„Arabische Revolution“. Photo: taz.de
Die FAZ gibt auf ihrer Seite über die „Arabellion“ einen Überblick über die selbe:
Zur Stützung der Herrscher des Bahrain sind saudi-arabische Soldaten in das Land einmarschiert – sie gingen bzw. fuhren über die Brücke, die Bahrain mit Saudi-Arabien verbindet, wie die FAZ hinzufügt. In Libyen nähern sich die Gaddafi-Truppen der Rebellenhauptstadt Benghasi. Im Jemen schossen die Polizisten abermals mit scharfer Munition auf „Regimekritiker“. Ähnliches passierte den Demonstranten in Marokko. In Oman verspricht der Sultan „Reformen“.
Die taz ist heute gründlicher. Das beginnt mit einem interessanten Text des in Italien lebenden libyschen Journalisten Farid Adly: „Helft dem neuen Libyen“
Was in Libyen vor sich geht, ist kein Bürgerkrieg, sondern der Aufstand eines Volkes gegen einen Tyrannen, seine Familie und seine Söldner. Dieser Aufstand ist vergleichbar mit dem europäischen Widerstand gegen die Mächte des Faschismus in den 1930er- und 1940er-Jahren.
Die libysche Revolution vom 17. Februar 2011 wird angeführt von der Jugend und von Demokraten, die ihre Geschichte im Land selbst haben. Mit dem Wind der Ereignisse von Tunesien und Ägypten im Rücken haben sie sich gegen die Tyrannei erhoben. Wenn wir diesen Schrei nach Freiheit nicht in den Mittelpunkt all unserer Aufmerksamkeit stellen, diesen Schrei, der von unten kommt, dann missverstehen wir völlig den Charakter dieser Erhebung.
Das neue Libyen, das aus der Zerstörungen und aus den Massakern an Zivilisten entstehen muss, wird ein junges Land sein. Die Jungen, die nie ein anderes System kennen gelernt haben, sind die Protagonisten. Was Freiheit bedeutet, haben sie im Internet gelernt. Das Netz hat das politische Vakuum aufgefüllt, das durch Gaddafis Repression in Libyen entstanden war. An all den Informationen aus dem Ausland, aber auch aus Libyen selbst, an den Möglichkeiten der Vernetzung ist diese Generation gewachsen und hat dem Protest gegen das Regime eine ganz neue Energie gegeben.
Aber was hat die Revolte ausgelöst? Libyen ist ein reiches Land. Aber die Libyer sind arm. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Schere zwischen den wenigen Reichen und den vielen Armen klafft immer weiter auseinander. Die Daten der libyschen Zentralbank sprechen eine klare Sprache: 30 Prozent der Jungen im arbeitsfähigen Alter sind ohne Beschäftigung, 20 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Merkwürdige Zahlen für ein Land mit nur 6 Millionen Einwohnern, aber mit Gas- und Ölvorkommen, die zu den bedeutendsten in Afrika zählen.
Die Jungen blicken nach Europa, in die USA, sie haben im Internet die Freiheit gefunden, die ihr Land ihnen verweigert hat. Sie sind die entscheidenden, aber nicht die einzigen Träger der Revolte. Es gab und gibt eine libysche Zivilgesellschaft – und sie ist aufgewacht: Anwälte, Richter, Freiberufler und Kaufleute, Angestellte und Arbeiter, die lange mit gesenktem Haupt unterwegs waren, sagen: Es ist genug! Schon vor fünf Jahren, im Februar 2006, zeigten sich die ersten Anzeichen dafür, als es eben in Bengasi, dem Zentrum der heutigen Revolution, zu Demonstrationen vor dem italienischen Konsulat kam.
Dabei ging es keineswegs, wie behauptet, nur um die Mohammed-Karikaturen: Das Gespenst einer radikal-islamischen Bewegung haben der Tyrann und sein Sohn, Seif Islam, heraufbeschworen, um die Opposition im Westen zu diskreditieren. In der Kyreneika gibt es kein islamisches Emirat und auch keine Zelle von al-Qaida. In allen befreiten Städten gab es Demonstrationen von Frauen – und sie waren nicht verschleiert. Drei Frauen sitzen im Provisorischen Nationalrat.
