vonHelmut Höge 21.03.2011

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Kinoplakat. Photo: home.datacomm.ch

Dänemark hat sich im Kreis der Westallianz gegen Gaddafi zurückgemeldet – bei den Nachrichtenagenturen, dpa zitiert heute morgen eine veröffentlichte Kopenhagener „Meinung“:

„Die internationale Gemeinschaft kann die Revolution für die Libyer gewinnen. Und auch wenn die Flugverbotszone funktioniert, bringt das Gaddafi noch nicht weg. Wir können nur hoffen, dass die Libyer vor einem Massaker bewahrt werden. Das sind die harten Realitäten, über die die politischen Führer offen sprechen sollten. So könnte eine Neuauflage der verlogenen Rhetorik verhindert werden, die die Operationen im Irak und in Afghanistan begleitet hat.“

Die Nachrichten aus Libyen werden dergestalt zunehmend verdrängt von Meldungen/Meinungen über Libyen – das ist nicht gut.

In der Süddeutschen Zeitung meint der Libyen-Reporter Thomas Avenarius:

„Die arabische Revolution hat ihre Unschuld verloren. Mit dem Eingreifen des Westens läuft der Aufstand nun Gefahr, seine ureigene Legitimation zu verlieren. Das Aufbegehren gegen Gaddafi bewegt sich in die Arena der internationalen Machtpolitik. Zugleich können die westlichen Staaten in Libyen in die Wirren eines neuen Kriegs in der islamischen Welt verwickelt werden. Dies umreißt die Risiken des Militäreinsatzes für die arabische Welt und für den Westen zugleich.“

Avenarius fährt damit fort, was hier in der taz auch zuletzt immer gesagt wurde:

„Aber die libyschen Aufständischen haben um Hilfe gebeten.“

Die spanische Zeitung „El Mundo“ kommentiert den Angriff des Westens auf Gaddafis Truppen:

„Es dürfte niemanden überraschen, dass die USA und ihre Verbündeten es bei der Schaffung einer Flugverbotszone nicht bewenden lassen. Dieser Begriff ist längst zu einem Euphemismus geworden. Die militärischen Aktionen gehen über den Schutz der Zivilbevölkerung weit hinaus. Das eigentliche Ziel ist der Sturz Gaddafis.

Allerdings ist es fraglich, ob dies ohne den Einsatz von Bodentruppen erreicht werden kann. Russland und die Arabische Liga beklagen, es habe bei den Bombardements viele Opfer in der Zivilbevölkerung gegeben. In Libyen droht ein echter Krieg. Jeder interpretiert die UN-Resolution nach seinen Interessen.“

Die bulgarische Zeitung „Dewnik“ schreibt:

„Mit Sicherheit steht ein großer Teil der Libyer heute vor der Situation, in der sich die Iraker 2003 befanden (…). Die heutige Entwicklung in Libyen erinnert auch an ein Szenario von 1991, das aber nicht verwirklicht wurde. Damals – im März vor genau zwanzig Jahren – erwarteten die Rebellen nach dem Ausbruch der Aufstände gegen Saddam Hussein Hilfe vom Ausland, um ihr revolutionäres Werk zu vollenden, die sie allerdings nicht erhielten. Der Aufstand versank im Blut, und das diktatorische Regime erhielt einen neuen Aufschub.“

Die Parteizeitung „Das Volk“ der chinesischen Kommunisten hat das Vorgehen des Westens in Libyen harsch kritisiert:

Sie verglich die Militäraktion vom Wochenende mit den US-geführten Einmärschen im Irak und in Afghanistan. In dem Blatt heißt es, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten verletzten internationales Recht. Der Kommentator sprach davon, dass „das unaussprechliche Leiden des Volkes“ im Irak eine Warnung sein sollte. (AP)

Die diesbezüglichen Nachrichten aus Deutschland beschränken sich darauf, die deutsche Nichtbeteiligung an der UNO-EU-NATO-Mission „Odyssee Morgendämmerung“ pro und contra zu diskutieren.

Vergeblich sucht man eine Meldung über die auf dem Weg nach Italien zur Sammelstelle verloren gegangenen dänischen Kampfflugzeuge:

Haben sie noch vor dem Angriff Anschluß an den Schwarm der anderen gefunden?

