vonHelmut Höge 13.03.2011

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Die „Eindämmung“ des Kairo-Virus  ist bisher zu kurz gekommen, sie hat uns auch eher vor dem Ausbruch der arabischen Aufstände beschäftigt.

Die Umar Ibn Al-Khattab-Moschee an der Wiener Strasse (Görlitzer Bahnhof), erbaut vom „Islamischen Verein für wohltätige Projekte“ aus dem Libanon, ist ein Mehrzweckgebäude, dient also nicht nur dem Glauben, sondern erfüllt darüberhinaus auch noch andere Dienstleistungs-Funktionen. Derartige Hybridisierungen, geeignet, die Trennungen von Religion, Wirtschaft, Politik und Kultur, zu vermischen, gibt es vor allem in Ost- bzw. Südosteuropa. So heißt z.B. eine neugebaute katholische Kirche im kroatischen Split „Gospa od Kauflanda“ (Die Muttergottes vom Kaufland). Derartige Gotteshäuser, die zu tausenden überall auf der Welt entstanden und entstehen – seit dem Zerfall der Sowjetunion, bestätigen laut dem kroatischen Philosoph Boris Buden, „dass es sich bei der postkommunistischen Renaissance der Religion um eine Art historische Regression handelt“. Dies gilt auch für die libanesische Kreuzberger  Moschee, denn die drumherum lebenden Muslime waren bis zum „Mauerfall“ fast alle Arbeiter und Kommunisten.

Und für beide semi- oder postsakralen Einrichtungen gilt, dass sie einer Institution gehören, die sich mehr oder weniger offen als ein Konzern und Immobilienunternehmer darstellen. Die liberale Religionskritik begreift zwar – laut Boris Buden, „dass Religion um so stärker wird, je mehr die gesellschaftliche Bindekraft nachläßt,“ aber nicht, dass diese „hybriden Bildungen“ die „wahren Produkte des gesellschaftlichen Zerfalls“ und der Atomisierung der Betroffenen sind.

„Jene zerstreuten und vereinsamten Mitglieder der zerfallenden Gesellschaft, die sich heute wieder um die Religion versammeln, tun dies nicht, um sich an der Gottesliebe zu erwärmen, sondern um ihre Gesellschaftlichkeit in den Antagonismen zu erneuern, die der religiöse Glaube in seinen kulturellen Übersetzungen erzeugt. Es ist also nicht die Wärme der Liebe zu Gott, sondern umgekehrt, ihre durchaus menschliche und deshalb auch politische Kälte, die die Menschen wieder zum religiösen Glauben bringt. Der Glaube kann kälter sein als der Haß. Daher ist er heute so mächtig geworden und kann voller Zuversicht in die Zukunft marschieren, von einer wohlbekannten Musik begleitet, dem (Joy Division-) Megahit unserer postsäkularen Ära: Gott ‚will tear us apart again‘.“  (B.Buden, „Zone des Übergangs“)

Wenn man dieser kommunistischen Kritik folgt, kann man sie vielleicht in dem Satz zusammenfassen, dass die neue hybrige Religiosität eine richtige Antwort in der falschen Sprache ist. Es gibt aber noch eine andere Kritik, die man vielleicht als wissenschafts-konservativ oder als nicht-bejahende Affirmation bezeichnen könnte:

In der 6. Ausgabe  des Halbjahresmagazins „polar“ – mit dem Heftschwerpunkt „Wie leben“ plädierten Bruno Latour und Émilie Hacs dafür, auch mit den „nicht-menschlichen Wesen“ zu verhandeln, d.h. ihnen in Ausweitung der „Menschenrechte“ der Französischen Revolution Sitz und Stimme an unseren „Runden Tischen“ einzuräumen. Dies setze jedoch eine Aufhebung der Dichotomie von Subjekt und Objekt, Natur und Kultur, sowie von Fakt und Fetisch  voraus, d.h. in gewisser Weise eine Rückkehr zur Vormoderne, was aber laut Latour nicht weiter schlimm sei, denn „wir sind nie modern gewesen: In der Praxis haben die ‚Modernen‘ Soziales und Physisches, Geist und Materie, Himmlisches und Irdisches nicht weniger vermischt als alle anderen Kulturen auch – nur unkontrollierter!“ Das reale Problem der „Moderne“ bestehe also vor allem in ihrer Blindheit für die Realität ihrer „Vermischungspraktiken“. Und nun gehe es sowieso nicht mehr um „Modernisierung“, sondern um „Ökologisierung“. Das ist im Kern der Inhalt von Latours „Akteur-Netzwerk-Theorie“.

Gemeinhin stellen wir uns den Fortschritt als durch „Aufklärung“ induziert vor – und die „Religion“, den „Aberglauben“, als etwas, das auf diesem Wege überwunden wird, der uns aus allen  „selbstverschuldeten Unmündigkeiten“ herausführt. Erinnert sei an die „Aufklärer“ Marx – „Religion ist Opium fürs Volk“ und Freud – für den Religion eine universelle Zwangsneurose und die Neurose eine individuelle Religiosität war. Und sind nicht sowieso alle Kollektive und Kommunismen bloß säkularisierte Glaubensgemeinschaften? Mit dem  Proletariat als neuer Messias? „Ubi Lenin – ibi Jerusalem,“ wie Ernst Bloch es sagte?