Die Fahne, welche die Revolutionäre schwenken, ist auch nicht die Fahne des Königs oder des Stammes der Senussi, sondern der libyschen Unabhängigkeit. Ich selbst hätte auf Grund meiner persönlichen und politischen Geschichte mit der roten Fahne in der Hand demonstriert – aber ich und meine Generation sind eben nicht die Träger dieser Bewegung. Die monarchistische Strömung in ihr ist jedenfalls sehr klein.
Man hört immer wieder von der Angst vor einem Machtvakuum. Dabei ist die alternative Struktur in den befreiten Städten bereits voll funktionsfähig. Dort haben sich Volkskomitees gebildet, die über alle Belange des städtischen Lebens entscheiden. Sie bestehen aus Freiwilligen, die sich all der Versäumnisse der Vergangenheit annehmen. Die Beschlüsse werden in Fotokopien auf den Straßen verteilt. In Bengasi konnte nicht nur der öffentliche Nahverkehr wieder aufgenommen werden, sondern auch der Schutz öffentlichen Eigentums durch freiwillige Wachtrupps ist gesichert.
Die Koordinationsstelle dieser Komitees arbeitet bereits am Entwurf zu einer Verfassung – der ersten seit 42 Jahren, in der die Menschenrechte und der Pluralismus verankert sein werden. Doch wie auch immer der Kampf ausgeht: Das Antlitz des Landes hat sich bereits fundamental verändert.
Der libysche Frühling ist eine junge und eine linke Bewegung. Doch um auf diesem Weg weiter voranzugehen, muss die Struktur der libyschen Gesellschaft verändert werden. Sorge bereitet vor allem die soziale und rechtliche Lage der Millionen ausländischer Arbeiter (circa 25 Prozent der Bevölkerung), die das alte Regime in sklavenähnlichen Zuständen ausbeutete.
Gaddafi ist am Ende. Schon 1973, vier Jahre nach der Revolution, war von dem freiheitlichem Programm seiner damaligen Offiziere nichts mehr übrig als brutale Unterdrückung. Die Universitäten wurden mundtot gemacht, die alten Mitstreiter entfernt oder ermordet, die Gewerkschaften verboten. Im Ausland ließ Gaddafi zahllose Oppositionelle töten. Am 26. Juni 1996 wurden im Abu-Salim-Gefängnis 1.200 politische Gefangene mit Maschinengewehren ermordet.
Grundlage seines Regimes, das die Ressourcen des Landes verschleudert, sind allgegenwärtige Überwachung und Bestechung. Unter Gaddafi sind nicht moderner Staat und Gesellschaft entstanden, sondern ein korruptes und korrumpierendes Regime, das die Unterstützung anderer Diktaturen suchte und sich auf Kriegsabenteuer (Uganda, Tschad) einließ.
Gaddafi hat lange genug die Fahne des Antiimperialismus und Antikolonialismus geschwungen. Aber schon lange macht er schmutzige Deals mit den reichen Ländern und ist dabei vor allem immer um seine persönliche Sicherheit besorgt. Uns, der libyschen Opposition, ist klar, dass viele sich nichts sehnlicher wünschen als den uneingeschränkten Zugriff auf das libysche Öl. Deswegen sind wir gegen jede militärische Intervention. Aber wir brauchen die Flugverbotszone, um den mörderischen Oberst am Einsatz seiner Luftwaffe zu hindern.
Auf den „tazzwei“-Seiten, die es eigentlich gar nicht mehr gibt, sie nennen sich jetzt „Gesellschaft und Kultur“ äußert sich in einem Interview der im Exil in Frankreich lebende tunesische Dichter Tahar Bekri u.a. über die Rolle der Jugend während des Umsturzes: „Treffender wäre Kaktusrevolution“.(Das bezieht sich auf die von US-Thinktanks noch jedesmal sofort in Umlauf gebrachten Verniedlichungsnamen „Nelkenrevolution“, „orangene“ und „samtene Revolution,“ die „Rosen“- und die „Tulpenrevolution“, ferner die „Jasminrevolution“ – um damit auszudrücken: in bezug auf unsere erwachsene Demokratie sind diese erfolgreichen Rebellen alles Kinder, die jetzt darauf warten, dass wir ihnen die „Demokratie“ richtig beibringen, d.h. die direkte Demokratie austreiben.)
