vonHelmut Höge 07.03.2011

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Photo: sosoul.de

Der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh sagte in einem Zeit-Interview:

„Mein Gefühl ist, dass die Revolution ihren Zweck schon erfüllt hat: Sie hat den Leuten klargemacht, dass die wirkliche Souveränität bei ihnen liegt, nicht bei der Regierung oder der Armee. Was auch immer noch geschehen mag, ein Sprung wurde gemacht, und sowohl die Menschen als auch die Herrschenden wissen, dass er wieder gemacht werden könnte.“

In der FAZ meint der „Medien-Experte“ Jewgenij Morozov:

„Tweets geschickt – Diktatoren gestürzt.“ So ist es nicht: „Soziale Netzwerke werden als Werkzeug überschätzt. Revolutionen sind niemals spontan.“

Die Neue Zürcher Zeitung schreibt:

„Die meisten westlichen Beobachter erkennen heute nicht, dass die Ereignisse von 2011 tiefe historische Wurzeln haben, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Arabische Reformer haben die Vorzüge konstitutioneller Staaten seit den 1830er Jahren diskutiert. Seit den 1860er Jahren haben sie versucht, autokratische Herrschaft durch gewählte Volksvertretungen auszugleichen. Auch damals waren es Tunesien und Ägypten, die die Reformagenda der arabischen Welt anführten. Anders als wir vermuten würden, war es ein junger muslimischer Kleriker, Rifaa al-Tahtawi, der die Auseinandersetzung der arabischen Welt mit dem modernen Verfassungsrecht initiierte.“

Focus fragt sich heute:

„Ist Saudi-Arabien der nächste Dominostein der arabischen Revolution? Das Volk lässt sich nicht mehr bestechen, sagt Fouad Ibrahim, einer der führenden saudischen Oppositionellen im Exil.
Für diesen Freitag, den 11. März, hat die saudische Opposition zu einem „Tag der Wut“ aufgerufen. Demonstrantionen sollen das saudische Königshaus dazu zwingen, den autokratischen Staat von Grund auf zu reformieren. Fouad Ibrahim organisiert diesen Tag mit. Er ist einer der führenden saudischen Oppositionellen im Exil.“
Demonstriert werden soll in der Provinz: „In der Hauptstadt haben wir Schiiten keinen Einfluss. Die königliche Familie hat die saudische Bevölkerung in Stämme und Glaubensrichtungen gespalten. Diese Spaltung gehört zu der wahabischen Kultur. Wir wollen sie überwinden.“ Auch hier geht es also um eine Aufhebung der Trennungen (in Frauen, Männer, Konfessionen, Alter und soziale Schichten).
Die Basler Zeitung interviewte die Geschlechterforscherin Sarah Farag über die Frauen in Ägypten:

Auf Bildern von den Demonstrationen im arabischen Raum sind viele Frauen zu sehen. Wie stark nehmen sie an der Revolution teil?
Vor allem in den grossen Städten sind die Frauen massgeblich an den politischen Umwälzungen beteiligt. Die Frauen wollen mitbestimmen, was mit ihrem Land passiert, sie wollen sich am Aufbau einer neuen Gesellschaft beteiligen. In Ägypten, wo ich während der Demonstrationen selbst war, waren sie oft auch Anführerinnen von Demonstrationszügen und Bewegungen.

Vor der Revolution sind aber Frauen auch in Ägypten selten in politischen und wirtschaftlichen Prozessen aufgefallen.
In Ägypten gibt es eine strikte Trennung zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre. Während die Männer klar die Öffentlichkeit dominieren, ist der Wirkungsbereich der Frau das Haus. Das heisst nicht, dass Frauen immer in der schwächeren Position sind, Ägypterinnen gelten als sehr starke Frauen. Sie agieren im Hintergrund und nehmen über ihre Männer und Söhne Einfluss auf Entscheidungen ausserhalb des Haushaltes. Ausserdem studieren bereits heute deutlich mehr Frauen als Männer.

Sind es demzufolge vor allem jüngere Frauen, die auf die Strasse gingen?
Die Proteste wurden zu Beginn sicherlich vor allem von der Jugend vorangetrieben. In der jüngeren Generation sind strukturelle Veränderungen spürbar, jüngere Frauen sind besser ausgebildet, wollen am öffentlichen Leben partizipieren und haben auch gegen den Willen ihrer Eltern an den Demonstrationen teilgenommen. Aber gerade weil es keinen Oppositionsführer mit einem Revolutionsprogramm gab, haben sich die unterschiedlichsten Gruppierungen beteiligt. Die Grenzen gesellschaftlicher Kategorien wurden gesprengt, Menschen jeglicher sozialer und religiöser Herkunft, aus unterschiedlichen Bildungs- und Altersschichten haben sich gemeinsam gegen die Diktatur aufgelehnt. Entscheidend war allein die gemeinsame ägyptische Identität.

