Libysche Aufständische auf dem Vormarsch. Photo: rundschau-online.de
Der CSU-Generalsekretär Dobrindt brachte es auf den Punkt:
„Diejenigen, die gestern gegen Kernenergie und heute gegen Stuttgart 21 demonstrieren, die müssen sich dann auch nicht wundern, wenn sie übermorgen irgendwann ein Minarett im Garten stehen haben.“ (Zitiert von Patrick Bahner im taz-Interview über sein Buch „Die Panikmacher“)
Der RWE-Chef Jürgen Großmann hat den AKW-Streit einmal abfällig als einen „Religionskrieg“ bezeichnet. Heute nennt ihn die FAS einen „Verlierer: Den alten Kraftprotz hat das Glück verlassen“. In Bahrain, in Syrien und im Jemen versuchen die Herrschenden ebenfalls, die Niederschlagung der Oppositionsbewegung als einen von außen gesteuerten Religionskrieg darzustellen.
AFP meldet um 15 Uhr 55:
„Techniker versuchen seit Tagen, in dem Atomkraftwerk durch das Kühlen der Brennstäbe eine komplette Kernschmelze noch zu verhindern. Experten zufolge könnte eine teilweise Schmelze in den Reaktoren aber längst begonnen haben. Auch ein Experte des französischen Instituts für Atomsicherheit (IRSN) sagte am Sonntag, der stark erhöhte Grad an Radioaktivität sei ein „direkter Beweis“ dafür, dass es bereits zu einer Kernschmelze gekommen sei.“
Dpa meldet aus dem Jemen:
„Die schiitischen Houthi-Rebellen im Norden des Jemen haben nach ihren Angaben die nördliche Provinz Saada unter ihre Kontrolle gebracht zu haben. Die Aufständischen erklärten die Provinz für „unabhängig“ von der Regierung in Sanaa und ernannten einen eigenen Gouverneur, berichtete die Internet-Seite „yemenpost.net“ am Sonntag. Das Regime ist durch die Massenproteste der letzten Wochen gegen Präsident Ali Abdullah Salih schwer angeschlagen. So war der Gouverneur von Saada, Taha Hadscher, bereits vor mehreren Tagen aus der Provinzhauptstadt Saada nach Sanaa geflohen. Auch soll sich nach Medienberichten die jemenitische Armee aus der Provinz völlig zurückgezogen und ihre Waffen an die Houthi-Rebellen übergeben haben.“
Die Süddeutsche Zeitung interviewte den Goetheinstitutsleiter in Syrien. Er meint:
„Die besser ausgebildeten jungen Leute wollen vor allem das Land verlassen. Die syrische Opposition legt großen Wert auf Unabhängigkeit von der Religionszugehörigkeit.“
Der syrische Geheimdienst verhaftet im ganzen Land der Opposition Verdächtige, allein in Daara 300. Gestern schrieb die FAZ, dass nach Angaben der oppositionellen Facebook-Seite ‚Youth Syria for Freedom‘ der Sitz der herrschenden Baath-Partei in Daraa von Demonstranten niedergebrannt wurde. Und dort stationierte Offiziere seien zu den Regime-Gegnern übergelaufen. Am Freitag wurden in dem nahe gelegenen Ort Sanamein 23 Demonstranten erschossen. in Duma wurden etwa 200 Demonstranten festgenommen.
Heute Mittag meldet dpa aus Syrien:
„Aktivisten der syrischen Bürgerrechtsbewegung haben am Sonntag zu einem Generalstreik aufgerufen. Der über Internet-Plattformen verbreitete Appell kam als Reaktion auf die blutige Unterdrückung einer Protestkundgebung in der Hafenstadt Latakia am Vortag, wobei nach Oppositionsangaben bis zu sieben Menschen getötet worden sein sollen. Syrische Staatsmedien hatten behauptet, „Heckenschützen“ hätten auf „Passanten“ gefeuert, um Unfrieden zu stiften.
In der Hauptstadt Damaskus demonstrierten in der Nacht zum Sonntag mehrere tausend Menschen, um ihre Unterstützung für das Regime von Präsident Baschar al-Assad zu zeigen, berichtete der arabische Nachrichtensender Al-Dschasira. Bei der Unterdrückung von Pro-Demokratie-Kundgebungen durch Al-Assads Sicherheitskräfte sind in den letzten neun Tagen in ganz Syrien Dutzende Demonstranten getötet worden.“
AP berichtet unter dem Stichwort „Syrien“:
Der venezolanische Präsident Hugo Chávez hat sich hinter seinen durch Proteste von Regierungsgegnern unter Druck geratenen syrischen Kollegen Baschar Assad gestellt. Assad sei „ein Humanist“ und „ein Bruder“, erklärte Chávez. Er hatte in den vergangenen Tagen bereits den libyschen Machthaber Muammar al Gaddafi verteidigt.
Den USA warf Chávez vor, die Proteste in Syrien anzufachen, um einen Vorwand für Luftangriffe wie in Libyen zu haben. Washington habe „ein neues Format erfunden“, um in einem Land gewaltsame Konflikte zu schaffen, zu intervenieren, sich die natürlichen Ressourcen anzueignen und das Land „in eine Kolonie zu verwandeln“.
Was für ein Idiot dieser Latinostaats-Stratege. Dabei reicht es doch schon, wenn ein Regierungschef auf Demonstranten schießen läßt, dass man ihn liquidiert.
In Syrien hat das Regime angesichts des für ihn immer gefährlicher werdenden Ausnahmezustands von unten den seit 50 Jahre bestehenden „Ausnahmezustand“ von oben aufgehoben.
Spiegel-online meldete mit Videoclip folgenden Vorfall aus Tripolis, der Hauptstadt Libyens:
„Verzweifelt schreit die Frau, als die Sicherheitkräfte sie abholen kommen, deutlich ist es auf einem YouTube-Video zu sehen. Die Libyerin war zuvor in ein Fünf-Sterne-Hotel in der Hauptstadt Tripolis gestürmt und berichtete den dort untergebrachten Journalisten, wie sie von Gaddafi-treuen Kämpfern missbraucht worden sei. Sie sagte, sie sei an einer Straßensperre verschleppt, anschließend von 15 Männern vergewaltigt und gefoltert worden.
Laut „Washington Post“ sagte die Frau: „Schaut, was sie mir angetan haben.“ Demnach zeigte sie den Journalisten Kratzer und Blutspuren an ihren Oberschenkeln. An ihren Händen und Knöcheln habe man sehen können, dass sie gefesselt worden war, schreibt das US-Blatt. Sie sagte den Reportern, sie heiße Iman al-Obeidi. Laut der Zeitung schilderte die Frau, wie die Männer sie erniedrigten: „Sie urinierten auf mich, sie schändeten meine Ehre.“
Die „Washington Post“ beschreibt die Szene so: Während sie sprach, kamen Hotelangestellte und Sicherheitskräfte hinzu und versuchten, die Frau fortzuziehen. Einige Journalisten, die versuchten, die Frau zu beschützen, seien geschlagen worden. Ein Reporter der „Financial Times“ sei niedergeschlagen und getreten worden. Zwei Kellnerinnen griffen demnach nach Messern und schrien, die Frau sei eine Verräterin. Beamte warfen eine Kamera des Fernsehsenders CNN auf den Boden und bedrohten den Kameramann mit einer Pistole, als er sie wieder aufheben wollte.
Kurz darauf wurde die Frau vor den Augen der Journalisten von einem Vertreter der Staatsmacht in Zivil überwältigt und fortgebracht. Er hielt ihr die Hand auf den Mund, um sie am Sprechen zu hindern.
Nun ist al-Obeidi zu einer Symbolfigur für die Gaddafi-Gegner geworden. Auf den Websites der Aufständischen häufen sich die Kommentare zu dem Fall. Viele Oppositionelle bewundern den Mut der jungen Frau. „Wir alle sind Iman al-Obeidi“, schreibt einer von ihnen. Ein libyscher Regierungssprecher behauptete, die Frau sei psychisch krank.“
AP meldet aus Syrien in einer Zusammenfassung:
Bei den Protesten und Unruhen in der syrischen Hafenstadt Latakia sind am Samstag nach Regierungsangaben zwölf Menschen getötet worden. Das berichtete am Sonntag die staatliche Nachrichtenagentur Sana. Die Regierung machte „bewaffnete Gruppen“ für die Gewalt verantwortlich, Demonstranten dagegen die Sicherheitskräfte.
Präsident Baschar Assad ließ in Latakia umgehend die Militärpräsenz erhöhen. Soldaten besetzten am Sonntag zentrale Punkte. In Daraa, dem bisherigen Zentrum der Demonstrationen gegen die Regierung, umstellten Sicherheitskräfte eine Moschee, in der bis zu 1.200 Menschen an einem Sitzstreik teilnahmen. In Tafas, einem Ort zehn Kilometer nördlich von Taraa, sollen Demonstranten eine Polizeiwache und Baath-Büros angegriffen haben.