Rudolf Balmer: Herr Bekri, was hat die Revolution in Tunesien für Sie als Vertreter der tunesischen Kultur geändert?
Tahar Bekri: In den letzten Jahrzehnten waren die Schriftsteller, Leute des Theaters, Films und der Choreografie immer da, um das herrschende Übel zu kritisieren. Ich gehöre selber einer Generation an, die schon unter Bourguiba viele Opfer gebracht hat. Natürlich bin ich sehr glücklich über diese Revolution, die eine grausame Polizeidiktatur hinweggefegt hat.
Von der Unterdrückung war ja gerade das künstlerische Schaffen betroffen. Einige haben sich dem Druck auch gebeugt.
Die Kultur musste der Zensur stets mit List begegnen, um zu existieren. Die Medien waren kontrolliert. Viele ließen sich mehr oder weniger einspannen. Noch im letzten August habe ich einen Appell von 65 Persönlichkeiten gesehen und darunter viele Künstler und Kulturschaffende, die eine Änderung der Verfassung verlangten, damit Ben Ali ein sechstes Mal 2014 kandidieren könne. Wie in allen Diktaturen gibt es solche, die die Herrschenden unterstützen und ihr Loblied singen. Andere aber haben Widerstand geleistet – oder, wenn sie weniger mutig waren, wenigstens geschwiegen, um integer zu bleiben und um nicht mit den Wölfen zu heulen oder sogar zu Instrumenten der Zensur zu werden. Es gibt einen Unterschied zwischen Kompromisse machen und sich kompromittieren.
Was meinen Sie mit List?
Die Kunst kann sich auch unter repressiven Bedingungen immer durch Anspielungen sinnbildlich verständlich machen, das haben auch Schriftsteller in Osteuropa so gemacht. Sie konnten so trotz Zensur letztlich alles sagen, was sie wollten, und die Leute begriffen es. Wer die Wahrheit hören und wissen wollte, konnte das auch in Tunesien.
Wird es, wie häufig nach Revolutionen, nun eine „Säuberung“ geben in Tunesien?
Es gab viel Opportunismus. Leute, die denunziert haben und Dreck an den Händen haben, dürfen nicht auf führenden Posten bleiben. Die Lüge darf nicht weiterexistieren. Gleichzeitig muss eine Hexenjagd vermieden werden. Das ist Aufgabe der Kommissionen für die Transparenz, die dazu geschaffen wurden. Dann gibt es aber auch in den Medien beispielsweise eigene Initiativen der Journalisten, die sich ethische Regeln geben wollen, damit nicht neue Lügen verbreitet werden.
Sehen Sie es als die Rolle der Intellektuellen an, hier einzugreifen?
Wenn ich in die Debatte eingreife, dann bestimmt nicht, um Öl ins Feuer zu gießen. Wir wollen alle, dass diese Revolution gelingt. Das Volk hat sich erhoben, es hat sich dadurch Respekt verdient. Es ist schon viel erreicht worden im Bereich der Freiheit, der Grundrechte und der Demokratie. Die wichtigste Errungenschaft ist bestimmt, dass die Angst verschwunden ist. Jeder in Tunesien weiß, wie es vorher war: mit politischen Gefangenen, Folter, Erpressung und Bestechung. Jeder hat aus eigener Erfahrung Erlebnisse der Erniedrigung zu erzählen.
Den einen geht diese Revolution nicht weit genug oder zu langsam voran, anderen vielleicht bereits zu weit?
Die Ungeduld ist legitim. Vergessen wir nicht den außerordentlich schwerwiegenden Akt der Selbstverbrennung von Menschen aus Verzweiflung in Regionen, die bisher benachteiligt worden sind. Der Ruf nach Würde und Freiheit kommt aus der Tiefe. Andererseits könnte die Unversöhnlichkeit oder der Starrsinn gewisser Parteien am Ende die Armee an die Macht bringen. Die Probleme sind jahrzehntealt und werden nicht in sechs Monaten behoben. Es braucht viel Weisheit. Ich zähle auf die Jugend, die in dieser Revolution ein sehr schönes Gesicht gezeigt hat. Es darf nicht dazu kommen, dass die Parteien in ihrem Wettstreit die Ideale dieser Jugend vergessen und verraten.