Unterstützen die Männer das politische Engagement der Frauen?
Als Frau in Ägypten hat man es schwer in einer Ansammlung von Männern, oft wird man sexuell belästigt. Aber während der Demonstrationen habe ich zum ersten Mal erlebt, wie Frauen voll und ganz respektiert wurden. Gerade bei Gewaltanwendungen seitens der Polizei haben sich die Männer stark mit den Frauen solidarisiert. Frauen wie Männer wollen eine demokratische Gesellschaft aufbauen. Die Männer wissen, dass dieser Prozess nur erfolgreich sein kann, wenn die Frauen einbezogen werden. Jetzt kursieren im Internet Anleitungen, die beschreiben, wie man sich in einer freien, demokratischen Gesellschaft verhalten soll. Da stehen ganz triviale Dinge wie beispielsweise, dass man den Abfall nicht auf die Strasse werfen soll, aber eben auch, dass Frauen nicht belästigt werden dürfen.

Wie geht es weiter? Werden Frauen in die Bildung einer neuen politischen Ordnung einbezogen?
Mubaraks Regime liess keine politische Anteilnahme der Bevölkerung zu, auch nicht der Männer. Jetzt entstehen viele neue Parteien und Gruppierungen. Wollen sie eine demokratische Gesellschaftsordnung aufbauen, werden sie sich genderspezifischer Anliegen annehmen müssen. Aber es ist nicht zu erwarten, dass dieser Aufbau rasch und problemlos vor sich geht.

Die Berliner Zeitung interviewte die Politologin Ebtissam al Khitbi aus Dubai – über die Situation in den Golfstaaten:

Inzwischen hat die Revolte auch die Golfstaaten erreicht. Werden sich wie in Bahrain auch in anderen Ländern die Menschen gegen die Herrscher erheben?

Man muss differenzieren. Bahrain ist anders als die Nachbarn. Durch die große Gruppe der armen Schiiten gibt es dort viel mehr sozialen Sprengstoff. Meiner Meinung nach ist Saudi-Arabien der nächste Kandidat. Viele dort fühlen sich diskriminiert. Es hat auch schon erste Proteste gegeben.

Dpa hatte am Sonntag gemeldet:

Trotz eines strengen Demonstrationsverbotes gehen auch in Saudi-Arabien Menschen auf die Straße, um Freiheit und Rechtstaatlichkeit zu fordern. Augenzeugen berichteten am Sonntag, etwa 40 Frauen hätten am Vortag vor dem Gebäude des Gouverneurs der Ost-Provinz in der Stadt Dammam für die Freilassung ihrer seit 1996 inhaftierten Söhne demonstriert. Mehrere Frauen und auch einige männliche Unterstützer seien von der Polizei festgenommen worden. Einige Frauen wurden den Angaben zufolge auch geschlagen.

In der Stadt Katif, die ebenfalls zur Ost-Provinz gehört, waren zuvor bereits Hunderte auf die Straße gegangen, um für die Freilassung der Inhaftierten und gegen die Diskriminierung der Schiiten zu demonstrieren. Sie riefen: „Keine Schiiten, keine Sunniten, Einheit, Einheit des Islam.“

Das Innenministerium hatte am Samstag daran erinnert, „dass Kundgebungen und Protestmärsche im Königreich illegal sind“. Demonstrationen verstießen gegen das islamische Recht („Scharia“) und die Traditionen des Landes, hieß es in einer Erklärung des Ministeriums.

Der Spiegel-Korrespondent Clemens Höges berichtet über die Selbstorganisation der Rebellen in Benghasi – dort begann der libysche Aufstand:

Am 15. Februar demonstrierten in Bengasi die Familien von Opfern eines Massakers, Gaddafis Schergen hatten 1996 mit ihren Sturmgewehren 1200 rebellierende Gefängnisinsassen niedergemäht. Zwei Tage später dann demonstrierte der kleine Trupp von Anwälten um Saji vor dem Gericht für mehr Menschenrechte. Und über Stunden stießen immer mehr Menschen zu ihnen. Der Aufstand begann. Bald fielen die ersten Schüsse. Dann zündeten die Rebellen Gaddafis Palast an. Auch das Gebäude der Geheimpolizei neben dem Gericht brannte, dort hatten sie zuvor Regimegegner gefoltert. Dann ging es in den anderen Städten los.“ Es wurden Volkskomittes gebildet.