Unter den Toten in Latakia waren der Sana-Meldung zufolge zehn Sicherheitsleute und Zivilpersonen sowie zwei Mitglieder der nicht näher bezeichneten „bewaffneten Gruppen“. 200 Menschen seien verletzt worden.
Baschars Beraterin Buthaina Schaaban warf einem sunnitischen Geistlichen in Katar vor, die Unruhen mit seiner Predigt beim Freitagsgebet in Doha ausgelöst zu haben. Scheich Jussef al Karadawi hat Millionen von Anhängern in aller Welt und gilt als einer der einflussreichsten sunnitischen Geistlichen. Die Sunniten stellen die Bevölkerungsmehrheit in Syrien, während Assad und ein Großteil seines Machtapparats der Minderheit der Alawiten angehören.
Die FAZ schreibt über die Unruhen in Bahrain:
Instrumentalisiert sich die Opposition zwischen Iran und König oder wird sie instrumentalisiert? Auf alle Fälle bittet sie jetzt die kuwaitische Regierung um Vermittlung in der „Krise“.
Die FAS meldet heute, dass es am Freitag zu „Ausschreitungen“ in Jordanien kam, „jugendliche Pro-Demokratie-Aktivisten“ wurden vertrieben, wobei es zwei Tote gab. Damit ist laut FAS der „Reformdialog“ gescheitert – die Islamische Aktionsfront zog sich aus dem „Dialog-Ausschuß“ zurück.
AFP meldet aus Jordanien:
„Einen Tag nach schweren Zusammenstößen zwischen Gegnern und Anhängern der jordanischen Regierung haben Jugend- und Islamistenorganisationen den Rücktritt von Ministerpräsident Maaruf Bachit gefordert. Die Regierung habe ihre Legitimation verloren, weil sie „das Blut ihrer Bürger“ vergieße, und müsse zurücktreten oder entlassen werden, sagte der Chef des politischen Arms der Muslimbruderschaft in Jordanien, Scheich Hamseh Mansur, am Samstag vor Journalisten in der Hauptstadt Amman. „Die islamistische Bewegung“ stehe für eine „gemäßigte Haltung“ und ein „Engagement in nationalen Fragen“.
Am Freitag waren in Amman bei gewaltsamen Auseinandersetzungen ein Mensch getötet und 130 weitere verletzt worden. Bachit warf den Muslimbrüdern vor, sich „aus Ägypten und Syrien steuern“ zu lassen.
Auch die Gruppe „Jugendliche des 24. März“, deren Protestlager am Freitag gewaltsam geräumt worden war, forderte die Absetzung Bachits. Zudem sollten Verantwortliche des jordanischen Geheimdiensts und der Polizei entlassen und vor Gericht gestellt werden, forderten sie in Amman. Ein Mitglied der Gruppe sagte, Jordanien sei an einem „Punkt ohne Wendemöglichkeit“ angelangt. Die Proteste würden fortgesetzt, bis die Forderungen der Demonstranten erfüllt würden.“
Die Frankfurter Rundschau berichtet über den „Gaza-Konflikt“, dass er „außer Kontrolle“ zu geraten droht.
Der FR-Autor meint, dass es dabei um einen „Machtkampf zwischen islamistischen Hardlinern und Hamas-Pragmatikern“ geht. Die Nachrichtenagenturen berichten am Wochenende aus Gaza ausschließlich über kleinere Raketenüberfälle auf Israel und dass Israel dagegen ein neues Raketenabwehrsystem „in Betrieb“ nimmt. Weil es auch in Ramallah laufend zu Protesten der Jugend kommt, haben Hamas- und PLO-Führer Vermittlungsgespräche verabredet, um beide Länder-Reste wieder zu vereinigen.
AFP meldet heute aus Japan:
Angesichts der Katastrophe in Fukushima haben hunderte Japaner für ein Ende der Atomkraft demonstriert. In der Hauptstadt Tokio und in Nagoya im Zentrum des Landes versammelten sich am Sonntag jeweils rund 300 Demonstranten, wie Journalisten der Nachrichtenagentur AFP berichteten. „Wir brauchen keine Kernkraft“, skandierten die Protestteilnehmer in Tokio, die auch am Sitz des für Fukushima verantwortlichen Energiekonzerns Tepco vorbeimarschierten. Einige Protestteilnehmer trugen Gasmasken.
In Nagoya wandten sich die Protestteilnehmer in Sprechchören lautstark gegen „ein zweites Fukushima“. Insbesondere forderten sie die Stilllegung des etwa 120 Kilometer entfernten Atommeilers Hamaoka in einem Erdbebengebiet an der Südküste der Insel Honshu.
„Ich möchte selbst über mein Leben bestimmen können und nachfolgenden Generationen keine Giftstoffe hinterlassen“, sagte die 63 Jahre alte Shigeko Furumichi AFP. Der 36-jährige Student Kenjirou Goto fügte hinzu, die in Fukushima austretende radioaktive Strahlung verursache „enorme Schäden für die Landwirtschaft“. Der aus Tokio angereiste Atsuchi Fujuki zeigte sich „traurig und enttäuscht“ angesichts der Katastrophe. „Japan hat immer gelogen, wenn es die Vorteile der Atomenergie angepriesen hat“, sagte er.
Die Berliner Zeitung zitiert in ihrer Fukushima-Berichterstattung, in der es um die „Atom-Samurai“ geht, einen Japaner, der immer wieder im AKW zu tun hatte: Er meint, die Japaner neigen dazu, ihr ganzes Leben auf ihre Firma auszurichten, was zur Folge habe, dass die Firma ihnen wichtiger als ihr eigenes Leben wird. Die nun „stark verstrahlten“ Arbeiter habe man „einer Gehirnwäsche unterzogen“.
Die taz veröffentlichte – ähnlich wie heute auch die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung – einen unaufgeregten Bericht aus Tokio – von Martin Fritz:
Ständige Nachbeben, unberechenbare Stromsperren, radioaktiv verstrahlte Nahrungsmittel – verglichen mit dem Leid der Evakuierten und Obdachlosen in den Katastrophengebieten sind das Luxusprobleme. Aber das Leben in Tokio war schon einmal einfacher. In Deutschland wird fast nur über die Gefahren aus dem Atomkomplex Fukushima gesprochen. Aber die meisten Nerven kostet mich der wackelige Untergrund. Seit den langen und heftigen Erdstößen am Freitag vor zwei Wochen nehme ich jede Erschütterung mit Unruhe wahr. Jeden Tag gibt es hunderte solcher Erdwellen. Immer wieder reißen sie mich aus dem Schlaf.
An meinem Schreibtisch fühle ich mich wie auf einem schwankenden Schiff. Das Hochhausgebäude, in dem ich arbeite – der Korrespondentenklub ist im 20. Stock -, schwingt irritierend lange nach. Die Japaner sagen, dass ihr Archipel wie auf einem Stück Tofu gebaut ist. Erst jetzt verstehe ich, was sie meinen. Der Sprecher vom Amt für Meteorologie, das in Japan für Naturkatastrophen zuständig ist, warnt fast täglich vor einem zweiten Megabeben infolge der veränderten Tektonik in der Erdkruste. Zum Glück wird es mit jedem Tag weniger wahrscheinlicher.
Auch die Stromsperren erschweren den Alltag. Die Startseite des Energieversorgers Tokyo Electric Power (Tepco) ist zur täglichen Pflichtlektüre der 35 Millionen Menschen im größten Ballungsraum der Welt geworden. Durch Beben und Tsunami sind die Atommeiler von Fukushima und zwei Thermalkraftwerke ausgefallen. Dadurch fehlt ein Viertel der Strommenge bis zur Spitzenlast. Tepco hat daher die Städte und Gemeinden am Rand und in der Umgebung von Tokio in fünf Gruppen eingeteilt. Ihnen wird der Strom im Wechsel zwischen 6.20 Uhr morgens und 10 Uhr abends für jeweils drei Stunden abgedreht. In einigen Gruppen passiert dies zweimal am Tag. Dazu sparen Bewohner, Behörden und Firmen vorbildlich Strom. In den Bahnhöfen stehen viele Rolltreppen still, in Hochhäusern fährt nur ein Teil der Aufzüge. Viele Glühbirnen sind aus den Deckenlampen herausgedreht, die Neonreklame bleibt ausgeschaltet. Es ist so, als ob Japan plötzlich ein armes Land geworden wäre. Ohne das helle Licht wirkt diese pulsierende Stadt schlaff und leblos. Das soll noch Monate so weitergehen.
Noch mehr beschäftigt die Japaner die Sicherheit ihrer Lebensmittel. Für die verwöhnten Gourmets hierzulande gibt es nichts Wichtigeres als qualitativ hochwertige, gesunde und leckere Nahrungsmittel. Nun wissen sie nicht mehr, was sie kaufen sollen. Erst ließen sie den Spinat im Regal liegen, egal ob er aus Fukushima oder aus anderen Gebieten kam. Inzwischen wird vor elf Gemüsesorten gewarnt. „Ich bin besorgt, dass die Strahlung meiner Gesundheit schadet“, sagt mir eine junge Frau, die nachdenklich vor dem meist einzeln, appetitlich eingepackten Gemüse im Supermarkt steht. Eine Rentnerin schüttelt den Kopf und legt Brokkoli in ihren Korb. „So schlimm wird es schon nicht sein“, murmelt sie vor sich hin.