Bis zum Ende der Gewißheit an die immerzu fortschreitende Moderne, das spätestens mit dem Zerfall der Sowjetunion deutlich wurde, konnte man vielleicht noch von einem mählichen Absterben der Religiosität  ausgehen, aber seitdem ist das Gegenteil – eine wahre Renaissance des Glaubens – zu beobachten.

Allein die Pfingstbewegung hat weltweit mehrere Millionen neue Mitglieder und auch in den ehemaligen Sowjetrepubliken ebenso wie im arabischen und afrikanischen Raum haben Zigmillionen Menschen wieder zum  „wahren Glauben“ (zurück-) gefunden, ja, ihn fundamentalistisch politisiert sogar. Der Prozeß der globalen Säkularisierung hat sich bereits umgedreht. Wobei die gläubig  gewordenen Massen durchaus nicht mehr nur aus verelendeten bestehen, Träger dieses Prozesses ist jetzt – z.B. in der Türkei und in Indien – eher die Mittelschicht.  Und auf dem Vormarsch sind auch nicht mehr die sogenannten Vernunftreligionen, sondern die ekstatischen. Die (tschechische) Brüdergemeine hat sich darüber bereits gespalten und die katholische Kirche bemüht sich um die Integration der Erweckungsbewegten. Damit es ihr nicht so ergehe wie z.B. der evangelischen Pastorin von Bischofferode, die nach dem verlorenen Kampf der dortigen Kalibergarbeiter um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze, meinte, „daß jetzt nach der Niederlage so viel rückwärtsgewandtes Zeug im Eichsfeld passiert: Schützenvereinsgründungen, Traditionsumzüge und sogar Fahnenweihen – zum Glück hat man so was noch nicht an mich herangetragen.“ Aus ihrer Sicht ist der Fortschritt mit dem Ende der DDR und den darauf folgenden Versuchen einer kollektiven Selbstbestimmung gescheitert, deswegen triumphiert jetzt die (globale) Reaktion, die eine (neoliberale) Restauration ist. Wie sagte es Warren Buffett, der reichste Mann der Welt – in seinem Investorenrundbrief? „Es ist Klassenkampf und meine Klasse gewinnt…“

Diese Rückwendung hat jedoch nicht verhindert, dass die Bürger gleichzeitig immer vehementer gegen „von oben“, von Staat und Konzernen, durchgedrückte Großprojekte kämpfen. Der Wissenssoziologe Bruno Latour hat auch das hellsichtig kommen sehen: Aus den – von Politik, Wissenschaft und Kapital geschaffenen – „Fakten  wurden Belange“. Wir müssen uns also alle kümmern, kämpfen – und uns dazu kollektivieren oder umgekehrt. Seine „politische Ökologie“ ist das Gegenteil einer „Öko-Politik“. Dazu gehört die Verabschiedung von „Kritik, Natur, Fortschritt“: drei der „Zutaten des Modernismus, die kompostiert werden müssen.“ Denn die Experimente der „Naturalisten“ sind längst den Laboratorien entwachsen und betreffen uns mittlerweile alle. Wir sind damit zu „Mitforschern“ geworden, ob wir das wollen oder nicht – und müssen deswegen auch Mitentscheider werden.

Das geht nicht ohne Kampf. Schon warnt der Arbeitgeberverband, dass bei den sich derzeit auswachsenden Bürgerprotesten bald überhaupt keine „Großprojekte“ mehr realisiert werden können. Und ohne die geht es nun mal  nicht, fügen die Großindustriellen,  die Großpolitiker ebenso wie „Big Science“ hinzu – als souveräne Subjekte großer Objektivierungen. (1)

Gleichzeitig setzt sich jedoch langsam die Erkenntnis durch, dass wir die Biologie in Soziologie auflösen müssen – und nicht – wie von Malthus und den Eugenikern, von Huntington und Sarrazin versucht: umgekehrt. Das schwante schon dem Soziologen Gabriel Tarde: Für ihn besagte laut Latour „naturalisieren stets ent-objektivieren, um zu intersubjektivieren“. In diesem Sinne führte der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme kürzlich in einer Vorlesung über das in Berlin derzeit umkämpfte „Wasser“ aus: „Wer mit der Erscheinungsvielfalt des Wassers vertraut ist, wird leichter einräumen, dass jene Trennung von Subjekt und Objekt, wie sie für die neuzeitliche Wissenschaft kennzeichnend wurde, ein Irrweg ist, oder zumindest nur zur halben Wahrheit führt.“ Böhme ebenso wie die neuen Gläubigen sind damit bereits (wieder) in der Vormoderne angekommen. Der Schweizer Schriftsteller Rolf Niederhäuser schrieb über die Rückwendung der Akteur-Netzwerk-Theoretiker:

„‚Das Menschliche lässt sich nicht erfassen und retten, wenn man ihm nicht jene andere Hälfte seiner selbst zurückgibt: den Anteil der Dinge‘, sagt Latour. Auch die Dinge spiegeln – repräsentieren die Menschen! Und nur eine ’symmetrische Anthropologie‘, die ’solchen Dingen‘ wie dem Ozonloch, den Kurden und den geklonten Schafen parlamentarische Rechte einräumt, kann dem gestrauchelten Souverän wieder auf die Beine helfen. ‚Wir haben kaum die Wahl. Wenn wir nicht in ein gemeinsames Haus ziehen, werden wir die anderen Kulturen, die wir nicht mehr beherrschen können, nicht darin unterbringen. Und es wird uns nie gelingen, die Umwelt, die wir nicht mehr meistern können, darin aufzunehmen. Weder die Natur noch die andern werden modern werden. An uns ist es, die Art und Weise unsrer Veränderungen zu verändern. Oder es war umsonst, dass die Berliner Mauer während des wundersamen Jahres der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution 1989 fiel, um uns diese einzigartige Lektion der Dinge über das gemeinsame Scheitern von Sozialismus und Naturalismus zu erteilen‘.“

Diese „Lektion“ wurde von der Geschichte schon einmal erteilt, wenn man Walter Benjamin folgt, der Ende der Dreißigerjahre bereits den „Rückweg als Ausweg“ begriff – in seinen „Geschichtsphilosophischen Thesen“. Jüngst erinnerte der Trotzkist und Psychoanalytiker Helmut Dahmer noch einmal daran: „Benjamin markierte darin drei Grundfehler ‚unserer linken Führer‘: ihren Fortschrittsoptimismus, das Vertrauen auf ihre ‚Massenbasis‘ und ‚ihre servile Einordnung in einen unkontrollierten Apparat'“ Auf letzteres hatte ihn seine Trotzki-Lektüre gebracht. Dahmer hebt daneben hervor: „Benjamin war – wie Sigmund Freud – vor allem am ‚Problem der Erinnerung (und des Vergessens) interessiert.“ Über Marx hieß es in seinen „Thesen“: Er habe „in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert.“ Aber während für ihn, Marx, die Revolutionen noch „Lokomotiven“ der Geschichte waren, „um den langsamen Zug der Geschichte zu beschleunigen“, gab Benjamin zu bedenken: „Vielleicht sind sie der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse?“ Seine „Thesen“ waren Vorarbeiten zu einem „theologisch-politischen Traktat“, schreibt Dahmer, „wo andere dem technischen Fortschritt huldigen, erblickt er dessen Nachtseite, den gesellschaftlichen Rückschritt.“ Einen Ausweg sah er im Rückzug.

Dahmers ebenfalls politisch engagierter Kollege, der Psychoanalytiker Tilmann Moser, Autor eines Buches mit dem Titel „Gottesvergiftung“ beteiligte sich gerade an einem vom Historiker Karsten Krampitz herausgegebenen Reader: „Leben mit und ohne Gott“: In seinem Beitrag aus der Praxis „zur inneren Sicherheit“ , warnt  er seine Analytiker-Kollegen davor, „Religiosität und Spiritualität von vorneherein als ‚Schiefheilung‘ des Seelenlebens, als ‚Opium fürs Volk‘ oder als zweifelhafte Lösung für kindliches Elend und lebensbedrohende Angst [zu]  denunzieren“.  Er selbst half sogar einmal einer sich ihrer frühen religiösen Neigungen schämenden Patientin als „vorübergehender Glaubensbeförderer“ so ähnlich, wie es 1913 auch die Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé in ihrem Aufsatz „Vom frühen Gottesdienst“ vorschlug? Mit Klaus Harpprecht könnte man dies als eine „amerikanische Lösung“ bezeichnen. Der Willy-Brandt-Berater schrieb in der Oktoberausgabe der „Frankfurter Hefte“ über „Amerika“ – als „die letzte Bastion des Christentums in der westlichen Welt“, dass in den USA, anders als in Deutschland oder Frankreich, „Aufklärung und Religiosität niemals in einen grundsätzlichen Konflikt, der die Gesellschaft gesprengt hätte, gerieten“.