Die polnische Zeitung „Rzeczpospolita“ schreibt:

„Dieser Krieg erinnert am meisten an die Befreiung des vom Irak besetzten Kuwaits 1991. (…) Er entspricht im hohem Maße dem Begriff eines gerechten Krieges, von dem Cicero und der heilige Thomas von Aquin (…) gesprochen hatten. Die Muslime verbünden sich heute mit dem ungläubigen Westen, um einen gefährlichen Verrückten zu stürzen. Libysche Aufständische, die die französischen Kampfflugzeuge bejubeln, das ist ein einzigartiges Bild.“

Die italienische Zeitung „La Stampa“ hat eine andere Sichtweise auf das „Ereignis“:

„Anders als es scheint ist dies ein ganz amerikanischer Krieg, der Afrika im Auge hat und nicht den Nahen Osten. (…). Der europäische Angriff auf Muammar al-Gaddafi sieht jedenfalls sehr nach dem letzten Versuch Englands und Frankreichs aus, geschwundenes Ansehen zurückzugewinnen. Die Attacke Europas gegen einen Verbündeten der vergangenen 30 Jahre zeugt dabei von einem schief gelaufenen politischen Ansatz. Dieses Scheitern vor Augen haben sich die USA entschlossen, in einen Bereich vorzudringen, der als letzter fast ausschließlich europäisch beeinflusst war – in den Mittelmeerraum.“

Im Spiegel „Liveticker Libyen“ wird eine russische Quelle zitiert:

„Die Vetomacht Russland hat sich im Weltsicherheitsrat bei der Abstimmung zur Uno-Resolution enthalten – und nicht mit Nein gestimmt. Doch seit Beginn der Luftangriffe kommt immer wieder heftige Kritik. Nun sagt Premier Wladimir Putin, die Resolution erinnere ihn an einen ‚Aufruf zum Kreuzzug aus dem Mittelalter‘.“

Ähnlich sehen das neben einigen südamerikanischen Politikern auch die „radikalislamischen Taliban“, die sich deswegen jetzt mit Gaddafi solidarisiert haben – dazu heißt es im Spiegel „Liveticker“:

„Libyen verdient in dieser schwierigen Zeit unsere Unterstützung“, sagte ein Sprecher der Taliban. „Den westlichen Staaten, allen voran den USA, geht es doch nur darum, ihre eigene Agenda durchzusetzen. Der Libyen-Einsatz ist ein Krieg gegen den Islam.“

Die französische Zeitung „Libération“ meint:

„Diese Militäraktion verstärkt den Druck auf autoritäre Regimes, Reformen zu beschleunigen, wie beispielsweise in Marokko. Die Libyer werden schließlich selbst über ihr gemeinsames Schicksal entscheiden. Am Sonntag wurde in Bengasi mit seiner Bevölkerung von einer Million Menschen in letzter Minute ein Blutbad vermieden. Eine unerwartete Entwicklung, die vor wenigen Tagen noch nicht möglich schien.“

Die ungarische Nationalzeitung „Magyar Nemzet“ gibt zu bedenken:

„Die neue Militäraktion wirft eine Reihe von Fragen auf. Verletzt sie nicht das Prinzip der Souveränität? Was würde Sarkozy sagen, wenn zum Beispiel Algerien die Zusammenstöße in den Pariser Vorstädten satt hätte und zum Schutz der Menschenrechte Flugzeuge über der französischen Hauptstadt kreisen ließe? (…) Und wenn die internationale Gemeinschaft die libysche Diktatur schon satt hat und sich zu so gravierenden Schritten entschlossen hat – warum schaut sie dann gleichgültig auf die Unterdrückung der Menschenrechte im nahen Saudi-Arabien? Warum schickt sie keine Soldaten zum Schutz der friedlichen Bevölkerung nach Bahrain, wo man gerade die Demonstrationen der Opposition mit Hilfe saudischer Panzer brutal niedergeschlagen hat?“

Die Antwort ist einfach: Weil nur die libyschen Aufständischen Waffenhilfe angefordert haben.

Erneut melden sich die Dänen zu Wort – diesmal ist es ihre Zeitung „Politiken“, sie schreibt:

„Die Entscheidungen und Ereignisse der letzten Tage sind historisch. (…) Libyen hat gezeigt, dass die Zeit der humanitären Interventionen nicht vorüber ist. Die Vereinten Nationen haben hier ihre Legitimität zurückgewonnen. (…) Aber die internationale Gemeinschaft kann die Revolution für die Libyer gewinnen. Und auch wenn die Flugverbotszone funktioniert, bringt das Gaddafi noch nicht weg. Wir können nur hoffen, dass die Libyer vor einem Massaker bewahrt werden. Das sind die harten Realitäten, über die die politischen Führer offen sprechen sollten. So könnte eine Neuauflage der verlogenen Rhetorik verhindert werden, die die Operationen im Irak und in Afghanistan begleitet hat.“