Echte Mangelware ist Trinkwasser in Flaschen. Seitdem radioaktive Jod-Isotope im Leitungswasser aufgetaucht sind, wird überall im Großraum Tokio hysterisch Wasser gekauft. Mehrmals suche ich vergeblich in Supermärkten nach Wasser in Flaschen. Danach kommt mir die Idee, es per Versand online zu kaufen. Im Internet klicke ich mich von einem Angebot zum anderen. Doch bei jeder Firma finde ich denselben Hinweis: „Leider ausverkauft! Nächste Lieferung unklar!“ Eine Bekannte mit ihrem sieben Monate alten Baby macht sich Sorgen. „Hoffentlich kann ich möglichst bald wieder ohne Angst Leitungswasser trinken.“ Die größte Supermarktkette Ito-Yokado verkauft ihr Wasser bevorzugt an Mütter mit Babys. Als Nachweis genügt der Mutterpass. Aber auch dort ist das Wasser schnell ausverkauft.
Nach dem langen Regen zu Wochenanfang war ich nicht überrascht darüber, dass sich die Strahlung auch im Trinkwasser nachweisen ließ. Irgendwo müssen die Isotope in dem Dampf, der aus den kaputten Meilern quillt, ja bleiben. Die Alarmglocken klingelten bei mir aber erst, als Tokios Gouverneur Shintaro Ishihara höchstpersönlich davor warnte, dass Babys Leitungswasser trinken. Gleich am nächsten Tag ließ Ishihara aus der eisernen Reserve der Stadt 240.000 Flaschen an Mütter mit Babys verteilen. Dieser Aktionismus ergibt Sinn, Denn der 78-Jährige kandidiert bei der Gouverneurswahl am 10. April für eine vierte Amtsperiode.
Seine Wahlchancen hatte er jedoch nach dem Erdbeben selbst torpediert. Der Tsunami sei eine Strafe des Himmels und könne die Selbstsucht und die Konsumorientierung der Japaner fortwaschen, hatte Ishihara die Opfer verhöhnt. Mit der Trinkwasser-Aktion wollte er wohl seine Fürsorge fürs Volk zeigen und Sympathien zurückgewinnen. Am Donnerstag trat er erneut vor die Presse und trank demonstrativ ein Glas Leitungswasser leer. Der Messwert sei inzwischen unter den Grenzwert für Babynahrung gefallen und das Wasser wieder sicher, verkündete der Politiker.
Im Fernsehen und in der Presse wird sehr ausführlich über die Gefahren der Radioaktivität berichtet. Die Verhaltensregeln werden genau erklärt. Verschiedene Behörden veröffentlichen ihre Messwerte zeitnah in Internet und Fernsehen. Ich habe nicht das Gefühl, dass hier absichtlich etwas verschwiegen wird. Doch die Zahlenflut in Becquerel, Milli- und Mikrosievert für Boden, Meerwasser, Nahrung und Menschen hat die Stressbelastung der Bewohner Tokios weiter erhöht.
Mit Erdbeben und Tsunamis sind die Japaner von frühester Kindheit an vertraut. Aber seit den Bombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki verbreitet radioaktive Strahlung einen diffusen Schrecken. Der Umgang mit dieser Gefahr wurde nie geübt. Die Wirkung dieser neuen Bedrohung auf die nationale Psyche ist daher nur schwer einzuschätzen. Eine japanische Journalistin sagt mir, ohne jede Häme, die Japaner bekämen jetzt die Quittung dafür, dass sie sich über die Atomenergie zu lange keine Gedanken gemacht hätten.
Das gilt auch für den Stromversorger Tepco selbst. Die drei Arbeiter, die am Donnerstag bei Elektroarbeiten im Reaktor 3 verstrahlt wurden, hatten nur 10 Zentimeter hohe Gummischuhe an. Wie kann es sein, dass sie so fahrlässig schlecht auf diese gefährliche Arbeit vorbereitet waren? Auch diese Frage wird im japanischen Fernsehen gestellt. Aber Tepco will sie erst später beantworten. Dem TV-Sender Asahi ist der Coup gelungen, zwei Fukushima-Arbeiter zu interviewen. Beide sind nicht fest angestellt und werden tageweise bezahlt. Sie erzählen von ihrer Vorsicht bei der Arbeit und ihrem Willen, die Anlage zu reparieren.
Vor einigen Jahrzehnten arbeiteten viele sogenannte Burakumin in den Atomanlagen, weil sie sonst nirgendwo beschäftigt wurden. Diese Unberührbaren Japans hatten früher mit Leichen und Tierkadavern zu tun und werden daher teilweise bis heute gemieden. Inzwischen arbeiten jedoch auch viele Anwohner in den Meilern, denn die Kraftwerke stehen in strukturschwachen Gebieten, wo man dankbar ist für jeden bezahlten Job.
Für die 700 Arbeiter in Fukushima empfinde ich ebenso Bewunderung und Mitleid wie für die Überlebenden der Katastrophe im Nordosten. So viele Tränen habe ich in Japan noch nie gesehen. Zugleich ist der Wille zum Aufbauen und Helfen groß. Ich mache mir trotzdem Sorgen um die Zukunft dieser leiderprobten Nation. Das Nachkriegsgefühl einer großen Sicherheit ist weg. Wird diese Katastrophe in den Niedergang der Nation münden – oder ein Katalysator für lange verschleppte Reformen sein?
Die Süddeutsche Zeitung schreibt: Die japanischen Leitmedien haben sich freiwillig gleichgeschaltet. Man sieht nirgendwo eine Opposition entstehen, eher sind alle „apathisch“. Der Kommentator hofft, dass das Land vielleicht dennoch am „Anfang einer Erneuerung“ steht.
Nach den großen Anti-Akw-Demos in Deutschland gestern und den vielen Umfallern unter den AKW-Befürwortern schreibt die taz – morgen:
„Was wir gegenwärtig erleben, ist also keine Revolution der Tatsachen, sondern eine Revolution der Rezeption dieser Tatsachen. In der Wissenschaft würde man von einem Paradigmenwechsel sprechen. Thomas S. Kuhn hat dessen Charakteristika bereits vor 50 Jahren in seinem Klassiker „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ beschrieben. Ein altes Paradigma wird in der Wissenschaft demnach nicht progressiv, in vielen kleinen Schritten, sondern nur revolutionär abgelöst – und zwar erst dann, wenn die Argumente des neuen Paradigmas so übermächtig geworden sind, dass sich das alte nicht mehr halten lässt.“
Die Springer-Journalisten sind zur Pro-AKW-Berichterstattung gezwungen, ironischerweise bedient ihr widerlicher Konzern sich dazu vor allem ehemaliger Linker und taz-Redakteure, Näheres dazu – mit Rang und Namen – findet man morgen im e.e. taz-Artikel.
Die Berliner Zeitung berichtete gestern von „Panik in Kalifornien“ und „Hamsterkäufen“ angesichts des japanischen „Super-Gau“, zudem interviewte sie den US-Autor T. C. Boyle, der u.a. erzählte, dass die Betreiber des AKWs „Indian Point“ auf ihrer Internetseite einen Film über die „klimafreundliche Nukleartechnologie“ zeigen, der von einem ehemaligen Greenpeace-Mitarbeiter produziert wurde.
Zu loben ist der heutige taz-Bericht von Marc Thörner aus Benghasi (die FAS veröffentlichte einen ähnlichen Frontbericht aus Libyen, die Journalisten werden also mutiger, jetzt, wo die Gaddafi-Truppen auf dem Rückzug sind):
„Mohammed al-Beigo ist ein Großvater, wie er im Buche steht: weißer Vollbart, Lachfalten um die Augen, hochgewachsen, autoritär und sanft zugleich. Er schiebt die Garagentür auf, klettert auf die Ladefläche des Toyota-Pick-ups, kramt zwischen Kisten und Tauen und gibt währenddessen seinen 30- bzw. 35-jährigen Söhnen barsche Anweisungen: Sie sollen etwas holen. „Das? Quatsch! Das da, das andere! Hopp, hopp. Warum dauert das so lange?“ Mit den drei Enkeln, die an seiner Hose zerren, spricht er mild, fast flüsternd: „Kannst du schon die Munition tragen? Das ist ja toll. Bitte unter die Halterung für das Maschinengewehr stellen. Machst du das? Danke schön, mein Lieber.“
Als alles vorbereitet scheint und der Toyota voll beladen auf der Straße steht, verschwindet der Hüne noch einmal in der Garage und kommt ächzend, aber gut gelaunt mit einem schweren russischen Maschinengewehr auf den Schultern heraus. Sein Sohn Ali nimmt es oben auf dem Wagen in Empfang. Al-Beigo schraubt es mit kurzen, fachmännischen Griffen fest. Fertig. Die Fahrt kann losgehen.