Auch Bruno Latour versuchte sich 2009 der bisher von ihm eher ausgeklammerten Religion zu nähern – in einem Vortrag am „British Museum“ mit dem Titel „Werden auch die nicht-menschlichen Lebewesen gerettet?“ Sein „ökotheologisches Argument“ gipfelte in dem Gedanken, dass die moralischen, spiritualistischen, psychologischen und wissenschaftlichen Definitionen der Religion dazu geführt haben, dass die Theologie, die Rituale und Gebete sich von der Welt, dem Kosmos,  abgewandt haben: „Sie sehen nichts Anrüchiges in dem Satz des Matthäus ‚Was nützt es Dir, wenn Du die ganze Welt gewinnst, aber deine Seele verlierst?‘ Dabei ist heute angesichts der ökologischen Krise die gegenteilige Frage  weitaus wahrer:  ‚Was nützt es Dir, wenn Du Deine Seele gewinnst, aber die ganze Welt verlierst?'“

Auf dem diesjährigen Soziologentag in Frankfurt hielt der US-Religionssoziologe Peter L. Berger das Einleitungsreferat. Darin appellierte er an seine Kollegen, das Erstarken der Religionen – den bisher unsichtbaren Elefanten in der Mitte unserer guten Stube, der Gesellschaft – soziologisch ernster zu nehmen als bisher geschehen, zumal dieser „Elefant“ auch noch gerade auf unseren Teppich geschissen habe. Der Amerikaner trug in seinem Vortrag Eulen nach Athen, denn unter den deutschen Soziologen (und Kulturwissenschaftlern) wird schon – spätestens seit 2001, genauer gesagt: seit „Nine-Eleven“, als Jürgen Habermas den Zeitgeistbegriff „postsäkulare Gesellschaft“ prägte (dem sofort eine  „Leuchtturmfunktion“ zukam) – die Macht der Religionen gegen die zunehmende Ohnmacht der „säkularen Moderne“ ins Interpretationsfeld geführt.

Bereits 2009 faßte der Aachener Politikforscher Thomas Philipp im „Berliner Journal für Soziologie“ ihre Debatte – ausgehend von Habermas‘ Treffen mit Kardinal Ratzinger 2004 – zusammen.  Erst einmal problematisierte er darin die Begriffe „post“ und „säkular“. Jürgen Habermas hatte den  „Geltungsbereich“ des Begriffs „postsäkular“ eingeschränkt, insofern in den demokratisch-rechtsstaatlichen Institutionen die „säkulare Amtssprache“  weiterhin tonangebend sein sollte. Unterhalb dessen durfte jedoch – in der Bevölkerung quasi –  um die Wahrheit gerungen werden: Die  „säkularisierten Gesellschaften West- und Nordeuropas“ würden sogar laut Habermas belebt von  der „Begegnung mit der Vitalität fremder Religionen“. Sie verschaffe  auch den „einheimischen Konfessionen eine neue Resonanz. Die eingewanderten Andersgläubigen sind ein Stimulus für die Gläubigen nicht weniger als für die Nichtgläubigen.“

Der Politologe Philipp gibt hierbei zu bedenken: „Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass nicht einfach eine Revitalisierung von Religion stattfindet. Die Religion selbst ist massiven Veränderungen unterworfen.“ Er möchte deswegen in der  Debatte den Begriff „postreligiös“ neben den Terminus „postsäkular“ stellen. Nicht zuletzt deswegen, weil es sich bei dieser Renaissance der Religiosität oft genug um selbstgebastelte Glauben handelt bzw. (wie im Falle der Patientin von Moser) um einen dekonstruierten Glauben. Schon der große Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg gab zu bedenken: „Es ist ein großer Unterschied zwischen etwas noch glauben und es wieder glauben. Noch glauben, daß der Mond auf die Pflanze wirke, verrät Dummheit und Aberglaube, aber es wieder glauben, zeugt von Philosophie und Nachdenken“.

Der Aachener Politologe Philipp würde am Liebsten den Begriff „postsäkulare Gesellschaft“ ganz  verabschieden, weil es grundsätzlich  fragwürdig ist, gesellschaftliche Entwicklungstendenzen auf einen (griffigen) Begriff zu bringen. Er sieht jedoch ein, dass der „Deutungshunger…einer aufgewühlten Öffentlichkeit – wie er z.B. nach den Anschlägen im September 2001 vorhanden war“ – befriedigt werden will. Deswegen ist die Soziologie auch immer wieder gefragt, „zeitdiagnostische Orientierung“ zu geben. Im Chor der Leuchtturmfunktionäre?

„Das Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen an staatlichen Schulen, die Konflikte um die Bauweise von Synagogen und Moscheen, die Auseinandersetzungen um die sogenannten Mohammedkarikaturen, die Ermordung des Künstlers Theo van Gogh in den Niederlanden, der Empfang des Dalai-Lama im Bundeskanzleramt, die Machenschaften von Scientology – nahezu täglich wird über Religionen in den Medien berichtet. Diese ’neue Sichtbarkeit‘ von Religion ist eingebunden in eine ‚globale Medienöffentlichkeit‘ und damit auch ein Teilmoment des Globalisierungsprozesses.“

Verzeichnen die „Weltbildgemeinschaften“ etwa nur Zulauf, weil die Gläubigen in die Medien kommen wollen? Doch wohl nicht, Philipps Debatten-Résümee legt zudem nahe, dass die massenhafte Hinwendung zur Religion paradoxerweise mit einem  „Rückzug des Religiösen“ einhergeht: In den westlichen Industriestaaten hat der „wissenschaftlich-technische Fortschritt unaufhaltsam den Bereich des Säkularen erweitert.“ Sonst wären „Diskussionen z.B. über gentechnisch veränderte Lebensmittel und Lebewesen,  Stammzellenforschung oder Sterbehilfe überhaupt nicht plausibel [zu] machen.“