„Natürlich hat nicht das Volk die Komiteemitglieder gewählt, wer hätte das wann organisieren sollen? Die Menschen im Gericht haben diskutiert, und dann blieben jene Namen übrig, die die meisten in Ordnung fanden. Sie wollen Demokratie, sagen sie.

Auf der Treppe am Eingang brüllt einer, er fühle sich von diesem Komitee nicht vertreten. Andere reden auf ihn ein, das Komitee solle sich doch nur erst mal kümmern um die einfachen, aber wichtigen Dinge: Aus den Steckdosen soll Strom fließen; den Verkehr regeln noch immer Hunderte Jugendliche, das geht auf Dauer nicht. Gaddafis Polizisten sind abgehauen oder warten zu Hause, bis sich die Wut der Bürger gelegt hat. Auch all die entwendeten Waffen in der Stadt müssen wieder eingesammelt werden: Demonstranten griffen sich in verlassenen Kasernen Gewehre und Handgranaten.

Die Militärs stellen ebenfalls ein Komitee auf, ihr eigenes. Sie werden planen müssen, wie sie die Stadt verteidigen wollen, sollten Gaddafis Getreue doch noch zurückschlagen. Auch wenn das kaum noch jemand ernsthaft befürchtet. Gaddafi hatte das Militär geschwächt und seine Milizen gestärkt. Jeder Diktator muss vor allem die eigene Armee fürchten, weil die ihn wegputschen kann. Wer wüsste das besser als er? Das rächt sich nun für ihn, weil vernachlässigte Einheiten zu den Demonstranten überliefen.

So konnten die Rebellen in wenigen Tagen die Macht im größten Teil des Landes erobern. Nun müssen sie aber regieren, irgendwie, denn es soll ja wieder Alltag werden. Das Komitee, die provisorische Rebellenregierung, hat aber weder Büros noch Angestellte, nur Handys und Freiwillige ohne Erfahrung. Deshalb brauchen die Rebellen sogar die Hilfe von Gaddafi-Getreuen, von jenen, die wissen, wie Stadt und Land funktionieren, wie man zum Beispiel an das Geld kommt, das der Stadt gehört.

„Gaddafi beschimpft uns als Islamisten und Rauschgiftsüchtige, was sich ausschließt. Er behauptet, wir wollten das Land aufspalten, was nicht stimmt“, sagt Mohammed Ghunim, 32, rundlich und flink, Lachfalten um die Augen. Er kümmert sich um Flugblätter und Slogans, er kann gut reden, er kann Englisch, und deshalb soll er nun den Journalisten erklären, was die Rebellen wollen. Dies sei eine Revolte des normalen Volkes, niemand steuere sie, sagt er. Aber niemand dürfe sie ihnen nehmen.

Ganz oben unterm Dach des Gerichts steht der vielleicht wichtigste Mann der Revolte gerade von einem Stapel alter Matratzen auf. Er blinzelt müde, die Mittagssonne scheint durch Löcher in den Vorhängen, er ist seit so vielen Tagen und Nächten hier, mit zu wenig Schlaf und zu viel Kaffee.

An den Wänden stehen keine Parolen wie unten auf den Fluren, sondern Kürzel wie „Channel“, „Username“, „ip 62.32.46.100“. Nabbous ruft etwas ins Mikrofon: „Mein Upload ist null, was ist los?“ Kabel hängen aus Geräten, vor ihm liegen griffbereit eine Zange und ein kleiner Schraubenzieher. Gaddafi hatte das Internet in Libyen gekappt, erst am Montag funktionierten manche Leitungen wieder, aber über einen Satelliten konnte Nabbous die Botschaft der Rebellen im Rest der Welt verbreiten. „Das kann Gaddafi nicht kappen, er müsste schon bombardieren, um mich zu stoppen.“

Auf dem Monitor vor ihm laufen Bilder, aufgenommen von den internen Kameras im Gericht. Der Satellit sendet sie direkt über livestream.com ins Internet; Fernsehsender in aller Welt bedienen sich bei Nabbous.

Auf einem anderen Computer läuft die neben Twitter wichtigste Revolutionsmaschine: Facebook. Ständig schicken Fans neue Nachrichten, beschleunigen, wie in Tunesien und Ägypten, die Revolution.“

Der Spiegel interviewte außerdem den israelischen Historiker Tom Segev:

– Wie denken die Menschen in Israel über die arabischen Revolutionen?

– Seitdem unser Land existiert, sind wir davon ausgegangen, dass wir besser sind als die Araber. Jetzt aber merken wir: Das sind keine rückständigen Menschen mehr. Auf einmal stehen wir vor einer neuen Situation – dass die arabische Welt vielleicht genauso demokratisch denkt wie wir, vielleicht sogar demokratischer. Wo bleiben wir da? Wir sind doch die einzige Demokratie im Nahen Osten!