In letzte Sekunde steckt der kleine Hamid noch lächelnd eine Tüte Gewehrpatronen durchs Fenster, als reiche er Kekse für ein Picknick. Mit dem schwenkbaren Maschinengewehr beladen hoppelt der Toyota über das beschädigte Pflaster der Seitenstraße aus Bengasi heraus.
„Zenga, Zenga, Dar, Dar, Beid, Beid!“ – „Straße um Straße, Haus um Haus, Wohnung um Wohnung“, wolle er das Land von seinen Gegnern säubern, hatte Mummar al-Gaddafi in seiner ersten, wirren Brandrede nach Beginn des Aufstands erklärt. Die al-Beigos singen das als Persiflage und hauen sich vor Lachen auf die Schenkel. Ja: Straße für Straße, Haus für Haus geht es nach Adschdabija, gegen Gaddafi, und überall hängen, kleben und flattern die schwarz-rot-grünen Fahnen des anderen Libyens.
So wie der ehemalige Polizist und seine Söhne machen sich täglich viele Einwohner Bengasis zur etwa 150 Kilometer entfernten Front in Adschdabija auf. Abends kommen sie zurück – wenn alles gut geht. Junge Männer bleiben manchmal drei Tage, ehe sich wieder ablösen lassen.
Nur fünf Minuten vom Haus der al-Beigos entfernt, am Stadtrand, wo gesichtslose Hochbauten stehen – die libysche Version von Berlin-Marzahn – ist unter einer Autobahnbrücke alles Gras verkohlt. Links und rechts in den Fassaden: Einschüsse von Panzergranaten oder Raketen. An einer Straßenecke klaffen große Löcher in der Mauer eines Ladens. Das zerbrochene Schaufensterglas liegt überall herum. Bis hierher kamen vor ein paar Tagen die Truppen Gaddafis. Die drei sind sich sicher: Hätten „die Franzosen“ nicht im letzten Moment mit ihren Kampfflugzeugen die Panzer gestoppt, es wäre alles aus gewesen.
An beiden Seiten der Straße stehen zerstörte Panzer, fahrbare Raketenwerfer („Stalinorgeln“), gepanzerte Mannschaftstransporter, Pick-ups, alle ausgebrannt, verbogen, wie von einer Riesenfaust zusammengeknüllt und weggeworfen.
Zwanzig Kilometer vor Adschdabija taucht der erste große Posten der Rebellen auf. Hier sammeln sie sich mit allem, was sie haben. Es wimmelt von Toyota-Pick-ups, die wie der der al-Beigos aussehen. Ein fahrbares Flakgeschütz parkt am Straßenrand, die Mannschaft hantiert an der Kanone herum, feuert ohrenbetäubend laute Schüsse ab. Warum, ist nicht klar, vielleicht einfach zur Übung. Dreimal spuckt die Kanone Rauch und Mündungsfeuer, dann folgt Ladehemmung. Ein älterer Mann in zusammengewürfelten Uniformteilen flucht und bastelt am Rohr herum. Vergeblich, es knallt nicht mehr. Die anderen grinsen und zucken mit den Achseln.
Die Szenerie wirkt wie eine Mischung aus Feldlager und Picknick, Ziviles und Militärisches mischt sich in immer neuen Varianten. Neben übergelaufenen ehemaligen Soldaten warten auch Jugendliche, Familienväter und Graubärtige auf das Zeichen zum Vorrücken. Einige Figuren wirken wie von Spitzweg gemalt, ein dicker Ingenieur mit Brille etwa, Ende 30 mit Bäuchlein und weißer Mütze, dem ein blaues Oberhemd über der zu kurzen Hose weht und der eine alte Jagdwaffe über der Schulter trägt. „Gekommen, um zu kämpfen“, sagt er strahlend auf die Frage, warum er hier sei. Ob er Angst habe? Er deutet auf den Himmel: „Nur vor Gott.“
Eine Kommandostruktur gibt es hier nicht, bekennen sie, nur Beobachter vorn an der Front. „Wenn die meinen, es geht“, sagt ein stoppelbärtiger Exsoldat, „dann greifen wir unsere Waffen und rücken zusammen vor.“ Die Waffen, das sind schwere Maschinengewehre, Bazookas, aber auch Gewehre aus dem Ersten Weltkrieg und selbst gebastelte Harpunen.
Die mangelnde Organisation ist offensichtlich, aber ist sie auch ein Manko? Nein, findet Salwa al-Bughaigis. Wenige Stunden vor dieser Szene versucht die junge Anwältin, die seit Beginn des Aufstands als Sprecherin der Rebellin fungiert, im Gerichtsgebäude von Bengasi dem Ganzen etwas Positives abzugewinnen: „Ist diese …“, sie sucht nach passenden Worten, „ist diese Unorganisiertheit … nicht gerade der Beweis dafür, dass diese Menschen keiner Ideologie folgen, keinem Führer? Dass sie nichts eint als die Entschlossenheit, sich nicht weiter von den alten Diktatoren beherrschen zu lassen? Dass sie sich nicht kommandieren lassen wollen, dass sie spontan zur Front eilen, um für ihre Freiheit einzustehen? Für die arabische Welt ein Quantensprung!“
Dezent geschminkt, im Trenchcoat auf ihrem Bürostuhl sitzend, versucht Salwa al-Bughaigis, die Ziele der Rebellen kurz zusammenzufassen: Es gehe darum, in Libyen einen Rechtsstaat aufzubauen. Gewaltenteilung, Trennung von Staat und Religion, einen Gesetzeskodex, der, wie früher schon einmal, auf dem Code Civil basiert. Natürlich mit Referenzen an die islamische Kultur, aber eben nur mit Referenzen. Keine Scharia im Familienrecht, nur so viel, wie es der kulturellen Prägung Libyens entspreche, nicht mehr.
Dann beginnt sie, Gegenfragen zu stellen: „Warum hilft uns Deutschland nicht?“ Vielleicht, so lautet die Antwort, weil eine westliche Intervention die Freiheitsbewegungen in Nordafrika diskreditieren, ja, ins Gegenteil umschlagen lassen könnte. Guido Westerwelles Argument erscheinen ihr abgehoben und schulmeisterlich. „Jahrzehntelang haben die jungen Araber den Westen gehasst, euch Neokolonialismus vorgeworfen. Seit die westlichen Kampfflugzeuge uns helfen, ist das wie weggeblasen. Man sieht nur noch das Verbindende, Frankreich als Vorreiter und Mutterland des Säkularismus, das uns zu Hilfe eilt, weil wir und die Europäer gemeinsame Ideale haben. Deutschland verpasst den Anschluss an die arabische Moderne.“
Wann kommen „die Franzosen“? Das ist die Frage, die sich die Kämpfer vor Adschdabija stellen. In der Stadt, in die sich Gaddafis Truppen zurückgezogen haben, sollen Tote auf den Straßen liegen, dem Krankenhaus fehlen Medikamente. Familienväter, die mit vollbepackten Autos aus der Stadt eintreffen, erzählen von Vergewaltigungen, Plünderungen, Mord.
Das Gerücht breitet sich aus, der provisorische Regierungsrat habe bei der Nato angerufen und um Luftunterstützung gebeten. Eine Viertelstunde später sind tatsächlich Jets zu hören. Von einer Düne aus kann man mit bloßem Auge schwarzen Rauch über den Häusern von Adschdabija aufsteigen sehen. Die Kämpfer jubeln, klatschen, schwenken die Gewehre. „Sarkozy! Sarkozy!“ Motoren springen an, eine Gruppe bricht in Richtung Stadt auf. An der vordersten Linie, neun Kilometer von der Stadt entfernt, spähen schon ein paar Mutige von einer Anhöhe herab.
Als sich in der Ferne ein Auto zeigt, das aus der Stadt kommt, stürzen alle aufgeregt zur Straße hinunter. Hat es jemand hineingeschafft und bringt nun die lang erwartete Nachricht vom Abzug der Gaddafi-Truppe? Im Auto sitzen vier bunt uniformierte Rebellen. Der Kofferraum steht offen, weil darin die blutüberströmten Leichen von vier Kameraden liegen. Einem fehlt der Kopf. „Allahu Akbar“, tönt es: Gott ist groß. Wut macht sich breit. „Los, wir zeigen es den Gaddafi-Typen!“ – „Angriff, Angriff!“, schreien immer mehr.