Die französische Zeitung „Le Figaro“ veröffentlicht heute folgende „Meinung“:

„Je mehr Zeit verstreicht, desto größer wird das Risiko, dass durch die Luftangriffe der Alliierten auch Zivilisten getötet werden können. Frankreich zeigt im Schulterschluss mit Großbritannien die größte Entschlossenheit. Die USA sind vorsichtiger und sagen, man wolle nicht Gaddafi von der Macht vertreiben. Und die Arabische Liga kritisiert bereits, dass man sich auf eine Flugverbotszone beschränken sollte. Letztendlich wird es erst allgemeine Zustimmung für diesen Krieg geben, wenn er gewonnen wird. Um eine Versandung des Konflikts und eine Gefahr der Spaltung des Landes zu vermeiden, sollten die Aufständigen die Unterstützung nutzen, um sich zu organisieren, eine Offensive zu starten und selbst ein neues Regime in Tripolis installieren. Hoffentlich sind sie dazu in der Lage.“

Unser Kassler Dialogforscher Martin Reuter schreibt:

„Lieber Helmut, das wird doch alles immer unwahrer? Wie sind Deine Überlebenstechniken in den Zeiten, wo die Groteske sich um die Grosteske steigert? Wirst Du etwa noch gelassener? (Abgsehen von Deinen konkreten Blog-Beiträgen).“

Das kam schon gestern als Mail, aber ich habe noch keine Antwort darauf gefunden. Kann man diese Verschiebung von Nachrichten aus Libyen hin zu Nachrichten über „Libyen“, die sich sogar noch einmal verlagern könnten – bis dahin, dass es überhaupt nicht mehr um die libyschen Aufständischen geht, kann man das „grotesk“ nennen?


Die polnische Zeitung „Gazeta Wyborcza“ schreibt heute:

„Der Militäreinsatz in Libyen muss begrenzte Ziele haben und von begrenzter Dauer sein. Weder Amerika noch Europa können sich aus politischen, ökonomischen und auch moralischen Gründen einen weiteren langen Krieg in einem islamischen Land leisten. Die Libyer selbst müssen Gaddafi stürzen – die Welt kann ihnen dabei nur helfen. (…) Es war schlimm, dass der Westen so lange mit der Intervention gewartet hat. Es ist allerdings gut, dass der UN-Sicherheitsrat vorher seine Zustimmung gegeben hat. Es bleibt zu hoffen, dass Gaddafi nicht vor hat, in die Geschichte als ein Verrückter einzugehen, der tausende Menschen in den Tod mitreißen wird.“.

Aus der Türkei wird von dpa berichtet:

„Verteidigungsminister Vecdi Gönül empfindet Frankreichs Führungsrolle als angemaßt und ist damit unzufrieden, wie er sagte, sein Land stehe weiter in Kontakt mit allen Parteien des Konflikts. Türkischen Medienberichten zufolge nimmt Ankara inzwischen in Tripolis diplomatische Interessen der USA, aber auch Großbritanniens und Italiens war. Die türkische Regierung hat bisher keine eindeutige Linie im Umgang mit der libyschen Führung erkennen lassen. Am Wochenende forderte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan Gaddafi auf, einen Staatschef zu ernennen, der vom gesamten libyschen Volk akzeptiert werden können – allerdings ohne Erfolg.

Die Türkei hat in Libyen erhebliche wirtschaftliche Interessen. Türkische Unternehmen bauen an großen Infrastrukturprojekten und haben Milliardenverträge abgeschlossen.“

Aus Singapur meldet dpa:

„Ölpreise ziehen wegen Eskalation in Libyen an“

Aus London meldet die selbe Nachrichtenagentur:

„In der zweiten Nacht des Militäreinsatzes der Alliierten in Libyen hat Großbritannien eine Operation mit Rücksicht auf Zivilisten kurzfristig abgebrochen. Ein geplanter Tornado-Einsatz sei gestoppt worden, teilte das britische Verteidigungsministerium in der Nacht zum Montag mit. Es habe sich herausgestellt, dass an dem angepeilten Ziel Zivilisten gewesen seien.

Von einem britischen U-Boot aus allerdings seien im Rahmen einer zusammen mit den US-Streitkräften durchgeführten Aktion Geschosse gegen die Luft-Verteidigung des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi abgefeuert worden. In Süditalien seien weitere britische Tornados in Bereitschaft versetzt worden. An den Luftpatrouillen über Libyen wollen sich nach Angaben der Nachrichtenagentur PA auch Flugzeuge aus Katar und den Arabischen Emiraten beteiligen.“ Außerdem sind einige norwegische Kampfflugzeuge unterwegs nach Libyen.