Hat Sie diese Jugend mit ihren Kommunikationsmitteln überrascht?
Einige haben mir kürzlich bei einer Lesung erzählt, wie sie zuerst nur in kleinen Zirkeln, mit vielleicht insgesamt hundert Leuten, im Internet die Überwachungsmechanismen getestet haben, um zu schauen, wie weit sie gehen können. Sie waren dann später selber überrascht, als sich ihnen auch bisher unpolitische Junge anschlossen und hunderttausend Leute auf die Straße gingen. Diese Generation wollte sich nicht wie jene ihrer Eltern von der Repression unterkriegen lassen.
Und ohne Facebook, Twitter etc. hätte es diese Revolution nicht gegeben?
Es wäre ungerecht, sie auf eine Internetrevolution zu reduzieren. In Wirklichkeit kam es zu einer Vereinigung dieser Kritik mit der Revolte gegen die Angst und die Armut, mit diesen heroischen und zum Opfer bereiten Demonstranten. Niemand kann vergessen, dass Ben Alis Polizei auf unbewaffnete Demonstranten scharf geschossen hat. Elitepolizisten haben sogar auf Trauerzüge geschossen, das war unverzeihlich.
Dass man diesem Volksaufstand den schönen Namen „Jasminrevolution“ gegeben hat, muss Sie als Dichter wohl freuen?
Das tönt lieblich, ärgert aber viele Tunesier. Denn das erinnert sie zu sehr an eine Art touristische Folklore. Und vielen hat der Tourismus bisher nichts eingebracht. Der Jasmin ist ja auch eher ein Symbol der wohlhabenden Regionen. Der Aufstand aber kam aus den abgelegenen, armen Gegenden, Kasserine und Gafsa, wo nicht der Jasmin blüht, sondern nur der Kaktus wächst. „Feigenkaktusrevolution“ wäre darum eigentlich treffender. Dabei ist Tunesien ja kein armes Land. Es war einst die Kornkammer Roms. Nachdem wir unsere Würde zurückerobert haben, müssen wir den Reichtum gerechter verteilen. Das Geld, das gestohlen wurde und das jetzt auf ausländischen Bankkonten blockiert ist, muss dem tunesischen Volk zurückgegeben werden. Und es muss der Bevölkerung in den unterentwickelten Regionen zugutekommen.
Im Unterschied zu Libyen oder Algerien ist Tunesien nicht reich an Erdölvorkommen.
Das Erdöl ist ein Malheur für die Araber! Vielleicht hat man darum Tunesien und seine Revolution in Frieden gelassen, weil wir kein Erdöl haben.
Sehen Sie die weitere Entwicklung optimistisch?
Ja, absolut. Was gegenwärtig geschieht, ist außerordentlich. Es ist mehr als nur ein Erwachen, es ist ein großartiger Kampf für wesentliche Grundwerte. Was derzeit in Tunesien, Ägypten, Libyen, aber auch in Bahrain und in der gesamten arabischen Welt passiert, ist vergleichbar mit dem Zusammenbruch des Ostblocks nach dem Fall der Mauer. Trotz regionaler Differenzen gibt es eine gemeinsame Geschichte. Keines dieser Länder kann sich der Entwicklung entziehen. Die Reformen werden mehr oder weniger weit gehen. Darauf hat die arabische Welt lange gewartet, Lateinamerika beispielsweise hat seine Revolution gemacht, in Asien sind wie in China und Indien bedeutende wirtschaftliche Veränderungen im Gang. Es war Zeit, dass die arabische Welt sich wandelt.
Inwiefern wird diese Revolution in Europa das Bild von den arabischen Ländern ändern, das vor allem durch eine Bedrohung durch den radikalen Islamismus geprägt wurde?
