm. Besonders mit dem Fehlen des letzteren hätten sie „schlechte Erfahrungen gemacht: ‚Der Schah muß weg!‘ – das reichte nicht als Programm…Es ist schwierig!“

Ein persischer Marxist ergänzte: Und „für die Freiheit“ zu kämpfen, wenn damit nur die eigene, persönliche, gemeint ist, „reicht auch nicht“. Wohingegen ein Friedrichshainer Linker meinte: „Aber für eine Demokratie, wie wir sie hier kennen, zu kämpfen – ist doch auch Nichts.“ Das sahen die vor der islamischen Diktatur nach Berlin geflüchteten natürlich diferenzierter.

Tage der Früchte des Zorns

Was wollen sie, was können sie (durchsetzen) – die Aufständischen in Arabien? Die „Demokratiebewegung in Tunesien und Ägypten ebenso wie der oppositionelle „Nationalrat“ und die ihm unterstellten bewaffneten Einheiten in Libyen?

Dese Frage treibt derzeit die halbe – zuschauende – Welt um. Der Chefkommentator der FAZ meint z.B., dass die Festlegung auf die Wahlen im Juli in Tunesien „ein erster, wichtiger Schritt auf einem – noch sehr langen – Weg zu einem politischen System“ sei, „wie es die Revolutionäre sich wünschen“. Woher weiß er, was sich „die Revolutionäre“ in Tunesien wünschen – und wer sind dort „die Revolutionäre“ überhaupt?

Der Spiegel macht es sich leicht und redet einfach von der „Jahrhundert-Revolution der Araber“:

Gleichzeitig bezeichnet das Nachrichtenmagazin die „Ägyptische Revolution“ von 1952 als „zweite schwere Infektion“ – nach der Kolonisierung durch die imperialistischen Westmächte. Diese zweite Infektion, die sich dann über mehrere arabische Länder ausbreitete und autoritäre Regime dort installierte, hatte zur Folge, dass in deren „Foltergefängnissen das arabische Individuum gebrochen wurde: Hier wurde ein Schaden an der Menschenwürde der Araber angerichtet“ – der in „Amerikas Tragödie des 11.September!“ gipfelte. Es gibt aber laut dem Spiegel-Autor noch eine „vierte Krankheit im Nahen Osten“ – und das war die, die den „jüngsten Aufstand überhaupt inr Rollen gebracht hat: die Armut und soziale Ungleichheit…“ Da hilft nur eins: Westhilfe – ein „Marshallplan“ in Milliardenhöhe. Als Beispiel für sinnvolle Hilfe wird das 400 Milliarden teure solarthermische Kraftwerk „Desertec“ in Tunesien erwähnt, das der „Club of Rome“ 2009 initiierte.

Das hört sich alles wie wirres Gerede an. Sehr viel besser war da gestern Abend die Diskussionsveranstaltung zum selben Thema: „Die Revolutionen in Nordafrika“ im Mehringhof, veranstaltet vom „Partisan-Net“ bzw. von Karl-Heinz Schubert, der einen Aktivisten von den „Internationalen Kommunistinnen“ als Diskussionsleiter und als Hauptredner Bernard Schmid aus Paris eingeladen hatte. Und das war auch ein „Hauptredner“ – niemand von den etwa 100 anschließend begeisterten Zuhörern hatte je so einen Vortrag gehört: freihändig und schnell, zügig, aber nicht auswendig gelernt, sprach er über die Situation in Tunesien, Ägypten und Libyen, ihre Unterschiede, ihre Ökonomie und die Kräfteverhältnisse im Land. Er hatte zudem jeden Ort, jeden Namen und jedes Datum im Kopf, es war unglaublich. Wenn die arabischen Aufständen noch mehr von solchen Verbündeten haben, dann Gnade Gott allen Regimen dort. Aber, um sein Résümee schon mal vorwegzunehmen: „Die anarchistischen Züge des Aufstands – das ist Wunschdenken der deutschen Linken.“ Er meinte damit: Die Aufständischen handeln zwar (noch)  strikt basisdemokratisch, aber ideologisch hat das wenig oder nichts mit Rätekommunismus oder Ähnlichem zu tun. (Ähnlich sieht das im auch der Spiegel-Korrespondent Clemens Höges in Benghasi, wo sich der „Nationale Übergangsrat“ im „befreiten Libyen“ gebildet hat, dessen Basis die neugegründeten „Volkskomitees“ sind und dem sich das übergelaufene Militär unterstellt hat: „Es ist ein anarchistisches Experiment und einzigartig im Aufstand der Araber; anders als in Ägypten, wo die Militärs erst mal die Macht übernommen haben, anders als in Tunesien, wo der Apparat des Regimes noch weiter funktioniert.“)