AP meldet aus Libyen:

Rund 2.000 philippinische Gastarbeiter weigern sich, Libyen angesichts der militärischen Lage zu verlassen. Obwohl philippinische Diplomaten ihre Landsleute am Wochenende dringend gebeten hatten, auszureisen, wollen diese in dem nordafrikanischen Land bleiben. Es handelt sich in der Mehrzahl um Krankenschwestern und anderes Krankenhauspersonal.

Hier eine Nachricht von den Aufständischen selbst – via AP um 11 Uhr 1:

„Ich denke, wir werden Gaddafi in den nächsten zwei Tagen erledigen“, sagt Essedlin Helwani, ein 35 Jahre alter Vertreter der Rebellen, der neben qualmenden Trümmern eines gepanzerten Mannschaftstransportwagens posiert. Im Überschwang ihres Triumphs haben die Aufständischen eines der Panzerwracks mit dem Kopf einer Ziege mit Zigarette im Maul drapiert.

Schon zeigen sich in der Art der Berichterstattung wieder die ersten Überheblichkeiten des Westens gegenüber den arabischen „Rebellen“, oder bilde ich mir das nur ein?

Andererseits haben die autonomen Kämpfe der Aufständischen im Jemen, in Syrien und in Bahrain zugenommen:

1. „Am Montagnachmittag wollten Regimegegner bei der Trauerfeier für einen jungen Mann, der am Wochenende in der Stadt Daraa bei eine Protestaktion von den Sicherheitskräften getötet worden war, erneut für Freiheit und Demokratie demonstrieren. Es wird erwartet, dass Sympathisanten aus anderen Regionen des Landes versuchen werden, sich dem Trauerzug anzuschließen.

In der Stadt Daraa, die südlich von Damaskus liegt, waren in den vergangenen Tagen insgesamt fünf Demonstranten getötet worden. Am Sonntag hatten Gegner des Regimes von Präsident Baschar al-Assad in Daraa mehrere öffentliche Gebäude sowie Filialen einer Mobilfunk-Firma angezündet, die einem Vertrauten des Präsidenten gehört.

Die Demonstranten fordern ein Ende des seit 48 Jahren geltenden Ausnahmezustandes, Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption und Meinungsfreiheit.“ (dpa)

2. Im Jemen sind drei Kommandeure des Heeres zur Opposition übergelaufen. Unter ihnen ist der Befehlshaber der Ersten Panzerdivision des Heeres, Generalmajor Ali Mohsen al Ahmar, ein enger Berater von Präsident Ali Abdullah Saleh. Zugleich bezogen am Montag Panzer Stellung in der Hauptstadt Sanaa.

Einheiten der Division wurden am Montag auf einem zentralen Platz in Sanaa stationiert. Dort harren Demonstranten aus, die den Rücktritt Salehs fordern. Die jemenitische Protestbewegung fordert ein Ende der Herrschaft Salehs, der das Land seit mehr als 30 Jahren regiert. Bei den seit einem Monat herrschenden Unruhen im Jemen sind bislang rund 100 Menschen ums Leben gekommen. (AP)

3. Das bahrainische Herrscherhaus hat gegen die seit einem Monat andauernden Proteste Sicherheitskräfte aus Saudi-Arabien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten ins Land geholt. Der zentrale Platz in Manama, auf dem die Opposition ausharrte, wurde am Mittwoch gewaltsam geräumt. Während des Protestes wurden mindestens zwölf Menschen getötet.

Nach den Worten des Königs wurde durch seine Sicherheitskräfte ein ausländisches Komplott zur Untergrabung der Sicherheit und Stabilität vereitelt. Das Komplott gegen Bahrain sei seit 20 bis 30 Jahren vorbereitet worden, sagte König Hamad bin Issa al Chalifa am Montag. (AFP)

Die Kommentatorin der Berliner Zeitung, Julia Gerlach, rät:

„Schaut auf Bahrain und Jemen!

Der Traum vom arabischen Frühling scheint erst einmal ausgeträumt zu sein. Dabei sah es so vielversprechend aus. Sympathische Menschen in der arabischen Welt – junge, weltoffene und gebildete Facebookler – demonstrierten friedlich und verjagten einen Diktator nach dem anderen. Die Jugend Tunesiens und Ägyptens setzte neue Maßstäbe. Und das Beste daran: Die Welt ist nicht nur ein besserer Ort, wenn die Länder südlich des Mittelmeers nicht von Diktatoren wie Zine Abdine Ben Ali und Hosni Mubarak regiert werden. Zudem haben die Revolutionen auch den Beziehungen zum Westen eine neue Chance gegeben.