Dann folgt ein dumpfer Knall, ein Raketenabschuss. Alle werfen sich zu Boden. Ein zweiter Knall. Die Kämpfer laufen zu den Autos. Motoren werden angelassen, in wilder Jagd geht es davon. Aber in entgegengesetzter Richtung, nach Bengasi. Die Dunkelheit ist eingebrochen, auf der Straße liefern sich die Autos der Rebellen ein Rennen darum, wer als Erster die sichere Stadt erreicht. Auch Mohammed al-Beigo und seine Söhne rasen mit, zurück, zurück. Mit dem Maschinengewehr haben sie nicht geschossen. An der Halterung klammert sich ein Teenager fest, der in der Panik in den Pick-up gesprungen ist. Familie al-Beigo ist sich einig: Zum Abendessen können sie es noch rechtzeitig nach Hause schaffen.“
Nach der taz-Redaktionskonferenz um 11 Uhr meinte ein Redakteur: „Die Wahl in Baden-Württemberg heute wird interessant“. Ein anderer: „Was sich an der Rebellenfront in Libyen tut, und ob die mit ihrem ‚Marsch auf Tripolis‘ jetzt Erfolg haben werden, hat mehr Auswirkungen auf uns als das Auswechseln eines Ministerpräsidenten in Süddeutschland.“ Allgemeine Zustimmung der ihm Nächststehenden. Ein EDVler fügt hinzu: „Der weitere Verlauf in Syrien ist auch nicht ganz unwichtig“.
Dpa tickert um 13 Uhr 25 aus Libyen:
„Die Milizen der libyschen Regimegegner haben am Sonntag bei ihrem Vormarsch nach Westen den Ölhafen Ras Lanuf erreicht. Wie schon Stunden zuvor in Brega trafen sie auf keinen Widerstand der Truppen des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi, berichtete ein Korrespondent der BBC aus der Region. Die Aufständischen hatten erst am Samstag die Stadt Adschdabija, 160 Kilometer südlich von Bengasi, eingenommen. Den Bodengewinnen der Regimegegner waren in der Nacht zum Samstag massive Luftangriffe der westlichen Militärallianz auf die Gaddafi-Truppen bei Adschdabija vorausgegangen.“
Spiegel-online ergänzt:
Dank der westlichen Militärhilfe dringen die libyschen Rebellen immer weiter vor – nun haben sie offenbar die Stadt Brega zurückerobert.
Um 16 Uhr 47 meldet dpa:
„Die libyschen Regimegegner haben am Sonntag bei ihrem Vormarsch nach Westen den Ort Bin Dschawwad erreicht. Wie schon Stunden zuvor in Brega und Ras Lanuf trafen sie auf keinen Widerstand der Truppen des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi, berichtete ein Korrespondent des arabischen Nachrichtensenders Al-Dschasira aus Bin Dschawwad. „Die Gaddafi-Truppen zogen sich zurück oder ergaben sich, es gab keine Schlacht“, sagte er.
Die Aufständischen hatten erst am Samstag die Stadt Adschdabija, 160 Kilometer südlich von Bengasi, eingenommen. Am Sonntag legten sie eine Strecke von 250 Kilometern zurück, ohne in Kampfhandlungen verwickelt worden zu sein. Damit kontrollieren sie nun alle Ölhäfen im Osten Libyens – Tobruk, Adschdabija, Suweitina, Brega, Ras Lanuf, und Al-Sidra.
Den Bodengewinnen der Regimegegner waren in der Nacht zum Samstag massive Luftangriffe der westlichen Militärallianz auf die Gaddafi-Truppen bei Adschdabija vorausgegangen. Seitdem befinden diese sich auf einem eiligen Rückzug in Richtung Sirte, der 560 Kilometer westlich von Bengasi gelegenen Geburtsstadt Gaddafis. Die Rebellen wollen nun nach eigenem Bekunden dorthin vormarschieren. Zunächst war unklar, wo die Gaddafi-Truppen ihre nächste Verteidigungslinie ziehen würden.“
AP meldet:
In der indonesischen Hauptstadt Jakarta demonstrierten am Sonntag mehr als 10.000 Muslime gegen den libyschen Machthaber Muammar al Gaddafi und für die arabischen Protestbewegungen in Libyen, Jemen und Bahrain.
Das wurde aber auch Zeit!
AFP berichtet:
„Nach dem Beginn der internationalen Angriffe auf Libyen wenden sich nach US-Angaben immer mehr Gefolgsleute von Machthaber Muammar el Gaddafi ab. Sie wisse von „zahlreichen Diplomaten und Armee-Oberen“, die „umschwenken, die Seiten wechseln oder desertieren, weil sie sehen, wie alles enden wird“, sagte US-Außenminister Hillary Clinton am Sonntag dem US-Fernsehsender CBS. Verteidigungsminister Robert Gates sagte dem Sender, wenn „Mitglieder des Regimes ins Wanken“ gerieten, dürften die Auswirkungen „nicht unterschätzt“ werden.“
Bisher gab es viele Libyen-Beobachter, die davon ausgingen, dass große Teile des Volkes noch immer hinter Gaddafi stünden – und die deswegen von einem „Bürgerkrieg“ sprachen. Im Maße diese Parteigänger sich nun nach und nach von ihm abwenden, wird dieser Aufstandsinterpretation der Boden entzogen. Da es sich bei den „Beobachtern“ jedoch meist um orthodoxe Linke („Moskowiter“) handelt, die rein deduktiv die „Weltlage“ analysieren – und die antiimperialistischen Kräfte auf der einen Seite und die USA zusammen mit Israel und der EU auf der anderen Seite (als „Machtblöcke“) stehen sehen, wird das nur wenig an ihrer Sichtweise ändern.Hier dazu noch einmal die ganz andere – antileninistische – Sichtweise der Pariser Gruppe „Tiqqun“ – in ihrem Text „Einführung in den Bürgerkrieg“: http://tarnac9.noblogs.org/gallery/5188/einfuehrung in den buergerkrieg.pdf.
Jürgen Kuttner meinte vorgestern, ich solle die Meldungen mehr kommentieren. Ich habe zwar eine rätekommunistisch-anarchistische Sicht auf die Welt und insbesondere auf soziale Bewegungen, aber zum Einen verleitet diese ebenso leicht zu einer deduktiven Sichtweise auf die Dinge, und zum Anderen geht es mir auch und vor allem darum, dass der Arabische Aufstand – die dortigen „Unruhen“ – und ihre langsame Eskalation immer mehr mit meiner inneren Unruhe harmonisieren, diese ist aus Gründen verlorener/verschmähter Liebe fast so groß, dass ich sie kaum aushielte, gäbe es diese ganzen „Explosionen“ – bis hin zu den von Kernkraftwerken – nicht, wobei ich mich letzteren primär unter dem sozialen Aspekt der Panik – bricht sie aus oder nicht? – widme. Kommt noch hinzu: der Zusammenhang zwischen Kernschmelze, Verschmelzungswunsch und Revolution. Ich habe mithin ein starkes persönliches Interesse an diesen ganzen „Katastrophen“. „I love desaster – and I love what comes after,“ sang Tom Verlaine, einstmals Frontman von „Television“.
Für die Pariser Gruppe „Tiqqun“ ist die panische Reaktion die vielleicht letzte Möglichkeit, aus der „Normalisierung“ (Michel Foucault) auszubrechen, d.h. sich aus der ideologischen Umklammerung durch den Staat, das System – mit seinen unablässig zur Ruhe und Ordnung mahnenden Medien, zu befreien. „In einer Paniksituation lösen sich Gemeinschaften vom Gesellschaftskörper, der als eine Gesamtheit konzipiert ist, und wollen ihm entwischen,“ schreibt die Gruppe Tiqqun in ihrem Buch „Kybernetik und Revolte“. Die Panik ist ein „Zerfall der Masse in der Masse“. Was bei der Panik „die Deiche bricht“ und sich in eine potentielle positive Ladung, „eine konfuse Intuition (in der Kon-Fusion), umwandelt“, ist, dass jeder hierbei so etwas wie das lebendige Fundament seiner eigenen Krise ist, anstatt sie wie ein äußeres Schicksal hinzunehmen. „Die Suche nach aktiver Panik – ‚die panische Erfahrung der Welt‘ – ist somit eine Technik, um das Risiko des Desintegration einzugehen, das jeder als Risiko-Dividuum für die Gesellschaft darstellt.“ Für Tiqqun geht es „in den letzten Tagen des Nihilismus darum, die Furcht ebenso extravagant erscheinen zu lassen wie die Hoffnung.“So gesehen sind Kairo und Tokio eine Front. Und wenn viele um mich herum von den ganzen Nachrichten über diese Achse schon depressiv werden, dann ist es bei mir genau umgekehrt.
Der japanische Sozialphilosoph Kenichi Mishima ist sich bei den 35 Millionen Einwohnern Tokios sicher: „Es wird, wenn das Schlimmste eingetreten ist, der Augenblick kommen, wo jeder seine Haut zu retten versucht, mit allen möglichen chaotischen Konsequenzen, die ein solcher Exodus mit sich bringt. Übrigens hat schon ein kleiner Exodus angefangen. Höhere Töchter der global class reisen allmählich ab. Ich persönlich könnte mit meiner Lebensgefährtin wenn es sein muss, westwärts wegfahren. Die Vorstellung einer Autokolonne, die sich nicht vorwärtsbewegen will, lässt mich jetzt schon grausen. Soweit ist es Gott sei Dank noch nicht. Messwerte in Tokio zeigen kaum Abweichungen von den bisherigen Durchschnittswerten.“ Kenichi Mishima ist, ebenso wie Alexander Kluge, davon überzeugt, dass die Japaner, trotz vielleicht verbreiteterem Patriotismus und größerer Loyalität zu ihren Firmen, in denen sie beschäftigt sind, letztlich ebenso wie die Deutschen auf Katastrophen reagieren.