Der Reihe nach:

Ausgehend von der „zentralen Figur“ der kapitalistischen Gesellschaft – dem doppelt freien Lohnarbeiter, behauptete Karl-Heinz Schubert in seinem Einleitungsreferat, dass die Bourgeoisie individuelle Freiheitsrechte und die  Demokratie, also die „Zivilgesellschaft“ brauche. „Und genau das fehlt in den arabischen Staaten“.

Dazu existiere auch bereits ein „Aktionsplan Nordafrika“ vom Bundesministerium für Wirtschaft (das vor dem Zusammenbruch des Ostblocks noch Broschüren an alle Unternehmer verteilte – mit genauen Angaben darüber, in welchem Land man mit wieviel Schmiergeld für Geschäftsabschlüsse rechnen müsse, um erfolgreich zu sein.) Schubert listete sodann anhand der Angaben des „Afrika-Vereins der deutschen Wirtschaft“ auf, was die BRD in jedes arabische Land im- und exportiert. Zumeist steht die BRD bei dem, was sie importiert (Gas aus Algerien, Öl aus Libyen), an dritter Stelle unter den Hauptabnehmerländern. Im Falle Libyens lobte die BRD die „Transition“, den friedlichen Übergang, von der Autokratie zur Demokratie. Ähnliches gilt für Marokko, wo die deutschen Industrie sich an einem neuen großen Infrastruktur- und einem futuristischen Energie-Projekt beteiligt.

Nun zu dem Referat von Bernard Schmid: Auslöser der Revolte war in Tunesien die Empörung junger Arbeitsloser über die Selbstverbrennung Mohammed Buazizis vor einer Polizeiwache am 17.12. 2010. Er war einer der ihren. Im tunesischen Bergbaugebiet war es aber schon seit 2008 laufend zu Streiks gekommen. Zuletzt schoß die Polizei mit scharfer Munition auf die revoltierenden Bergarbeiter, die „Rädelsführer“ bekamen bis zu 10 Jahre Gefängnis. Daneben kämpfte auch eine Frauengewerkschaft für mehr Rechte. Aber all dies war zunächst lokal geblieben. Ökonomisch ist  Tunesien vom Tourismus und von Nischenproduktionen für die EU, vor allem in der Textilbranche abhängig. Die  tunesische Ökonomie könnte man als mafiöses Klientelsystem, basierende auf Clans und Familien, bezeichnen, es hat sich zunehmend als kontraproduktiv für die Gesellschaft erwiesen. Die Aufstiegsmöglichkeit über Bildung erwies sich als Chimäre. Die Revolte begann in der Unterschicht. Ende Dezember erreichte sie Tunis, am 10.1. wurden die Schulen und Universitäten geschlossen. An der Basis der Armee kam es zu „Verbrüderungen“ mit den Aufständischen. Der Präsident stützte sich eher auf Polizei und Geheimdienst als auf das Militär, dem die herrschende Clique mißtraut. Am 8. und 9. 1. gab es Tote, die Armee ging zwischen Polizei und Demonstranten. Am Tag darauf signalisierte die USA der Armee: bleibt in euren Kasernen. Frankreich lieferte noch schnell tonnenweise Polizei-Waffen, diese blieben jedoch bereits am Flughafen hängen. Inzwischen streikt jeder zweite öffentliche Betrieb. Die Linke hatte sich schon seit längerem im dortigen  Gewerkschaftsbund zusammengefunden. Die politischen Spielregeln werden derzeit grundlegend überarbeitet. Die Verteilungsfrage wird sich also zuspitzen. Tunesien lieferte den Funken (Iskra) für Ägypten, wo man anfangs sogar den französischen Slogan aus Tunesien übernahm „Dégage!“ (Hau ab!).