Die Jugend der arabischen Welt hat endlich etwas, worauf sie stolz sein kann. Statt sich dafür rechtfertigen zu müssen, dass andere im Namen des Islams Terror verüben, können sie auf ihre freundlichen, erfolgreichen und mutigen Revolutionen verweisen. Sie machen so den Weg frei für einen Neuanfang auf Augenhöhe, was die Beziehungen zu Europa angeht.

Vor zwei Wochen noch schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis auch in Syrien, Bahrain und Saudi-Arabien die Jugend ihre Regierungen vertreibt. Leider ist der Konflikt in Libyen dazwischengekommen: Der Aufstand der Jugend wurde dort so brutal von Oberst Gaddafi unterdrückt und bekämpft, dass nur noch massive ausländische Hilfe das Schlimmste verhindern kann.

Die Entwicklung in Libyen ist nicht nur für das Land selbst dramatisch: Gaddafi hat in gewisser Weise mit seinem brutalen Kampf gegen das eigene Volk gleichzeitig auch die Demokratiebewegungen der anderen Länder niedergeschlagen. So hat der Kampf in Libyen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit so in Beschlag genommen, dass die Regierungen von Bahrain und Jemen fast unkommentiert ihre Protestbewegungen zusammenschießen konnten. In Bahrains Hauptstadt Manama wurde am Wochenende sogar das Perlendenkmal dem Erdboden gleichgemacht, damit nichts mehr an die fröhlichen Demonstranten und ihre Forderungen nach einer gerechteren Gesellschaft erinnert.

Im Jemen flogen Hubschrauber über den „Platz des Wandels“ in Sanaa und Scharfschützen nahmen die Demonstranten ins Visier. Der Einsatz war geschickt getimt, denn die Nachrichtensendungen waren voll mit Katastrophenmeldungen aus Japan und dem Ringen der Weltgemeinschaft um eine einheitliche Haltung zu Libyen.“

Im Internet findet man inzwischen zig Verrisse des „Grünen Buches“ von Gaddafi, die fast bar jeder Lektürekenntnisse die Verrückheit des libyschen Führers „beweisen“ sollen. Der Feuilletonist der SZ, Günther Orth, veröffentlichte heute das Ergebnis seiner gründlichen Beschäftigung mit den Gesammelten Werken Gaddafis.

Weil ich Guillaume Paolis noch gründlichere Auseinandersetzung mit dem „Grünen Buch“ bereits vor einigen Tage im blog veröffentlicht hatte, beschränke ich mich hier auf Orths Besprechung der literarischen Texte Gaddafis, die seiner Meinung nach „den tiefsten Einblick in Gaddafis Psyche“ gestatten, es handelt sich dabei um den 1993 erschienenen Band mit Geschichten „Die Flucht in die Hölle“:

Auf Orth wirkte der Text „wie das Selbstgespräch eines träumenden oder hypnotisierten Autokraten“. Zitat daraus:

„Die Tyrannei eines Einzelnen ist die schändlichste aller Tyranneien, doch der Despot ist ein Einzelner, den die Gemeinschaft beseitigen kann.(…) Die Tyrannei der Massen dagegen ist die brutalste Art von Tyrannei, denn wer kann sich allein gegen den reißenden Strom, gegen die blinde, umfassende Macht stellen?“

Der SZ-Rezensent meint: „Prophetisch und entlarvend wirken solche Sätze, ebenso wie dieser“:

„Ich liebe die Massen wie meinen Vater, und ich fürchte sie, wie ich ihn fürchte.“

Im Weiteren beklagt sich Gaddafi laut Orth über die Maßlosigkeit seiner Untertanen, die dauernd von ihm verlangen, ihr Führer möge ihnen Häuser und Straßen bauen:

„Diese Massen, die nicht einmal barmherzig zu ihren Errettern sind, ich glaube, sie verfolgen mich, verbrennen mich. Selbst wenn siem klatschen, habe ich das Gefühl, dass sie mit dem Hammer schlagen.“

Dabei sieht der Erzähler sich selbst als „armen, herumschweifenden Beduinen, der nicht einmal eine Geburtsurkunde hat“. Das Leiden des Herrschers, der nun tatsächlich zum Volk spricht, schreibt Orth, hat viele Gesichter:

„Warum raubt ihr mir meine Ruhe? Ja, ihr nehmt mir sogar die Möglichkeit, durch eure Straßen zu gehen. Ich bin ein Mensch wie ihr. Ich liebe Äpfel. Warum laßt ihr mich nicht auf den Markt gehen? Warum gebt ihr mir keinen Reisepaß? Aber was soll ich mit einem Reisepaß? Es ist mir untersagt, aus touristischen Gründen oder um mich behandeln zu lassen, auszureisen. Nur wenn ich mit einer Mission beauftragt werde, darf ich ausreisen.“

Daher beschließt der Staatenlenker, in die Hölle zu fliehen. Orth schreibt: Die Hölle, so der (auf Dantes Spuren?) träumende Gaddafi, ist eine Zuflucht, die besser ist als das Erdenleben:

„Alles um mich herum verschwand, außer ich selbst. Meiner eigenen Existenz wurde ich mir bewußter als an jedem anderen Ort und zu jeder anderen Zeit.“

In seinen Visionen wird er hier eins mit seiner Seele, „nicht weil meine Seele außerhalb von mir gewesen wäre, sondern weil mir eure Hölle nicht die Gelegenheit gegeben hat, mit meiner Seele je allein zu sein.“

Mich erinnern die Zitate vage an Nietzsches „Also sprach Zarathustra“.

Der SZ-Rezensent kommt zu dem Schluß:

„Gaddafis Schriften spiegeln eine zutiefst gespaltene Person, die sich nie entscheiden konnte, ob sie Weltenlenker oder Dorfbeduine, Revolutionstheoretiker oder Literat sein wollte – daher auch wohl seine abwechslungsreiche Kostümierung. Dieser Mann will alles gleichzeitig sein und können.“

Denkmal für die Helden von Tschernobyl. Photo: ask1.org

Zur „Tokio-Panik“:

Von überall kommt so etwas wie Entwarnung – und Optimismus, die Meinung, dass die ganz große Katastrophe ausgeblieben ist, AP meldete jedoch um 9 Uhr 5:

„Selbst wenn bestimmte Dinge glatt gehen, wird es auch Rückschläge geben“, sagte Kabinettssekretär Yukio Edano am Montag. „Im Augenblick sind wir nicht so optimistisch, dass es einen Durchbruch gibt.“

Derweil hat Russland den Japanern angeboten, dass sie in Sibirien siedeln können, und Thüringen will „junge Japaner“ einladen.

Der Spiegel twittert gegen Mittag:

„Schon wieder Alarm im AKW Fukushima: Über Reaktor 3, dem am schwersten beschädigten Block der havarierten Anlage, ist am Montag grauer Rauch aufgestiegen. In den Brennelementen dieses Reaktors befindet sich hochgefährliches Plutonium.

Die Arbeiter, die sich in der Nähe des Reaktors 3 befanden, mussten die Anlage verlassen. Sie wurden nach Angaben der Betreibergesellschaft Tepco in Sicherheit gebracht.“

Zum „Heldentum“ der Arbeiter im havarierten Kraftwerk, die sich einer hohen Dosis Radioaktivität dort ausgesetzt haben, sei angemerkt, dass es das Gegenteil einer „Panik“ ist, die bewirkt, dass man sich „auf eigene Faust“ in Sicherheit bringt – und nicht länger den Anweisungen der „verantwortlichen Stellen“ und „Personen“, der Nation, des Staates, des Systems Folge leistet.

Von den während der Tschernobyl-Katastrophe eingesetzten „Liquidatori“ haben bis heute nur wenige überlebt – der Einsatzleiter einer Spezialtruppe meinte kürzlich sogar, er wäre der letzte Überlebende.  Focus schreibt: „Schätzungen zufolge dürften schon Zehntausende der Katastrophenhelfer als direkte Folge ihrer Arbeit gestorben sein. Genaue Zahlen gibt es aber nicht.“ Ansonsten ist die Presse dieser Tage voll mit Tschernobyl-Erinnerungen und Interviews mit den letzten noch lebenden „Liquidatori“, wobei fast alle Artikel die selbe Überschrift haben:

„Die Helden von Tschernobyl bereuen nichts.“

Sie sind jedoch, ebenso wie die zwei letzten Überlebenden des US-Atombombenangriffs auf Japan, die gerade in Rom demonstrierten – alle Kernkraft-Gegner geworden.

Über die in Japan eingesetzten Arbeiter schrieb vor einigen Tagen Isolde Charim in der taz:

„Wenn die ganze Welt auf die brennenden Atomreaktoren von Fukushima schaut, dann schaut sie auch auf jene fünfzig Arbeiter. Wir wissen nicht, wer sie sind, und kennen ihren Status nicht. In Japans Medien, die eine eigene Art von Transparenz haben, werden sie nicht mit dem Begriff für „Angestellte“ bezeichnet, sondern mit jenem für „Angeheuerte“. Das ist kein Hinweis auf mangelnde Kompetenz, sondern auf Nichtzugehörigkeit zur Firma. Was also hält sie dort, wenn es nicht die legendäre japanische Loyalität zur Firma ist? Und: Was können sie überhaupt noch ausrichten?