Das „Wunder des Lebendigen“ (Hannah Arendt) gerät zusehends in den Sog naturwissenschaftlicher Forschung. Angesichts ihres Erkenntnisfortschritts kamen bereits Hegel und Nietzsche zu dem Schluß: Gott ist tot! Das war noch halbwegs nostalgisch gemeint, während der Philosoph Vilem Flusser 1984 jubelte: „Mit der Gentechnik beginnt die wahre Kunst. Erst mit ihr sind selbstreproduktionsfähige Kunstwerke möglich“. Jürgen Habermas warnte  dagegen 2001 vor den „fatalen Folgen“. Denn „Gott bleibt nur so lange ein ‚Gott freier Menschen‘, wie wir die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht einebnen.“ Da die „Amtssprache“ laut Habermas säkular bleiben soll, geht dieses Gottes-Problem den Staat und seinen Institutionen nichts an, wohl aber den religiös werdenden oder gewordenen Massen, den Gottsuchern. Und ist ihre Religiosität damit bereits ein Widerstand gegen den „wissenschaftlich-technischen Fortschritt“, dem sich die „Modernisierer“ weiterhin verpflichtet fühlen?

Man muß dabei jedoch sehen, so der Leiter des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Wolfgang Streeck in der Zeitschrift „Max Planck Forschung“ (3/2010) über „Die Macht der Unschärfe“, dass sich Wissenschaft und Politik gar nicht groß von den (religiösen) Massen unterscheiden – insofern sie ihre Argumente – Optimismus verbreitend und Panikmache („Alarmismus“) vermeidend – dämpfen und schönen. Daraus folgt für Wolfgang Streeck: 1. Die „Gesundbeterei kann die soziale Welt tatsächlich heilen“. 2. Durch ihre Verschönerungs- bzw. Beschwichtigungstendenz „können sich Politik und Wissenschaft – und gerade dessen positivistische Spielart – in Magie verwandeln“. 3. „Politiker neigen ohnehin zu einem magischen Weltbild“. Und 4. „Der Abstand zwischen Theorie und Intuition dürfte jedenfalls geringer sein als viele Sozialwissenschaftler glauben möchten.“

Wenn mit der „Intuition“ ein mit  Lebenserfahrung angereicherter Glaube gemeint ist, dann kommt diesem „Befund“ ein Vorschlag des Wissenssoziologen Latour entgegen: Da im Fakt mindestens ebensoviel Glaube steckt wie Fakten im Fetisch, möchte er die beiden Begriffe ersetzen durch das Wort „Faitiche“, um dahin zu kommen, die einst  zerschlagenene Einheit von Fakten und Fetische (wieder-) herzustellen bzw. neu zu bestimmen.

Anmerkungen:

(1) Der Medienforscher Georg Seeßlen hat kürzlich in der „Jungle World“ am Beispiel des Widerstands gegen das Großprojekt „Stuttgart 21“ nachgezeichnet, wie sich das „deutsche Bürgertum“ daran spaltet:

„Mal mir ein Bild vom Bürgerkrieg“

Die »Schere zwischen Arm und Reich« öffnet sich in der ganzen Euro-Zone, das ist das Wesen des Systems selber, doch hierzulande, sagt man, öffne sie sich schneller und stärker als anderswo. Unglücklich genug sind schon jene, die nahe genug am Gelenk der Schere sitzen, um nicht genau zu wissen, in welche Richtung das eigene Leben geht. Hier findet derzeit eine Spaltung des Restbürgertums statt, die am Ende jeden einzelnen Kopf schmerzen muss. Der perfekte Ausdruck dafür ist der demoskopische Aufstieg der Grünen, die offensichtlich die an den Protesten beteiligten Bürger erreichen. Sie tun das nicht durch eine eindeutige und kämpferische Politik, sondern durch Selbstwidersprüchlichkeit. Um nur ein Beispiel zu erwähnen: In Bayern stimmen die Grünen in den politischen Institutionen für die Olympia-Bewerbung, zugleich profitieren sie von der Stimmung gegen das Projekt. Der Widerspruch ist nicht nur einer zwischen Führung und Basis, er entspricht dem Wesen des Projekts des »grünen Ökonomismus«. Man mag das Taktieren durchschauen und das Stimmungshoch für eine Seifenblase halten, die bei den Revolten der guten Bürger entsteht und später platzen wird, und dennoch drückt gerade die Widersprüchlichkeit der Grünen wie das Verschwimmen der Konfrontationen in den Medien das Wesen der prekären bürgerlichen Klasse aus, die selber nicht minder unentschlossen und verstört auf die eigene Lage reagiert.