– Muss sich Israel künftig an seinen Nachbarn messen lassen?

– Ja. Und während wir sehen, wie sich die arabische Welt demokratisiert, wird in Israel die Demokratie schwächer. Wir haben einen Außenminister, dessen Partei man mit rechtsradikalen Bewegungen in Europa vergleichen kann. Die Demokratie in Israel ist in Gefahr, und diese Bedrohung ist größer als die von außen.

– In Israel spürt man mehr Sorge als Freude angesichts der Aufstände.

– Wie die meisten Israelis weiß ich sehr wenig über die Araber. Wir sehen sie nur als Gefahr und immer von oben herab. Wir haben überhaupt keine Erfahrung mit einem demokratischen Land in unserer Nachbarschaft. Ist das gut für uns oder schlecht? Ich bin der Überzeugung, dass Demokratie nicht nur für diese Völker dort gut ist, sondern auch für Israel.

– Wird durch die Revolutionen auch der Druck steigen, die Besatzung des Westjordanlands zu beenden?

– Wenn die Region wirklich demokratisch wird, dann bliebe hier ein undemokratischer Fleck zurück – schwer vorstellbar, dass die Welt, vor allem die arabische, das tolerieren würde. Netanjahu hält an seiner alten Position fest: Er will keinen palästinensischen Staat, er will die Siedlungen und die besetzten Gebiete nicht aufgeben. Druck aus dem Ausland ist der einzige Weg, etwas zu ändern.

– Wenn es zum Sturz des jordanischen Regimes käme, wäre das eine Gefahr für Israel?

– Nein, im Gegenteil. Wenn das korrupte jordanische Königshaus stürzte, wäre das eine ideale Gelegenheit, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu lösen: Das Westjordanland und Jordanien könnten vereinigt werden. Es gibt schon jetzt eine Mehrheit von Palästinensern in Jordanien, es gibt dort genug Platz für alle. Das wäre die beste Revolution, die ich mir vorstellen könnte.

(dpa hatte zuletzt am Freitag nach dem Mittagsgebet gemeldet: „Rund 3000 Jordanier haben am Freitag in der Hauptstadt Amman für politische Reformen demonstriert. Sie trugen Transparente mit der Aufschrift „Das Volk will das Regime reformieren“ und „Das Volk will die Auflösung des Parlaments“. Zu der Kundgebung hatten die Islamische Aktionsfront  und die linksgerichtete Partei der Volkseinheit aufgerufen.)


AP meldete heute Vormittag aus Libyen:

„Angesichts einer Gegenoffensive der Regierungstruppen in Libyen wollen sich die Aufständischen neu formieren. Außerdem bräuchten sie schwere Waffen, sagte Mohamad Samir, ein Heeresoberst auf Seiten der Aufständischen, der Nachrichtenagentur AP im Ölhafen Ras Lanuf. Nach Rückschlägen am Sonntag bräuchten seine Leute Verstärkung aus dem Osten des Landes, der von Regierungsgegnern kontrolliert wird.

Mit verstärkten Luftangriffen, Artillerie und Raketen hatten die Truppen von Machthaber Muammar al Gaddafi am Sonntag versucht, den raschen Vormarsch der Aufständischen auf Sirte zu stoppen. Sirte ist Gaddafis Heimatstadt und eine Hochburg seiner Anhänger. Sie einzunehmen, würde die Kampfmoral der Regimegegner beträchtlich stärken und ein bedeutendes Hindernis auf dem Vormarsch auf Tripolis beseitigen.

Der am 15. Februar begonnene Aufstand gegen Gaddafi währt schon jetzt länger und ist blutiger als die verhältnismäßig schnellen Umwälzungen inTunesien und Ägypten. Hunderte, wenn nicht Tausende wurden bislang getötet, mehr als 200.000 Menschen flüchteten außer Landes. Beide Seiten scheinen relativ schwach und schlecht ausgebildet zu sein, wenn auch Gaddafis Truppen an Zahl und Material überlegen sind.

Sie versuchen derzeit die Städte und Ölumschlaghäfen zurückzuerobern, die die von übergelaufenen Soldaten unterstützten Rebellen bei ihrem Vormarsch nach Westen eingenommen haben. Deren Streitmacht von schätzungsweise 500 bis 1.000 Mann hat eine Schneise in Richtung Tripolis geschlagen und dabei in Brega und Ras Lanuf zwei wichtige Ölumschlaghäfen unter Kontrolle bekommen.“

Photo: hrmshaker.blogspot.com

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