Bei einem Aufenthalt in Palästina – für mein Buch „Salam Gaza“- habe ich einiges verstanden. Das israelisch-palästinensische Problem ist ungelöst. Und die Art und Weise, wie die Angst vor dem Islamismus in den Medien dargestellt wird, erfolgt immer in Bezug auf Israel. Was man aber in Europa verstehen muss, ist die Tatsache, dass es keinen Frieden geben wird in dieser Region ohne Gerechtigkeit für die Palästinenser.
Die tunesischen Frauen haben eine wesentliche Rolle in der Revolution gespielt. Besteht die Gefahr, dass sie unter religiösem Druck um die errungenen Rechte gebracht werden?
Das hoffe ich nicht. Die Muslimbruderschaft ist heute legal und Teil der politischen Landschaft. Die Frage ist nun, ob der Islam in Tunesien eine Glaubenssache bleibt oder eine politische Bewegung. Es gibt in der arabischen Welt auch eine Glaubenskrise. Die Leute sind auf der Suche, und davon darf der radikale Islam nicht profitieren. Es ist jetzt wichtig, dass in der neuen Verfassung entsprechende demokratische Regeln festgeschrieben werden. Rachid Ghannouchi von der Ennahda hat versprochen, seine Partei werde die Verfassung respektieren. Aber wie weit wird er gehen gegenüber einer weltlichen Linken, die immer unterdrückt wurde und die keinerlei Regierungserfahrung hat? Man darf Ghannouchi nicht unterschätzen, das ist keine kleine Nummer, er ist ein Stratege und Mitglied der Internationale der Muslimbrüder. Oft haben die Islamisten auf echte soziale Frustrationen falsche Antworten angeboten. Es gibt mögliche Allianzen, die gefährlich werden könnten, wie zum Beispiel zwischen Islamisten und der extremen Linken. Damit das Wesentliche der Revolution bewahrt wird, müssen alle die demokratische Verfassung respektieren.
Haben Sie selber vor, nach Tunesien zurückzukehren?
Nein, ich lebe seit 1976 in Paris, ich habe mein Leben hier, bin mit einer Französin, einer Kunstmalerin, verheiratet. Nach dreizehn Jahren Exil als politischer Flüchtling kehre ich seit 1989 regelmäßig nach Tunesien zurück. Im Jahr 1989 wurde meine Bewerbung um eine Professur von der zuständigen Kommission angenommen, dann aber von einem Minister persönlich abgelehnt, der danach einer der wichtigsten Berater von Ben Ali wurde. Heute bin ich nicht mehr an irgendwelchen Posten interessiert, aber ich werde mich selbstverständlich an der Debatte beteiligen.
Auf der taz-Medienseite schreibt der Madrid-Korrespondent Reiner Wandler über die neue Lust der Leser in Tunesien an ihrer umgeschalteten Presse – unter der Überschrift „Die Revolution steckt an“:
Der alte, bucklige Zeitungsverkäufer auf der Avenue Habib Bourguiba in Tunis weiß nicht, wie ihm geschieht. Seit dem Sturz von Tunesiens Diktator Zine El Abidine Ben Ali am 14. Januar verkauft er Zeitungen wie noch nie in seinem Leben. Die Menschen, die in einem der unzähligen Bistros vor der Arbeit ihren Kaffee trinken, wollen nicht eine Zeitung, sondern gleich drei oder vier. Die Presse veröffentlicht Berichte über die Korruption des gestürzten Regimes, interviewt Mitglieder der Übergangsregierung, der Kommissionen, die freie Wahlen vorbereiten oder die Repression gegen die Jugendproteste untersuchen, sowie mit Oppositionspolitikern und Vertretern der Zivilgesellschaft.
Tunesiens Medienlandschaft hat sich grundlegend geändert. Bis zum Sturz des Diktators veröffentlichten Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen nur, was vom Kommunikationsministerium angeordnet wurde. Die Zeitungen brachten es fertig, auf einer einzigen Seite gleich vier oder fünf Artikel über Ben Ali und dessen große Errungenschaften unterzubringen. Selbst das Neue Deutschland zu Zeiten von Erich Honecker war kritisch dagegen.
Als eine der ersten Maßnahmen schloss die Übergangsregierung dieses Ministerium. Es wurde durch einen einfachen Satz ersetzt: „Die Presse ist frei!“ Selbst die staatliche Presseagentur hat seither einen Schwenk um 180 Grad vollzogen.