Die Prenzlauer Berg Zeitung „floppy myriapoda“ hat in ihrer neuesten Ausgabe, die am Dienstag in der Kneipe „Rumbalotte“ vorgestellt wird, Zitate aus Berichten über den Allarabischen Aufstand zusammengetragen, in denen es ebenfalls darum geht, nahe am Prozeß und nicht an einem Ereignis zu sein. Hier im blog ist das aber bloß ein zusammenfassender Rückblick:
Die „Jungle World“ veröffentlicht am Anfang Februar ein Interview mit dem ägyptischen Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad: „Sie sprechen von der »Facebook-Generation«, aber wie viele Ägypter haben überhaupt Zugang zum Internet?
Nur 21 Prozent, aber 21 Prozent sind nicht wenig. Denn es sind aktive Leute. Man hat gedacht, die spielen nur, aber das stimmte nicht. Die ganzen Proteste wurden via Facebook organisiert.“
Die in Kairo studierende Deutsche Nora Mbagathi berichtet vom Tahrir-Platz in der taz am 8.2.: „Es ist faszinierend, wie schnell Leute, die sich durch ein gemeinsames Ziel verbunden fühlen, Wege finden, sich selbst und anderen das Leben zu erleichtern.“
Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal sagt im Interview mit dem Madrider taz-Korrespondenten: „Es ist eine Rebellion gegen das Eingeschlossensein. Und im Laufe der Rebellion entdeckt man dann die Möglichkeiten, die man tatsächlich hat. Es taucht die Frage auf, was man machen kann. Erst dann kommt die Politik ins Spiel und es geht plötzlich gegen Ben Ali, gegen Mubarak, für die Demokratie? Aber am Anfang ist es nichts weiter als eine biologische Reaktion, ein Schrei nach Leben und gegen die Mauer, die alles umgibt.“
Die Nachrichtenagentur dpa meldet am 10.2.: „Zur politischen Bewegung gegen den ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak sind seit gestern auch noch Kundgebungen Tausender von Arbeitnehmer hinzugekommen, die für höheren Lohn, bessere Sozialleistungen und bessere Arbeitsbedingungen auf die Straßen gingen. In der Hafenstadt Suez traten mehr als 5.000 Arbeiter mehrere Firmen in den Streik. Tausende andere demonstrierten in den Städten Mahalla, Port Said und Kairo.“
Der Kairo-Korrespondent der taz Karim El-Gawhary schreibt am 10.2.: „Eine Feministin erzählte mir: ‚Die üblichen Anmachen haben vollkommen aufgehört. und nicht nur auf dem Tahrirplatz.‘ Wenn sie in der Gruppe offen, mit Transparenten etc., auftreten, rufen die Leute ihnen zu: ‚Seid stark, ihr Töchter der Revolution.‘ Selbst einer der Muslimbrüder ist darüber laut vom Glauben abgefallen. Seitdem er auf dem Platz ist, ist er davon überzeugt, ‚dass Frauen alles können‘.“
Am 12.2. meldet dpa: „Die Unruhen weiten sich auf andere arabische Staaten aus. In Saudi-Arabien protestieren 40 Frauen. Ein Mann wurde Anfang Januar zu 30 Peitschenhieben verurteilt, weil seine sonst komplett verhüllte junge Frau ihre Augen nicht zusätzlich mit einem Schleier bedeckt hatte.“
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schreibt der ägyptische Schriftsteller Chalid al-Chamissi am 13.2.: „Werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass die Oberfläche des Nils tanzt? Dass der Nil tanzt von den Freudenschreien seines Volkes, da sie den Sturz ihres Diktators feiern? Ja, so ist es. Millionen von Menschen rufen aus vollem Hals: ‚Erhebe dein Haupt, du bist Ägypter!'“
In einem FAZ-Interview am 16.2. mit dem Kairoer Schriftsteller Khaled al-Khamissi, der gerade ein Buch über Kairoer Taxifahrer veröffentlicht hat, sagt dieser – vier Tage nach dem Aufstand, dass sich „etwas in der Psyche der Ägypter verändert hat. Die Revolution hat die ägyptische Seele zum Leuchten gebracht.“ Aber: „Ich bin mit französischen Filmteams durch Kairo gelaufen. Wenn sie unter 2000 Gesichtern eines mit einem langen Bart gesehen haben, filmten sie dieses, nicht die 1999 anderen. Der Westen sucht diese Bilder. Aber sie sind eine Verzerrung der Wirklichkeit.“
Im sozialen Netzwerk Facebook findet sich am 16.2. ein Aufruf zu Großdemonstrationen in allen libyschen Städten. AFP meldet: „Nach Aufständen in mehreren nordafrikanischen Ländern erhöht Marokko die Subventionen für Grundnahrungsmittel.“ Online-news konstatiert: „Die Piraten vor der Küste Somalias werden immer frecher!“
Die taz interviewt am 16.2. einen der Gründer der Kairoer „Jugendbewegung 6.April“ – Ahmed Maher: „Mubarak ist zurückgetreten, wir haben jedoch unsere Ziele noch nicht erreicht, sind aber auf dem Weg dahin. Wir räumen die Straßen auf und sagen den Leuten, wie sie dafür sorgen können, dass ihr Land „sauber“ bleibt. Wir versuchen, die Menschen zu motivieren, und geben ihnen Anregungen, wie sie ihr Land verändern können. Wir wollen auch die Mentalität junger Leute verändern und sie dazu bewegen, sich am politischen Leben zu beteiligen. Das ist unser Ziel. Wir klären die Leute außerdem über unsere Bewegung auf. Wie werden Sie sich jetzt organisieren, nachdem die Demonstrationen vorbei sind? Wir haben keinen Anführer. Alle von uns versuchen, ihr eigenes Umfeld zu organisieren. Jeder ist sein eigener innerer Anführer und versucht, die Ziele zu verbreiten.
Es ist meiner Meinung nach kein Problem, keine Führung zu haben. Im Gegenteil, es ist eine gute Sache. Wenn wir einen Anführer hätten, hätten wir eher ein Problem bekommen, schätze ich. Er hätte seine Meinung, und wir unsere. Wir haben keinen Anführer, wir gehen von uns selbst aus, und das ist das Richtige.“
Die Reporterin Sonja Zekri fuhr für die Süddeutsche nach Oberägypten, um die Situation auf dem Land zu studieren. Am 22.2. schreibt sie: Die 24jährige Dorfschullehrerin Azza Kaman „ist zu allem bereit, in ihren mokkabraunen Augen brennt das Feuer der neuen Zeit: ‚Ich werde im Unterricht völlig neue Seiten aufziehen. Meine Schüler sollen lernen, für ihre Rechte einzutreten. Wir werden das Dorf reinigen., Dies wird ein neues Land.‘ Sie ist nur sauer auf ihren Cousin: Er ist nach Kairo auf den Tahrir-Platz gefahren – ohne sie mitzunehmen.“
Die Junge Welt veröffentlicht am 25.2. ein Interview mit Nabeel Rajab, Menschenrechtsaktivist und Leiter des Bahrain Center for Human Rights: „Mit Sicherheit handelt es sich bei dem Kampf hier nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten, wie die Herrscherfamilie Glauben machen will. Das ist nichts als eine Karikatur, die dazu dient, das Gespenst Iran heraufzubeschwören, um Europa und die USA zu erschrecken. Gewiß, die Mehrheit der Menschen auf der Straße ist schiitisch. Das aber nur, weil eben siebzig Prozent der Bevölkerung von Bahrain schiitischen Glaubens sind. Es stimmt auch, daß ein Großteil der Schiiten in Armut lebt, aber auch das muß man bezogen auf die Gesamtbevölkerung sehen. Der Kampf dieser Tage ist der ökonomische und politische der Mittelschichten und der armen Unterschicht.“
Am 25.2. interviewte „Die Zeit“ die ägyptische Schriftstellerin und Feministin Nawal al-Saadawi: „Die Revolution hat alle Unterschiede aufgelöst, ob Geschlecht, Religion oder Klasse. Christen und Muslime standen zusammen. Wir haben noch nie so eine Einheit verspürt. Wir haben vor Freude auf dem Tahrirplatz getanzt. Es war eine echte Revolution. Sie kam von innen heraus. Das Volk ist aufgestanden: gegen Korruption und gegen die Spaltung, die das Regime uns aufgezwungen hat. Um uns zu beherrschen, spaltete es uns in Religionen, Klassen und nach Geschlecht. So spielte es uns gegeneinander aus. Dies ist die Methode der Diktatur und des amerikanischen Neokolonialismus. Die Beherrschung durch Washington und das Beugen vor den Interessen Israels haben uns unsere Würde genommen. Deshalb war der wichtigste Slogan unserer Revolution: Würde!“
Ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung befaßt sich am 26.2. mit der „wachsenden Wut“ von Marokko bis Saudi-Arabien: „Twitter, Facebook und Internet-Blogs treiben den Aufruhr voran. Und es brodelt weiter im Internet. ‚Dieses Jahr oder nie. Lasst uns träumen. Träumen von einem demokratischen und freien Marokko‘. Auf ’saudiwomenrevolution‘ schreibt etwa @classicdiva: ‚Ich rufe saudische Frauen auf, jetzt zu handeln. Unsere saudischen Brüder haben uns verraten, das sind lauter Feiglinge. Handelt jetzt, bevor es zu spät ist.“
Südtirol online berichtet am 28.2. aus Gaza: „Der Freiheitsfunke springt auf Gaza-Jugend über. Das F-Wort kommt wie aus einem Maschinengewehr geschossen. „Fick dich Hamas, Fick dich Israel, Fick dich Fatah, Fick dich Vereinte Nationen, Fick dich Flüchtlingshilfswerk und Fick dich USA“, heißt es in einem „Manifest für den Wandel“. Der verbale Rundumschlag und die geballte Frustentladung sind derzeit ein Renner auf Computern im Gazastreifen. Mehr als 18.950 Mal ist die Seite „Gaza youth brakes out“ im sozialen Netzwerk Facebook bislang angeklickt worden.“
In der taz berichtet Renate Fisseler am 1.3. aus Tunis über „Die Frauen der Revolution“: „Seit dem 14. Januar ist die tunesische Öffentlichkeit weiblicher geworden. In Radio, Fernsehen oder Zeitungen sind bekannte Feministinnen wie Sana Ben Achour, Vorsitzende der Vereinigung Demokratischer Frauen, Noura Borsali, Khadija Cherif, Bochra Belhaj Hmida, Neila Jrad jetzt gefragte Gesprächspartnerinnen. Was sie über Religion und Politik denken, ob ihnen die Islamisten Angst machen, wie ihre Haltung zum Schleier ist.