Man wünscht sich jetzt sehnlichst ein Wissen, ein Expertentum, das den entfesselten Energien Einhalt gebietet. Aber selbst das würde nicht reichen. Es braucht jetzt einen Einsatz, der darüber hinausgeht. Den leisten diese Arbeiter. Die ganze Welt weiß, wie übermüdet diese Menschen sein und unter welchem Stress sie stehen müssen. Wie stark sie den Strahlen ausgesetzt sind. Und wie aussichtslos ihr Kampf wahrscheinlich ist.

Dennoch bangen wir darum, dass diese Arbeiter dort bleiben und weiterkämpfen: An ihnen hängt jetzt alles. In dem Moment, wo sie aufgeben, kennt die Katastrophe wirklich kein Halten mehr. Ist ihr Abzug das Zeichen für das endgültige Aufgeben, so ist umgekehrt ihr Ausharren die letzte Hoffnung. Nur sie halten die absolute Katastrophe noch auf. Ob es gelingt, das weiß man nicht.

Angesichts dieser Apokalypse gibt es keinen Tauschhandel mehr, bei dem man ein begrenztes Risiko für einen möglichen Sieg einsetzt. Angesichts dieser Katastrophe braucht es einen übermenschlichen Einsatz wie den dieser Arbeiter. Nicht nur weil ihre Leistung enorm ist, sondern auch weil sie darüber hinaus auch noch ihre Gesundheit und ihr Leben einsetzen. Ohne Begrenzung. Übermenschlich ist es, den eigenen Selbsterhaltungstrieb zu überwinden. Deshalb hängt an ihnen die letzte Hoffnung, die den Japanern noch bleibt. Und deshalb sind diese Arbeiter Helden.“

Heute erreichte die taz dazu ein Brief, in dem es um die Japan-Berichterstattung eines NDR-Redakteurs geht:

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit dem 17.3.2011 behauptet Ihr Redakteur Robert Hetkämper öffentlich, bei den Rettungsarbeiten im japanischen Kernkraftwerk Fukushima I würden aktuell sog. „Wegwerfarbeiter“ — er nennt konkret Obdachlose und Minderjährige — zum Einsatz gedungen bzw. gar gezwungen. Dies ist eine Behauptung von ungeheurer Tragweite, die im eklanten Widerspruch zu allem steht, was mir aus der japanischen Berichterstattung bekannt ist. Falls es sich um eine Fehlmeldung handelt, wird sie zu einer schweren Belastung der deutsch-japanischen Beziehungen führen. Ich fordere Sie daher auf, entweder unverzüglich die Belege für diese Behauptungen — und zwar mit ausdrücklichem Bezug auf die gegenwärtige Situation und nicht auf Zustände der Vergangenheit — offenzulegen oder eine Gegendarstellung in angemessenem Umfang zu veröffentlichen.

Wegen der Dringlichkeit und Tagesaktualität bitte ich Sie um eine sofortige Stellungnahme.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Reinhard Zöllner, Abteilung für Japanologie und Koreanistik, Universität Bonn z.Z. Tokyo, Japan

Die Berliner Zeitung interviewte heute den japanischen Sozialphilosophen Kenichi Mishima – u.a. auch zu der Frage: Was würde passieren, wenn z.B. Tokio von radioaktivem Regen betroffen wäre?

Es wird, wenn das Schlimmste eingetreten ist, der Augenblick kommen, wo jeder seine Haut zu retten versucht, mit allen möglichen chaotischen Konsequenzen, die ein solcher Exodus mit sich bringt. Übrigens hat schon ein kleiner Exodus angefangen. Höhere Töchter der global class reisen allmählich ab. Sie haben Familienangehörige, die in einer der großen internationalen Firmen oder Organisationen in New York oder Genf arbeiten. Aber in den Bombennächten gab es sowohl in Deutschland als auch in Japan Menschen, die in Berlin, Hamburg oder Dresden Ihrerseits, in Tokio, Yokohama oder Osaka unsererseits geblieben sind oder aus welchen Gründen auch immer bleiben mussten. Wie viele Bürger haben in den Tagen nach dem Tschernobyl-GAU München, Frankfurt oder Köln in Richtung Westen oder Süden verlassen? Wie viele konnten nach Amerika gehen? Wer konnte sofort zwei Monate Urlaub nehmen? Ich glaube, nur die feinen Leute, die, metaphorisch gesagt, in der Toskana ihre Landhäuser haben, konnten schnell wegreisen. Ich persönlich könnte mit meiner Lebensgefährtin wenn es sein muss, westwärts wegfahren. Die Vorstellung einer Autokolonne, die sich nicht vorwärtsbewegen will, lässt mich jetzt schon grausen. Soweit ist es Gott sei Dank noch nicht. Messwerte in Tokio zeigen kaum Abweichungen von den bisherigen Durchschnittswerten. Auch muss man bedenken, wie viel Atomasche in diverser Form sich im Kalten Krieg niederschlug, als die beiden Supermächte pausenlos Atombombenexperimente in der Atmosphäre veranstalteten. Diese tödlichen Experimente für die Verteidigung des „freien Westens“ hat man relativ schnell vergessen.