„Jetzt reicht’s aber mit Politik. Ich will einen guten Film oder ein Fußballspiel sehen“, erklärte das typische Strichmännchen des Karikaturisten Lotfi Ben Sassi auf dem Titelblatt der französischsprachigen Zeitung La Presse. Seit dem Umsturz sind im staatlichen Fernsehen Podiumsdiskussionen an der Tagesordnung. Zuschauer rufen an und beteiligen sich an den Debatten. Im Rundfunk ist es nicht anders.
Auch der Privatsender Hannibal, der dem Vertrauten Ben Alis, Larbi Nasra, gehört, hat sich von der neuen Offenheit teilweise anstecken lassen, nachdem der Boss wegen „Hochverrat“ verhaftet wurde. Ähnlich sieht es beim zweiten Privaten, Nessma, aus. Dieser gehört einer Holding aus engen Ben-Ali-Vertrauten und Mediaset, der Gesellschaft des italienischen Premiers Silvio Berlusconi.
Für viele Tunesier ist es etwas völlig Neues, das Nationale Tunesische Fernsehen, das bis zur Revolution, im Gedenken an die Machtergreifung Ben Alis am 7. November 1987 TV7 hieß, einzuschalten. Jahrelang informierten sie sich fast nur per Satellit bei France24 und al-Dschasira.
„Rote Linien gibt es immer noch“, heißt es in einer jüngsten Studie von Reporter ohne Grenzen. So wird über die Proteste gegen die Übergangsregierung und für eine verfassungsgebende Versammlung nur spärlich berichtet. Die „Front 14. Januar“, der unterschiedliche kommunistische und panarabische Kräfte angehören, bekommt keinen Sendeplatz. Die Journalisten der staatlichen Anstalt demonstrieren deshalb immer wieder für eine völlige Öffnung von Rundfunk und Fernsehen sowie die Säuberung der Strukturen von alten Kadern.
Mittlerweile haben zahlreiche Initiativen einen Antrag für eine Sendefrequenz, hauptsächlich für Radio, gestellt. Unter ihnen ist Radio Kalima der bekannten Oppositionellen Sihem Bensedrine und deren Mann Omar Mestiri. Radio Kalima, das über ein breites Korrespondentennetz in ganz Tunesien verfügt, sendete bis vor einem halben Jahr per Satellit. Dann wurde dies auf Druck Ben Alis unterbunden. Es ging über Internet weiter, auch wenn die Journalisten immer wieder verhaftet wurden.
„Es war nicht leicht, die Menschen zum Reden vor dem Mikro zu bringen“, erklärt Chefredakteur Omar Mestiri. Dennoch verbreitete Radio Kalima über ein Dutzend Nachrichten, lange bevor sie andere Medien hatten. Dazu gehören die blutigen Polizeieinsätze im Landesinneren kurz vor Ben Alis Sturz. Eine Fabriketage für die Studios von Radio Kalima ist bereits angemietet. Radio France greift bei der Ausrüstung unter die Arme.
Und schließlich berichtet Andreas Hartmann auf der letzten seite, auf der es zumeist um Formattexte geht, die „Szenen“ und „Ausgehen und Rumstehen“ heißen und in denen sich jemand über seine jüngsten Partyerlebnisse Gedanken macht, dass es derzeit „viele Gründe“ gibt , „depressiv zu sein“. U.a. schreibt er:
„…Andauernd passiert gerade irgendwo etwas, das einem die Partylaune verderben könnte, und die Ereignisse in Lybien sind schon deprimierend genug. Aber man kann all die Katastrophen normalerweise immer so wunderbar ausblenden, und wenn man mal nicht zur Ruhe kommen sollte, hilft vielleicht Alkohol.
Eigentlich wäre am Samstag auch noch Weggehen angesagt gewesen. Stattdessen habe ich Samstagabend eine SMS verschickt, in der zu lesen war: „Kann jetzt nicht weggehen. In Japan droht der Super-Gau. Nichts ist, wie es vorher war.“ Für den letzten Satz schäme ich mich im Nachhinein schon. Das ist so ein Sensationssatz, ein Superlativ, der eigentlich nichts aussagt. Außerdem sagen ungefähr das Gleiche am nächsten Tag auch der Betroffenheits-Profi Wolfgang Huber und Umweltminister Norbert Röttgen bei Anne Will. Und Röttgen sagt das, um damit verzweifelt dem Wahlvolk irgendwie verständlich machen zu wollen, dass selbst Schwarz-Gelb nach den Ereignissen in Japan nochmals die eigene Atomkraftpolitik überdenken will.