Sichtbar mischen sich Feministinnen ins revolutionäre Geschehen ein, bei Diskussionen über Islam und Laizität, über Verfassung und Politik, sie schreiben Manifeste, die junge Generation ist im Netz unterwegs, informiert, diskutiert, verbreitet Petitionen. Überwachung, Verbot von öffentlichen Aktionen, polizeiliche Willkür – das war der Alltag tunesischer Feministinnen in den Jahrzehnten der Diktatur. „Bis zur Revolution haben wir in gewisser Weise unsichtbar gearbeitet“, sagt Emna Ben Miled, ‚die herrschende Macht hat uns keine soziale Sichtbarkeit gestattet‘.“
Im Friedrichshainer „Stadtteilladen ‚Zielona Gora'“ berichtete am 2.3. eine persische Genossin des Berliner „Komitees zur Freilassung der politischen Gefangenen im Iran“: Obwohl das Land reich ist, ähneln die Verhältnisse dort den in Tunesien und Ägypten: 60% der Bevölkerung sind unter 30, davon ist fast die Hälfte arbeitslos (gezählt werden nur die Männer). Es gibt allein 137 staatliche Stellen, wo sie notfalls eine ihrer Nieren verkaufen können. Grund genug also, um gegen dieses neoliberal gewordene Schiiten-Regime zu kämpfen, in dem die Revolutionsgardisten die neue Bourgeoisie stellt: „Ihr gehören 47% der Wirtschaft“. Das macht dann auch den wesentlichen Unterschied zu Tunesien und Ägypten aus: Diese Stützen des islamischen Staates werden sich – im Gegensatz zu den „Volksheeren“ – nicht auf die Seite der Aufständigen schlagen. Ahmadinedschad kommt aus ihrer Mitte, auch die beiden jetzt inhaftierten sogenannten Oppositionsführer Moussavi und Karroubi. Dagegen gab es dieser Tage erneut Proteste im Iran. Zumeist von Studenten, aber auch die Frauen, die immer wieder gegen die Zumutungen der Scharia-Gesetze demonstrieren, „einige haben sich jetzt organisiert“. Außerdem streikt ein Teil der Arbeiter – u.a. weil sie zu lange nicht mehr entlohnt wurden, sie haben geheime Gewerkschaften gegründet. Es ist die vorwiegend städtische Gesellschaft, „die wegen Armut und Unfreiheit auf die Straße geht“. Der iranischen „Demokratiebewegung“ fehle es jedoch an einer Organisation, um die vielen Gruppen, bis hin zu den bewaffneten, zu verbinden. Zudem mangele es ihr an einer Führung und an einem Programm. Besonders mit dem Fehlen des letzteren hätten sie „schlechte Erfahrungen gemacht: ‚Der Schah muß weg!‘ – das reichte nicht als Programm…Es ist schwierig!“
Am 5.3. berichtet der Pariser „Labournet“-Mitarbeiter Bernard Schmid auf einer Veranstaltung über den Nahen Osten im Kreuzberger Mehringhof: Die Aufständischen handeln zwar strikt basisdemokratisch, aber ideologisch hat das wenig oder nichts mit Rätekommunismus zu tun.
Ähnlich sieht das auch der Spiegel-Korrespondent Clemens Höges in Benghasi, wo sich der „Nationale Übergangsrat“ im befreiten Libyen gebildet hat, dessen Basis die neugegründeten „Volkskomitees“ sind und dem sich das übergelaufene Militär unterstellt hat: „Es ist ein anarchisches Experiment und einzigartig im Aufstand der Araber“; anders als in Ägypten, wo die Militärs erst mal die Macht übernommen haben, anders als in Tunesien, wo der Apparat des Regimes noch weiter funktioniert.“
Der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh sagt in einem „Zeit“-Interview am 7.3.: „Mein Gefühl ist, dass die Revolution ihren Zweck schon erfüllt hat: Sie hat den Leuten klargemacht, dass die wirkliche Souveränität bei ihnen liegt, nicht bei der Regierung oder der Armee. Was auch immer noch geschehen mag, ein Sprung wurde gemacht, und sowohl die Menschen als auch die Herrschenden wissen, dass er wieder gemacht werden könnte.“
Der Spiegel interviewt am 7.3. den israelischen Historiker Tom Segev: „Wie denken die Menschen in Israel über die arabischen Revolutionen?“ „Seitdem unser Land existiert, sind wir davon ausgegangen, dass wir besser sind als die Araber. Jetzt aber merken wir: Das sind keine rückständigen Menschen mehr. Auf einmal stehen wir vor einer neuen Situation – dass die arabische Welt vielleicht genauso demokratisch denkt wie wir, vielleicht sogar demokratischer. Wo bleiben wir da?“
Am 8.3. konzentrieren sich die Nachrichtenagenturen fast ausschließlich auf die immer heftigeren Kämpfe der libyschen Rebellen gegen das Gaddafi-Regime. Es kommt jedoch auch im Jemen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Regimegegnern und dem Militär. In Saudi-Arabien protestieren am internationalen Frauentag etliche Frauen. Und auch in Ägypten findet er zum ersten Mal auf der Straße statt.
Am 9.3. wird befürchtet, dass der Allarabische Aufstand jetzt erst einmal in Libyen entschieden wird. Sollten die Rebellen in den Nachbarstaaten nicht internationale Brigaden aufstellen? Der österreichische „Standard“ kommt mit guten Nachrichten,nur leider stimmen sie wahrscheinlich nicht “ Ultimatum: Rebellen geben Gaddafi 72 Stunden Zeit, um das Land zu verlassen. Keine US-Waffenlieferung an Rebellen – Luftschläge gegen Stellungen der Rebellen in Ölregion. In Libyen scheinen sich die Anzeichen für eine Niederlage des Gaddafi-Regimes zu verdichten. Der Standard berichtet auch heute wieder live über die Ereignisse in dem nordafrikanischen Land. Unterhalb steht wieder ein Diskussionsforum bereit. Bitte bleiben Sie sachlich und behandeln Sie einander mit Respekt.“
Der AFP-Korrespondent war dabei, als im „befreiten Gebiet“ aus „freiwilligen Kämpfern“ Soldaten gemacht werden sollen:
„Mohammed el Abidi, übergelaufener Kommandeur der Luftabwehrkräfte von Bengasi, gibt sich zunächst trotzdem optimistisch. In seiner Hand hat er eine Liste mit dem Namen von fünfzehn Offizieren der Armee, die ebenfalls übergelaufen sind. “Wir sind alles Spezialisten. Jeder hat die Verantwortung für den Bereich, in dem er militärisch kompetent ist.” Abidi ist mit einem Laster aus Bengasi gekommen, auf der Ladefläche mehrere Raketenwerfer. Aber irgendwie scheint auch er nicht so recht zu glauben, dass er hier mit seiner Armeeerfahrung viel ausrichten kann. “Das hier ist eine Miliz”, sagt er entnervt, als er die versammelten Kämpfer sieht. “Die kann man nicht organisieren.” Dann steigt er wieder in sein Fahrzeug und fährt zurück Richtung Osten.