In Ägypten ist man mit der Privatisierung noch nicht so weit gewesen wie in Tunesien. Die Ökonomie bestreht zum Einen aus Geldüberweisungen von Ägyptern, die im Ausland arbeiten und zum anderen aus Agrarprodukten, Baumwolle vor allem.. Die größten Ländereien gehören der Armee, d.h. den Offizieren, sie lassen teilweise ihre Soldaten auf den Feldern arbeiten. Auch dieses System ist mafiös. Hier war es jedoch die gut ausgebildete  Mittelschichts-Jugend die den Anfang machte, nachdem ein Blogger im Internet-Café in Alexandria von der Polizei totgeschlagen worden war. Er bekam wenig später eine Facebook-Seite, auf der sich 450.000 „Friends“ einschrieben. Merkwürdigerweise entfernte die US-Firma „Facebook“ die Seite daraufhin vom Netz.

Nach diesen Facebookern schlossen sich zunächst die Unileute den Protesten an – am 25.1. auf dem Tahrirplatz. Drei Tage später kamen die organisierten Gewerkschafter, und Streikende aus dem Nildelta. Schließlich das Subproletariat und die Fußballfans.  Zwischen dem 25.1. und dem 8.2. schwollen die Proteste immer mehr an. Ab dem 8.2. kam eine Streikwelle hinzu. Ab dem 10.2. gab es politische Slogans, u.a.: „Das Volk will das Regime stürzen!“ Das Militär ist direkt von US-Geldern abhängig. Es bildete sich ein Hoher Rat der Streitkräfte. Der Armee gelang so etwas wie eine kontrollierte Ablösung. Am 4.3., vorgestern,  sprach bereits der neue Premierminister auf dem Tahrirplatz von „Demokratie“. Es wird wohl eine kontrollierte Demokratisierung geben.

In Libyen will die Mehrheit der Bevölkerung Gaddafi weg haben. Der jetzt befreite Osten war die Hochburg der Monarchie und wurde ökonomisch vernachlässigt. In Benghasi gibt es Slums, in Tripolis sieht man so etwas nicht. Das Militär lief in Libyen zu den Aufständischen über. Sie bildeten einen „Nationalen Rat“, dem sich das Militär unterstellte. Es ist im übrigen auch für eine begrenzte Intervention des Auslands. Ob aus den Kämpfen demokratische Impulse hervorgehen, bleibt abzuwarten. Seit 2004 sind ausländische Investoren zugelassen, an der Ölförderung sind auch zwei deutsche Firmen beteiligt.

Zu den Perspektiven der arabischen Aufstände meinte Bernard Schmid später noch, es werde eher nicht etwas halbwegs Emanzipatorisches dabei herauskommen. „Wir werden keine Räterepubliken haben am Mittelmeer in einigen Jahren.“ Dennoch kann man derzeit sagen: dass die Organisations- und Aktionsformen de fakto basisdemokratisch sind. Es gibt zwar einen regen Ideenaustausch, aber keine „Gegenmacht“, die bereit steht oder sich bildet. Die Lage in Libyen ist im Moment schwer einzuschätzen, was man den Nachrichten glauben kann, ist noch am ehesten der Frontverlauf.

Dafür fangen jetzt alle möglichen Menschen an zu bewerten, was da passiert, wo das alles hingeht. Es wird die Gefahr des Islamismus herbeigeredet. 1986 – anläßlich der Bombardierung von Tripolis und Benghazi durch die Amerikaner – protestierten noch 10.000 Linke in Westberlin, heute kämen gerade noch 50  zusammen. Ähnlich sieht es aus, wenn es um eine Demonstration zur Freilassung der politischen Gefangenen im Iran geht. So blieb nach der Diskussion erst einmal nicht viel mehr übrig, als sich darüber einig zu sein, regelmäßig über das, was in Nordafrika geschieht, zu reden. Die nächste größere Konferenz wird in Tunesien vorbereitet. Und am 7. und 8. Mai findet eine weitere in Marseille statt.

Die Nachrichtenagentur AFP meldete am 5.3. um 20 Uhr 30 aus Libyen:

Die Kämpfen zwischen den Truppen des libyschen Machthabers Muammar el Gaddafi und seinen Gegnern verschärfen sich weiter. In der umkämpften Stadt Sawijah eröffneten nach Augenzeugenberichten am Samstag Panzer von Gaddafis Truppen das Feuer, in der Hafenstadt Ras Lanuf wurden nach Angaben von Ärzten bisher zehn Menschen getötet. Der von der Opposition gegründete Nationalrat erklärte sich zum „einzigen Repräsentanten Libyens“.