In dieser Konstellation ist nur weniges so weit ausgehandelt, dass es in der Mehrheitskultur als einigermaßen geklärt erscheint. Dazu gehört der Polizeieinsatz in Stuttgart: Das geht gar nicht. Oder die Politiker: lügen, was das Zeug hält. Und schließlich scheint auch die Position der Demonstranten einigermaßen geklärt: Es sind die Guten. Auch wenn sie vielleicht nicht Recht haben, sind sie ikonografisch und dramaturgisch als die Guten kenntlich. Dieser Konsens wurde, wenn auch vorläufig und eher emotional als diskursiv vermittelt, in den bürgerlichen Medien hergestellt, in Zeitungen, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit seiner Sowohl-als-auch-Dramaturgie, im »gepflegten« Bilderraum. Die Trash-Medien, deren Einfluss am Ende überwiegt, hielten sich zunächst zurück. Was in der breiten Mehrheit ankommen wird, ist noch unklar.  Denn ob der Aufstand der guten Bürger gegen destruktive Kapital- und Bagger-Bewegungen zu einem gesellschaftlichen Projekt wird, entscheidet sich womöglich am Verhalten der Bild-Zeitung, die wiederum eine Leserschaft repräsentiert, unter der sich wenige Demonstranten gegen Stuttgart 21, die Olympischen Spiele oder Atomkraftwerke befinden dürften. Wo der Weg auch hin gehen könnte, verrät eine Überschrift der Bild, der erster Häme-Ausfall: »Protest-Opa gerät ins Zwielicht«.

Da es immerhin um einen älteren Mitbürger geht, der in Gefahr ist, sein Augenlicht zu verlieren, testet man bereits die Bereitschaft der Leser zur Erbarmungslosigkeit aus. Vielleicht mag ja diese Mehrheit genau so gern »Protest-Opas« hassen wie langhaarige Chaoten?  Warum aber die bürgerlichen Medien die Protagonisten des bürgerlichen Aufstands schätzen, versteht man nur zu gut: Man spricht die gleiche Sprache, man teilt »Werte«, von denen man ahnt, dass sie im Begriffe sind, verloren zu gehen, und zwar durch eine neuerliche Allianz der ansonsten so trefflich getrennten Kulturen von Geldbewegern und Bild-Lesern. Die bürgerlichen Medien können sich nun zugute halten, die Produktion eines neuen Feindbildes verhindert zu haben (sei es der »Protest-Opa« oder die traumatisierten Gymnasiasten, die Demokratie-Unterricht am eigenen Körper erlebten) und damit auch die offenkundig beabsichtigte Spaltung der bürgerlichen Demonstranten. Vielleicht könnte man, lässt man die FAZ einmal außen vor, sogar ein kleines Projekt erkennen, auf vorsichtige, abwägende Distanz zu den jüngsten brachialen Manifestationen der beschleunigten Kapitalakkumulation zu gehen, und das wäre auch nicht ganz uneigennützig, geht es dabei doch auch um die eigene Existenzberechtigung.

Der Allianz der Guten kommt zudem entgegen, dass auf der anderen Seite offensichtlich eine geballte Ladung von Dummheit und Ignoranz steht, deren Charisma und Unterhaltungswert gegen Null tendiert. Es sind die Technokraten und Egomanen, die selbstherrlichen Entscheider und Betonköpfe, denen Demokratie nichts als lästige Verzögerung ist. Die baden-württembergische Regierung, die Polizeiführung oder Bahnchef Rüdiger Grube, der den Kontrahenten schlicht das Widerstandsrecht absprach, wirken, als hätte man sie regelrecht erfunden, um die Bürger zu empören. Es scheint, als habe man es geradezu darauf angelegt, nicht nur in den Demonstranten den alten Feind (die Kommunisten, die ungewaschenen Chaoten, die Rowdies) zu rekonstruieren, sondern dies auch durch die eigene Präsentation als Feindbild zu beschleunigen. Wenn Innenminister Heribert Rech formuliert, die Demonstranten würden von einer »grundsätzlichen Antipathie gegen den Staat« geleitet, dann beleidigt er genau jene, die sich als den harten Kern des demokratischen Staatsvolks verstehen. Dass es bei den bürgerlichen Aufständen nicht mehr um punktuelle Widerstände, längst nicht mehr allein um das Ärgernis vor der eigenen Haustür, sondern um die Konfrontation einer wachsenden Gruppe von Menschen mit der Regierung geht, dafür hat diese selbst gesorgt.