Letzte Meldung am 9.3. von AP aus Oman: „Mehr als 150 Demonstranten haben vor dem Hauptgebäude des omanischen Staatsfernsehens in der Hauptstadt Maskat für mehr Pressefreiheit demonstriert. Am Montag ging Sultan Kaboos bin Said bereits auf die Forderungen der Protestierenden nach mehr Arbeitsplätzen und politischer Öffnung ein.“
Am 10.3. veröffentlicht „Die Zeit“ einen Artikel von Annabel Wahba, die kürzlich wieder einmal die Verwandten ihres Vaters in Kairo besucht. Es sind Kopten. Zu ihrer Ankunft hatten sie eine Feier organisiert. Die Autorin fand „ein Land in Transit“ vor, alle erhofften sich etwas vom Umsturz, auch wirtschaftlich, obwohl es damit bei ihnen zur Zeit bergab geht. Sie lernte zwei ihrer Cousins auf der Feier kennen, einer nahm sie mit auf den Tahrirplatz: „’Was möchtest du noch wissen?‘ fragt mich Samuel immer wieder, als sei das sein ganz persönlicher Aufstand gewesen.“ Abschließend schreibt Annabel Wahba: „Die Reise hat mich und meine ägyptische Familie näher zusammengebracht als all die Besuche davor. Plötzlich stehe ich mit entfernten Cousins, die ich kaum kannte, in regelmäßigem Kontakt: Wir sind jetzt nicht nur verwandt, sondern auch Facebook-Freunde. Ich bin mir nicht sicher, was von beidem für sie verbindlicher ist.“
Die Brasilienkorrespondentin der portugiesischen Zeitung “Publico” Alexandra Lucas Coelho flog am 6. Februar nach Kairo. Auf dem Tahrirplatz erklärte ihr ein 24jähriger Englischlehrer namens Ahmed: “Diese Revolution ist wie ein Körper ohne Kopf, wenn sie einen Kopf hätte, würde man ihn ihr abschlagen. Das ist der große Vorteil dieser Revolution. Niemand führt sie an.”
Sie schreibt: Überall auf der Welt fragt man sich “Und danach, was kommt dann” (and what comes after?). “Aber auf dem Tahrirplatz steht die Geschichte still. Dies ist die Stunde, die diese Menschen nie mehr vergessen werden. Von hier aus wird alles ausgehen, der große Flügelschlag des Schmetterlings.”
Reuters meldet heute – sozusagen aktuell vom Tahrir-Platz:
„In der ägyptischen Hauptstadt Kairo sind einem Bericht zufolge mehr als 2000 Demonstranten für politische Reformen auf die Straße gegangen. Auf dem Tahrir-Platz forderten Protestler, den im Februar gestürzten Präsidenten Husni Mubarak und weitere frühere Regierungsmitglieder wegen Bestechlichkeit anzuklagen, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Mena am Freitag. Auch wurde die Freilassung politischer Gefangener verlangt.
Streiks und Unruhen lähmen die ägyptische Wirtschaft und treffen den besonders wichtigen Tourismussektor. Die vom Militär unterstützte Regierung stimmte in dieser Woche einem Gesetzentwurf zu, der für einzelne Streiks und Proteste Gefängnisstrafen vorsieht. Dabei gehe es nicht darum, friedliche Demonstrationen gesetzlich zu verbieten, sagte Justizminister Mahmud al-Guindi. Jedoch müssten die Störungen der Wirtschaft aufhören.“
In der FAS schreibt Khaled al-Khamissi über die ägyptische Revolution, der Autor des Buches über Gespräche mit Kairoer Taxifahrern wird heute Mittag auch auf einer Veranstaltung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin sprechen:
Er zitiert die Zeitung „Al-Ahali“ vom 26.10 1921: „Eine Gruppe, die an den Fingern einer Hand abgezählt werden kann, zieht die Fäden nach Belieben. Diese Leute haben Telefone, mit denen sie Anweisungen geben, und wenn sie Repression und Zwang befehlen, so wird dies gehorsamst ausgeführt.“ Und das, so schreibt Khaled al-Khamissi, ist jetzt ebenfalls wieder der Fall: „In Ägypten findet momentan eine intelligent geplante Operation statt, deren Ziel es ist, den revolutionären Elan ins Leere laufen zu lassen….Wieder hören wir von einer kleinen Gruppe jenes Regimes, das eigentlich gestürzt sein sollte, die über Telefon Befehle erteilt und so viele Personen wie möglich an der Macht zu halten versucht.“ Werden wir es diesmal schaffen, so fragt sich der Autor, „unsere revolutionären Ziele verwirklichen zu können?“
In der FAZ wurde gestern ein im Wagenbach Verlag erschienenes Buch einer in Spanien aufgewachsenen Marokkanerin euphorisch besprochen – zu Recht. Es heißt „Der letzte Patriarch“ und geschrieben hat es Najat El Hachmi. Der Rezensent schreibt:
„Ein wunderbares, ein notwendiges Buch. Es kommt gerade zur rechten Zeit. Die Patriarchendämmerung, die Nordafrika und die gesamte arabische Welt erfaßt hat, geht auch an Marokko nicht vorüber. Dies Buch einer jungen Autorin trägt aus sehr persönlicher Perspektive dazu bei, dem Leser den Sturz der Patriarchen begreiflicher zu machen.“
The Independent schreibt über die Autorin und ihr Buch: „An eye for comedy in the face of everyday disaster“.
Die Frauen sind das eigentliche historische Subjekt des Arabischen Aufstands! Ich werde noch ausführlich auf dieses wunderbare, aber auch schreckliche, geradezu alptraumhafte Buch zurückkommen. Es legt nahe, dass die heterosexuellen arabischen Männer besonders üble Arschficker sind, buchstäblich,. aber natürlich sind sie nur graduell übler als die hiesigen. Wobei die sexuelle Emanzipation hierzulande mindestens bei den Jüngeren langsam zu einem Wunschwandel führt. Immer öfter kommen z.B. Gruppen von Jungs in die Sexualberatungsstellen und sagen: „Unsere Mädels wollen mit uns vögeln, was sollen wir machen?!“Der Spiegel veröffentlicht nebenbeibemerkt in seiner morgigen Ausgabe einen längeren Bericht über die Frauen bei den ägyptischen Muslimbrüdern – „in ihren Worten scheinen sie emanzipiert“. Erwähnt sei ferner das Buch „Frauen in der arabischen Welt“ mit Texten arabischer Autorinnen, herausgegeben von Suleman Taufiq. Die Rezensentin Sabine Tesche schreibt:
„Arabische Frauen sollen schweigen, nie widersprechen, keinen Spaß am Sex haben und klaglos jeden Ehemann akzeptieren, so will es die männlich dominierte islamische Tradition – nach der Lektüre des Erzählbandes „Frauen in der arabischen Welt“ ist man dankbar, als freie Europäerin auf die Welt gekommen zu sein. Überwiegend in Ich-Form schreiben 21 arabische Autorinnen über den Alltag von Frauen in Syrien, Kuwait oder auch Bahrain; manches ist reine Fiktion, andere Geschichten haben autobiografische Züge. Das dominierende Thema: die frustrierende Beziehung zwischen Mann und Frau und der Versuch der meist urbanen, gebildeten Heldin, mit ihrer unglücklichen Situation innerhalb einer unfreien Gesellschaft zurecht zu kommen.
Offener als bei westlichen Autorinnen werden unbefriedigte Sexualität, die geheimen Wünsche der Frauen, Hass auf Ehemänner und Eltern, die ihre Töchter in eine glücklose Ehe zwangen, zur Sprache gebracht. „Das Thema der Sexualität ist, wenn es um die Stellung der Frau in der islamischen Kultur geht, zentral. Denn die Gesellschaft im Orient sieht in der Frau häufig nur den Körper, die Frau soll dem Mann für sein sexuelles Begehren zur Verfügung stehen“, schreibt Suleman Taufiq.
Doch es gibt immer mehr Frauen wie die Bestseller-Autorinnen Ghada Samman, Nawal El Saadwi oder Sahar Khalifa, die ihre Meinung offen kundtun und dafür in ihrer Heimat von traditionellen und islamistischen Kreisen angegriffen werden. Die Heldinnen ihrer Geschichten kritisieren die strenge Geschlechtertrennung und ergreifen selbstbewusst das Wort. Dennoch enden ihre Erzählungen, wie eben oft auch in der Realität, meist tragisch.“
Naja El Hachmis Buch über ihre Selbstbefreiung – „Der letzte Patriarch“ (ihr grauenhafter Vater) – endet nicht tragisch, aber mit einem ebenso seltsamen wie überraschenden Arschfick.
Egyptian Revolution. Photo: yidio.com