In deutschen Medien wurde teilweise berichtet, dass die Japaner, die Englisch sprechen, durch die ausländischen Medien deutlich besser über die Bedrohungslage informiert sind und vermehrt Tokio verlassen. Können Sie das bestätigen?

Bitte entschuldigen Sie, aber das ist ein Ethnozentrimus pur! Es gibt auch auf Japanisch trotz der Salamitaktik der Regierung und trotz der Praxis der Tepco mit ihrem ständigen Sich-Herausreden präzise Informationen. Ich lese Englisch, Deutsch, habe Freunde in Korea, die mich stets informieren, kann also gut genug vergleichen. Natürlich sind die Informationen unterschiedlich, oft widersprüchlich. Aber die Japaner seien weniger unterrichtet? Wie kommen Sie zu so einem Urteil, wenn Sie eben kein Japanisch können. Ich weiß, es gibt englisch sprechende Japaner, die dazu neigen, oder besser: Freude daran haben, den amerikanisch-europäischen Ausländern deren Meinung über Japan in fließendem Englisch zu bestätigen. Leider ist die Anzahl solcher Typen mit einem „internalisierten Orientalismus“ beträchtlich.

Ich habe meinerseits eine inständige Bitte: Verführen Sie mich nicht zum Nationalismus! Ich bin ein absoluter Gegner jeder nationalistischen Regung. Aber bei so einer Unterstellung, englischsprechende Japaner seien besser informiert … Mein Fachausdruck für das Gefühl, das da sogar bei linken Intellektuellen aufsteigt, lautet „Abwehrnationalismus“, Nationalismus wider Willen, könnte man auch sagen.

Was sollte man aus dieser Katastrophe lernen?

Angeprangert werden muss das ganze System der LDP-Herrschaft, das ab Mitte der 50er-Jahre Japan beherrscht und den demokratischen Diskussionsraum langsam ausgehöhlt hat. Das Baugenehmigungsverfahren für Atomkraftwerke z. B. war musterhaft nach westlichem Vorbild geschaffen und formal sogar strenger. Es gab Regionalentwicklungspläne, einen Umweltverträglichkeitstest, Hearings mit den betroffenen Bürgern. Alle Etappen endeten jedoch mit dem Ergebnis, das hinter der Fassade abgestimmt war. Die Mafia der Mächtigen in der Einparteienherrschaft hat alles so gestaltet, dass beim Befolgen prozeduraler Spielregeln sich ihr Wille durchsetzte und sich das Verständnis von Demokratie auf die Sitzverhältnisse in den Parlamenten reduzierte. Argumente werden nicht beachtet. Populismus und reiner, an dem prozeduralen Regelwerk orientierter Machtkampf, interessenorientierte Deals und Klintelbefriedigung, Paternalismus und Abschottungsübungen gegen Kritik sind wesentliche Stilelemente unserer „Demokratie“.

Einen solchen Club der „feinen Damen und Herren“ gibt es auch in Europa, je nach Land in unterschiedlichem Grad und in unterschiedlicher Gestaltungsweise. Es ist keine Frage der westlichen oder asiatischen Kultur. Die japanischen Verhältnisse sind aber in Sachen legaler Kriminalität extrem geworden. Viele ausländischen Eliten, auch die wissenschaftlichen, haben sich, wenn sie mit der japanischen Elite „zusammenarbeiten“, irgendwie damit arrangiert. Die jetzige Regierung tut mir leid. Mit dem Programm der deliberativen Demokratisierung kaum an die Macht gekommen, ist sie wie seinerzeit Gorbatchow mit Scherbenhaufen des früheren Systems konfrontiert.

Sachsen sucht Nachwuchs für Feuerwehr. Photo: leipzig-seiten.de

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