Die Citoyens, die im Zentrum des Protests gegen Stuttgart 21 stehen, inszenieren sich betont bourgeois, etwa sitzen bei »Beckmann« einem Bahn-Manager und der baden-württembergischen Verkehrsministerin Tanja Gönner der Schauspieler Walter Sittler und die Stuttgarter Bürgerin Christine Oberpaur gegenüber, und schon durch deren äußere Erscheinung wird klar, dass hier Vertreter eines alten, von Besitz, Kultur, Bildung und bürgerlicher Liberalität geprägten Bürgertums Vertretern eines neuen Bürgertums gegenübertreten, das für Effizienz, Populismus und Technologie steht. Sittlers Attacke gilt denn auch jener Politik, die die Menschen »allein lässt«.  Diese Rhetorik wird von den Medien nur zu gerne aufgenommen: Es geht offensichtlich um Menschen, die gerade eben erst »enttäuscht« wurden, die bis gerade eben an die harmonische Verbindung von Demokratie und Kapitalismus glaubten. Und tatsächlich erhebt sich daraus die Forderung nach der Volksabstimmung als klammheimlicher Bankrotterklärung der repräsentativen Demokratie. Zum indirekten Verhandlungsgegenstand der Talkshows mit ihren offensichtlichen Image-Inszenierungen ist der Tod des Thomas-Hobbes-Staats geworden, der für das faire gegenseitige Vertragsverhältnis seiner Bürger zu sorgen hat. Seine Vertreter, die immer wieder nur auf die Vertraglichkeit, die demokratische Rechtsstaatlichkeit, auf die formale Regelung des Verhältnisses von Staat, Wirtschaft und Volk pochen, erscheinen als Vertreter einer untergehenden Ordnung.

Doch ihre Gegenüber machen den Eindruck, als wären sie sich des Ausmaßes dieses Zusammenbruchs gar nicht bewusst, ja mehr noch, als wollten sie nichts lieber, als sich von der ungeliebten Straße wieder zurückzuziehen in bürgerliche Innen- und Kulturwelten.  Auf diese Krise der repräsentativen Demokratie antwortet Ministerpräsident Stefan Mappus mit einem dieser Blubberworte, die die Wandlung von Demokratie in Postdemokratie begleitet haben: »Dialogagenda«. Und in einem offenen Brief, den die Stuttgarter Zeitung abdruckt, bleibt er der progressistischen Linie, trotz aller Zusicherung, »bei Vorschlägen genau hinzuhören«, treu: »Wir in Baden-Württemberg haben uns stets dadurch ausgezeichnet, dass wir die Zukunft schon aktiv gestaltet haben, während andere noch verharrten. Daimler und Bosch sind nur zwei Namen unter vielen, die rund um den Globus einen guten Klang haben.«

Die handlungsmächtige Wirtschaft, das klassische Vorbild der Progressisten. Doch Daimler-Chef Dieter Zetsche hat sich schnell davon distanziert, auf die Seite der Befürworter festgelegt zu werden, weil auch die guten Bürger des Aufstandes Mercedes-Fahrer bleiben oder werden sollen. »Der Riss geht quer durch die Gesellschaft, durch Unternehmen, durch Familien«, schreibt die FAZ und belegt dies mit Zetsche, »der selbst ein Verfechter von Stuttgart 21« sei, aber »Schwierigkeiten« habe, »seine Frau vom Demonstrieren abzuhalten«. »Ich müsste sie anbinden«, sagt Zetsche der FAZ. Da lacht er, der FAZ-Leser. Dem gleichen Artikel zufolge warnt der Unternehmensberater Matthias Filbinger, der übrigens Sohn des einstigen Ministerpräsidenten ist: »Man muss sensibel sein. Jeder Gewerbetreibende muss prüfen, wie förderlich oder schädlich sich eine Äußerung aufs Geschäft auswirkt.«

Bei der politischen und medialen Spaltung des deutschen Bürgertums also ist die Wirtschaft aus nahe liegenden Gründen nicht bereit, offen für den progressistischen und gegen den konservativen Werte-Flügel Stellung zu nehmen. Gewitzt, wie sie nun einmal sind, versuchen sich die Markenhersteller beide Kundenstämme zu erhalten, so wie sich die Grünen gewitzt in beiden Diskursen bewegen wollen. Und gewitzt, wie sie nun einmal sind, könnten die Medien bis in die bürgerliche Mitte hinein notfalls das Narrativ wechseln und sich der Allianz gegen die »Feinde des Fortschritts« anschließen. Und dann wäre der Aufstand der Bürger an der Gewitztheit ihrer Instrumente gescheitert.  Oder es käme anders. Stellen wir uns vor, alle diese Konflikte um Stuttgart 21 und Atommüll-Endlager seien nur Vorgeplänkel für einen fundamentaleren Konflikt, und die beiden Fraktionen des deutschen Bürgertums ließen sich durch alle Gewitztheit nicht mehr zusammenhalten, es käme zur Spaltung des Bürgertums in den progressistisch-ökonomischen und den humanistischen Werte-Flügel, die staatstragende Klasse wäre entzweit. Und käme der deutsche Staat ohne diese staatstragende Klasse aus?