„Das ist ein echtes Massaker“, sagte ein Arzt in der etwa 60 Kilometer westlich der Hauptstadt Tripolis gelegenen Stadt Sawijah in einem Telefonat mit der Nachrichtenagentur AFP. Gaddafis Truppen hätten viele Menschen, darunter seine Tochter, getötet, fügte er hinzu. Zuvor hatten Augenzeugen berichtet, Gaddafis Truppen seien mit Panzern in Sawijah eingerückt und hätten das Feuer auf Häuser eröffnet. „Der Granatbeschuss hört gar nicht auf“, sagte ein Bewohner. Zuvor war die Stadt laut Augenzeugen in der Hand der Rebellen, wurrde jedoch von Gaddafis Truppen belagert.

Zur Lage in der strategisch wichtigen Hafenstadt Ras Lanuf gab es widersprüchliche Angaben: Während die Aufständischen die Einnahme der Stadt und den Abschuss von zwei von Gaddafis Kampffliegern in der Nähe der Stadt meldeten, erklärte Vize-Außenminister Chaled Kaaim, Ras Lanuf sei weiter unter Kontrolle der Regierungstruppen. Nach Angaben eines Krankenhausarztes in der östlich von Ras Lanuf gelegenen Stadt Brega, wohin einige der Opfer gebracht wurden, wurden bei Kämpfen am Freitag zehn Menschen getötet. Aufständische rückten derweil weiter westwärts in Richtung von Gaddafis Heimatstadt Sirte bis zu dem kleinen Ort Bin Dschawad vor, wie ein AFP-Reporter berichtete.

Der Spiegel meldet in seinem „Minutenprotokoll der Revolution“ am Samstagmorgen:

Am Samstag seien zum ersten Mal auch tagsüber Schüsse in Gaddafis Geburtsstadt Sirte zu hören gewesen, berichtet Dr. Sunita Singh von der Universität in Sirte der BBC. Singh berichtet, jeder Student trage mittlerweile eine Waffe, um sich im Falle eines Angriffs zur Wehr setzen zu können. „In der letzten Woche erhielt jeder junge Mann eine Waffe zur Selbstverteidigung.“ Viele Studenten seien nicht mehr zu den Vorlesungen erschienen. „Sie sagten, sie hätten Nachtschichten, sie bewachten die Stadt“, so Singh. „Sie wissen, der Kampf hat sie erreicht und sie müssen ihn kämpfen.“

Am Sonntag, den 6.3. um 7 Uhr 20 meldete AFP:

In der libyschen Hauptstadt Tripolis hat es am Sonntagmorgen heftige Feuergefechte gegeben. Dies berichtete ein AFP-Korrespondent aus einem Hotel nahe der Altstadt. Wo die Schießereien genau stattfanden, war zunächst unklar. In Tripolis, das unter der Kontrolle von Anhängern des Machthabers Muammar el Gaddafi ist, war es bislang relativ ruhig gewesen. Die Aufständischen haben mehrere Städte im Osten des Landes eingenommen.

Unterdessen meldete ein dem Gaddafi-Sohn Saif el Islam nahestehender Fernsehsender, die Regierungstruppen hätten die Kontrolle über die Städte Ras Lanuf und Misrata im Osten des Landes zurückgewonnen. Rebellen und Journalisten widersprachen dieser Darstellung für Ras Lanuf.

Um 17 Uhr 36 meldete AFP aus Libyen:

Mit Panzerfeuer, Luftangriffen und Propaganda haben die Anhänger von Libyens Machthaber Muammar el Gaddafi die Aufständischen zurückzudrängen versucht. Das Staatsfernsehen meldete am Sonntag die Rückeroberung der drei Städte Ras Lanuf, Tobruk und Misrata, was die Aufständischen umgehend dementierten. Die internationale Gemeinschaft verstärkte ihre Bemühungen, Flüchtlinge aus Libyen in ihre Heimat zu bringen.

Kurz zuvor hatte dpa zusammengefaßt:

Regierungstruppen und Aufständische kämpfen in Libyen erbittert um strategisch wichtige Städte. Dabei wird die Lage an den Brennpunkten immer unübersichtlicher. In Al-Sawija, 50 Kilometer westlich von Tripolis, wechselte die Front am Sonntag binnen Stunden mehrmals hin und her. Die Streitkräfte von Staatschef Muammar al-Gaddafi griffen die Stadt nach einem Bericht des Nachrichtensenders Al-Dschasira von Flugzeugen aus und mit Artillerie an. Gaddafi-Anhänger feierten in Tripolis den angeblichen „Sieg“ über die Rebellion. Aufständische und Augenzeugen widersprachen dieser Darstellung.