Aber andererseits war man von diesem „Nichts ist, wie es vorher war“-Gefühl einfach bestimmt an diesem Wochenende. Man war auf der Suche nach diesem Nine-Eleven-Moment, nach einem Anhaltspunkt, dass gerade die ganze Welt den Atem anhält. Nur Berlin und der Hang zu demonstrativer Lässigkeit in dieser Stadt machen es einem immer wieder nicht gerade leicht, die Dinge richtig einordnen zu können.“
Liest man alle „Arabellions“-Texte der heutigen taz hintereinander hat man wieder das alte Problem, das schon die Kommune 1, der Vietnamkongreß und Peter Schneiders Studentenbewegungs-Roman „Lenz“ umtrieb: die Schwierigkeit, die Solidarität mit Aufständischen in Asien in geeigneter Weise mit dem Alltagsleben hier zu verbinden – also das Private politisch werden zu lassen. Denn darum genau geht es im Aufstand. Der Philosoph Boris Buden sagt es so: „Es geht darin um die Politisierung in einer gleichsam transzendentalen Dimension des gesellschaftlichen Lebens, die nicht so sehr den Menschen als gesellschaftliches Wesen, sondern die ‚Gesellschaftlichkeit seines Wesens‘ betrifft. Die Politisierung von allem Bestehenden bedeutet einfach, dass das Bestehende als solches (im Aufstand) zur politischen Frage wird.“
Die Pariser Gruppe „Tiqqun“ leitete ihre „Einführung in den Bürgerkrieg“ mit einem Zitat des athenischen Gesetzgebers (Archonten) Solon ein, wonach jeder sich im Falle eines Bürgerkriegs bei Strafe der Ausweisung und Ehraberkennung der einen oder anderen kämpfenden Partei anzuschließen habe.
Hinzugefügt sei, dass Plutarch dieses Gesetz für sein „Sonderbarstes“ hielt: „Vermutlich war seine Absicht dabei, jeder solle sogleich die beste und gerechteste Partei ergreifen, und lieber mit dieser die Gefahren teilen, als in sicherer Runde abwarten, wer etwa die Oberhand behalten würde.“ Wenn man die Berichte aus Benghasi liest und an die vielen Leute dort denkt, die nur aus Liebe zu ihrem Posten (als Bankdirektor z.B.) bei den Rebellen mitmachen, dann ist das ein gar nicht dummer Gedanke von Solon gewesen, der zudem aus eigener Erfahrung gespeist wurde – und das genaue Gegenteil von dem ist, was in England dann dem unsäglichen und lebens- bzw. bürgerkriegsängstlichen Hobbes einfiel: die Bürger sollen zugunsten der Beendigung ihrer Feindseligkeiten ihre Freiheit einem König übertragen. Auch Plutarch hat schon – in seinen „politischen Schriften“ – dieses auf die Ehre jedes Einzelnen im Bürgerkrieg pochende Gesetz von Solon kritisiert.
AP meldet um 14 Uhr aus dem Bahrain:
Die Lage im Golfstaat Bahrain hat sich am Dienstag weiter zugespitzt. Heute kam es offenbar zu einem ersten Zwischenfall mit den saudischen Truppen. Ein Soldat sei von Demonstranten erschossen worden, hieß es aus saudiarabischen Sicherheitskreisen.
Die Entsendung der saudiarabischen Truppen führte auch zu weiteren Spannungen in der Region. Der Iran verurteilte die Entsendung als „inakzeptabel“. Das werde die Krise in dem sunnitisch geführten Königreich nur komplizieren. Auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle erklärte, die Lösung für den Ausgleich und Dialog in Bahrain könne nicht aus dem Ausland kommen. Es müsse alles getan werden, damit die Situation nicht weiter eskaliere.