Stellvertretend wird also in den Medien einem Staat der Prozess gemacht, der die Beziehung zu seinem Bürgertum verloren hat. Nicht zufällig wird immer wieder betont, dass es nicht so sehr um die Bevölkerung gehe als um »die Bürger«. Wahlweise könnten wir nun behaupten, das sei ein verdammt guter Trick, die Ausbreitung der Proteste zu verhindern. Hartz IV- und Niedriglohnempfängern kann es egal sein, ob ein Bahnhof über oder unter der Erde liegt, wie viele Milliarden dafür verballert werden und in wie vielen Minuten man schneller in Paris wäre. Tatsächlich gibt es ganz einfach niemanden, der von Stuttgart 21 wie von der Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerk wirklich profitiert, außer eben den üblichen Profiteuren. Nur ein vages Versprechen von »Fortschritt« bleibt, von Urbanität und Dynamik, das nur leider keinen Inhalt mehr hat. Der progressistische und der konservative Flügel des Bürgertums, die sich im klassischen kapitalistisch-demokratischen Staat ergänzten, literarische und moralische Reibereien inbegriffen, müssen sich immer mehr entzweien, wenn der Fortschritt nichts mehr verspricht außer der weiteren Produktion von Armut auf der einen und Profit auf der anderen Seite.  Angesichts dessen, dass dem Fortschrittsglauben sein soziales Beiwerk verlustig ging, wandeln sich seine Vertreter in Karikaturen des einstigen progressistischen Flügels.

Wie weit das gehen kann, zeigt der baden-württembergische Tunnelbau-Unternehmer Martin Herrenknecht, der in der Talkshow »May-Britt Illner« eine sehr merkwürdige Satzkonstruktion wählt: »Eine Demo ist heute, in einer Demokratie, eben in.« Wir wagen es nicht, diesen Satz textkritisch zu behandeln, jedenfalls nicht ohne Rücksprache mit einem Rechtsanwalt, aber Herr Herrenknecht (für den Namen kann er ja nichts, es gibt nur seltsame Zufälle in dieser Welt), offenbart sich selbst genug: »Wenn die CDU die Landtagswahlen verliert, würde ich in die Schweiz gehen.« Es sind mediale Schauspiele wie diese, die die Spaltung des Bürgertums vorantreiben. Denn vor lauter »positivem Denken« haben die Vertreter der Progressisten etwas vergessen, was für das Bürgertum nicht nur äußerlich legitimierend war: Bildung. Auch insofern sind Talk Shows ein ideales Mittel für diese Auseinandersetzung, weil hier gebildete Sprache auf technokratische, humanistische auf Verkaufssprache trifft.  Es ist ein Kampf zwischen den Moralisten und den »Leistungsträgern« in dieser Klasse entbrannt, jenen, die »es schaffen« wollen, koste es, was es wolle, und die alle verachten, die es nicht »schaffen« können oder wollen. Die Hysterisierung entsteht, weil den Machern plötzlich etwas im Weg liegt, was sie nicht begreifen, und umgekehrt begreifen die »guten Bürger des Aufstands« gar nicht, mit wem oder was sie da so lange liiert waren. Es geht nicht um die sogenannten Heuschrecken, sondern um die dynamischen Ärmelaufkrempler, vielleicht gar nicht mal um die Profiteure, sondern um die Maschinisten, deren Bilder im Fernsehen, wie das von Mappus, zunehmend zur Karikatur der Machtübernahme der Techno- und Mediokraten werden.

Nun könnte man wohl sagen, dieser Kampf innerhalb des Bürgertums sei auch als Ablenkungsmanöver gegenüber den »eigentlichen« sozialen Bruchlinien zu verstehen. Weder Cindy aus Marzahn noch Hansi Hinterseer sind von diesem Kampf um die Vorherrschaft im idealen Bürgertum betroffen, und auch in den oberen Etagen der Bürotürme ändert sich nicht viel. Das Kapital sucht sich eben etwas anderes, wenn ein unterirdischer Bahnhof gerade nicht geht.  Aber bürgerliche Revolten haben nicht unbedingt den Wandel des Systems als Ziel, nicht einmal prinzipielle Kritik, sondern, und immerhin: Begrenzung der Macht der Regierenden. Im Zweifelsfall: Austausch der Regierenden. Der Angriff des moralischen Flügels, der durch die Auswahl der Talkshowgäste als Allianz der Großmütter und Enkel erscheint, die gegen die Politikergeneration des Neoliberalismus ankämpft, erfolgt in dem Moment, wo diese ihre Ideologie in einer Mischung aus wirrem Biologismus, Sozialdarwinismus, Pop-Hedonismus und Max Weberschem Leistungskapitalismus findet, eine Ideologie, die bürgerlich ist und zugleich etliche bürgerliche Tugenden radikal entsorgt hat.

Angesichts dessen sucht die Öffentlichkeit ein neues Bild vom Bürger, sowohl vom Bourgeois wie auch vom Citoyen. Für diese Suche eignet sich der Stuttgarter Bahnhof bestens als symbolisches Werk, hier werden drei der bürgerlichen Heiligtümer zerstört: ein Stück befriedete und »gerettete« Natur, ein wahres Denkmal der einstigen produktionskapitalistischen Progression und schließlich eine Form des öffentlichen Raums, in dem sich schon immer Profitinteresse und staatliche Fürsorge getroffen haben. So geht es um das neue Gesicht der bürgerlichen Klasse, und auch um neuen Raum jenseits von Effizienz und Unterhaltung.

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