Gaddafi-Truppen drangen auch nach Misurata, 210 Kilometer östlich von Tripolis, vor und lieferten sich dort mit Rebellen Häuserkämpfe.
Ein von den Regimegegnern in Bengasi gebildeter Nationalrat rief die internationale Gemeinschaft auf, eine Flugverbotszone in Libyen einzurichten. Nur so könnten Zivilisten vor den Bomben des Diktators geschützt werden. Eine Bodenintervention ausländischer Streitkräfte
lehnte der Rat aber strikt ab.

Der Spiegel tickert:

„Schwere Gefechte, spüre die Druckwellen“ – Spiegel-Reporter Clemens Höges erlebt in Libyen die Kämpfe zwischen Armee und Rebellen an der Front in Ben Dschawad mit. In der Hauptstadt Tripolis feiern Gaddafi-Anhänger, als sei der Krieg schon beendet. Verfolgen Sie das Geschehen im Liveticker.

[17.20 Uhr] Die Oppositionellen, die Libyens Übergangsregierung gebildet haben, treten in Twitter nun offenbar unter dem Namen „Libyan TNC“ auf („Lybian Transitional National Council“). Über den Kurznachrichtendienst melden sie, die Internet- und Telefonleitungen in Sawija seien weiterhin tot. Gaddafis Truppen hatten sie beim Einmarsch in die Stadt gekappt.

[16.46 Uhr] In Misurata, 200 Kilometer östlich der Hauptstadt, haben Aufständische offenbar Truppen des Regimes zurückgedrängt. Die Armee war um die Mittagszeit mit Panzern ins Stadtzentrum vorgerückt. Ein Bewohner Misuratas meldete telefonisch der Nachrichtenagentur Reuters: „Die Rebellen haben 20 Soldaten gefangen genommen und ein Panzerfahrzeug erobert. Die Stadt ist nun vollständig unter der Kontrolle der Jugendlichen.“ Doch wie die Lage in Misurata wirklich ist, lässt sich, ebenso wie in anderen Städten, nur schwer beurteilen. Die Kämpfe toben weiter.

AP meldet am Montagmorgen:

Angesichts einer Gegenoffensive der Regierungstruppen in Libyen haben die Aufständischen am Montag angekündigt, sich neu zu formieren. Außerdem bräuchten sie schwere Waffen. Mohamad Samir, ein Heeresoberst auf Seiten der Aufständischen, sagte der Nachrichtenagentur AP im Ölhafen Ras Lanuf, nach Rückschlägen am Sonntag bräuchten seine Truppen Verstärkung aus dem Osten des Landes, der von Regierungsgegnern kontrolliert wird. Mit Luftangriffen hatten die Truppen von Machthaber Muammar al Gaddafi am Sonntag versucht, den Vormarsch der Aufständischen auf Sirte zu stoppen. Sirte ist eine Hochburg der Anhänger Gaddafis.

In Ägypten geht nun wie einst in der DDR der Kampf um die Unterlagen der Staatssicherheit los – wie AP meldete:

Drei Wochen nach dem Sturz des ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak haben tausende Demonstranten ihren Unmut gegen die Staatssicherheit gerichtet und die Auflösung der verhassten Behörde gefordert. Nach Angaben von Augenzeugen versuchten Mitarbeiter in aller Eile Akten zu vernichten, die Menschenrechtsverletzungen beweisen könnten. Den Sicherheitsbehörden werden schwerste Übergriffe beim Vorgehen gegen Dissidenten während Mubaraks fast 30-jähriger Herrschaft vorgeworfen.

In Kairo drangen am Samstag hunderte Demonstranten in ein von Soldaten umstelltes Gebäude der Staatssicherheit ein, wie ein Teilnehmer der Aktion berichtete. Sie wollten Unterlagen sichern, die vermutlich vernichtet werden sollten, sagte Mohammed el Saffani. Am Freitagabend stürmten fast 1.000 Menschen ein Bürogebäude in der Stadt Alexandria, nachdem Sicherheitskräfte von dort aus das Feuer eröffnet hatten. Mindestens vier weitere Gebäude der 500.000- Mitarbeiter-Behörde wurden ebenfalls gestürmt. Ein Militärvertreter in Kairo erklärte, die Streitkräfte beschlagnahmten Unterlagen.

Rebellenversammlung im „befreiten Libyen“. Photo: news.ninemsn.com.au

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