Aus Libyen berichtet dpa etwa um die selbe Zeit in einer Zusammenfassung:
Verzweiflung der Aufständischen in Libyen wächst. Der Westen diskutiert, Gaddafis Armee marschiert. Während sich die internationale Gemeinschaft weiterhin nicht auf eine Flugverbotszone in Libyen einigen kann, drängen die Truppen Gaddafis die Aufständischen mit Unterstützung von Bombern immer weiter zurück.
Die Aufständischen in Libyen haben der geballten Militärmacht von Staatschef Muammar al-Gaddafi immer weniger entgegenzusetzen. Nach ihren jüngsten Gebietsgewinnen im Osten gehen die Truppen des Regimes nun verstärkt gegen die von ihnen eingekesselten Städte im Westen des Landes vor. Ein Augenzeuge sagte dem arabischen TV-Sender Al-Dschasira am Dienstag, die Aufständischen hätten innerhalb weniger Stunden die Kontrolle über die Kleinstadt Suwara nahe der tunesischen Grenze verloren. Weiterhin unter Beschuss liegt Misurata, eine der größeren Städte im Westen. Weiterhin umkämpft ist nach Auskunft eines Sprechers der Aufständischen die Stadt Al-Sawija. Mehrere Rebellenkommandeure hatten am Montag angedeutet, dass sie ein Blutbad befürchten, falls sich die internationale Gemeinschaft nicht zur Einrichtung einer Flugverbotszone durchringen sollte. Ein Amnestie-Angebot der Führung für „reuige“ Rebellen, die ihre Waffen abgeben, machte auf die Aufständischen nicht viel Eindruck.
Ein Sprecher der Rebellen in Misurata sagte, Gaddafi habe inzwischen so viel Angst vor Verrat in den eigenen Reihen, dass er sich nur noch auf seine Söhne verlasse. Ein Polizeikommandeur in der von den Aufständischen kontrollierten Stadt Bengasi im Osten des Landes sagte, ein Sieg der Rebellen sei noch nicht ausgeschlossen. „Falls es den Truppen von Gaddafi nicht bald gelingt, die Raffinerien des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen, wird ihnen der Treibstoff ausgehen“.
Gaddafi gab derweil ein weiteres merkwürdiges Interview. Der italienischen Zeitung „Il Giornale“ sagte er, seine Regierung führe zwar Krieg gegen das Terrornetzwerk Al-Kaida. Aber wenn der Westen sich verhalten sollte wie beim Vorgehen gegen Saddam Hussein im Irak, „denn wird Libyen die internationale Allianz gegen den Terrorismus verlassen“. Tripolis werde sich dann mit Al-Kaida verbünden und den Heiligen Krieg erklären. Noch vor wenigen Tagen hatte Gaddafi ein Komplott der Al-Kaida für den Aufstand in Libyen gegen sein Regime verantwortlich gemacht. Den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy nannte er geistesgestört. Von Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi sei er enttäuscht, führte Gaddafi aus.
Die Außenminister der G8-Staaten setzten in Paris ihre Beratungen über das Vorgehen gegen Gaddafi fort. Am Vorabend hatten sie sich zunächst nicht auf eine gemeinsame Linie einigen können. Es geht um eine Flugverbotszone über Libyen.
Im Vergleich zu seiner Argumentation im „Grünen Buch“ wirkt Gaddafi jetzt wirklich geistesgestört in seinen Äußerungen und Auftritten, aber eigentlich ist sein Geisteszustand auch egal. Aus Tunesien kommen nur noch Meldungen über nach Lampedusa geflüchtete Jungmänner (?), sie nutzen die allgemeine Verunsicherung auch des Westens über die arabischen Aufstände zum Auswandern, während die selbe Altersgruppe in Libyen sich bewaffnet und in den Aufstand eilt. Beim Spiegel sind derweil die Allarabischen Aufstände gänzlich aus der „Topthemen“-Leiste verschwunden zugunsten unserer ehemaligen Achsenpartnermacht Japan. Aus dem Nachrichtensalat entfernt wurde auch der immer noch andauernde Generalstreik in Madison, Wisconsin, die Streiks in Griechenland und ferner die „Stuttgart 21“-Proteste.
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