vonHelmut Höge 05.04.2011

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Es gibt eine Ansteckungsgefahr bei Revolten und Revolutionen, die einem Sog gleicht. Das „Werden von Aufständen ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht,“ heißt es bei Gilles Deleuze. Allein machen sie dich ein, aber wenn sich der „Virus“ des Aufstands, wie Heiner Müller es nannte, ausbreitet, dann bleibt kein Auge trocken. Beim „Werden“ handelt es sich immer um ein Plural.

In Kroatien hat es die „Fejsbukovci-Generation“ geschafft, dass nach zwei Monaten täglicher Proteste nun die halbe Bevölkerung „für ein neues System“ demonstriert. „Ich bin hier, damit künftig keine Regierung mehr das Volk ficken kann!“ erklärte Zeljko Banic, Sänger der Band „Songkillers“. Der „kroatische Frühling“ wirkt wie von dem in Arabien angesteckt.

Ähnliches gilt auch für Madrid, wo Studenten, Professoren, Schriftsteller und Rocker für Donnerstag zu einer Demonstration gegen die zunehmend drückender werdende soziale Misere aufgerufen haben.

Es gibt noch weitere Ansteckungen: Cord Riechelmann schreibt in der Jungle World über die Hysterie und ich in der taz über die Panik:

1. Plutonium und Hysterie

Zersplitterter Widerstand: Mit seinem Buch »Die Ära der Ökologie« hat Joachim Radkau eine Weltgeschichte der Umweltbewegungen vorgelegt.

Zu den stereotypen Vorwürfen, die die Atomwirtschaft und die angeschlossenen Lobbyisten in Politik, Marketing und Medien gegen die Atomkraftgegner vorbringen, gehört der Verweis auf die Hysterie der Kritiker. Weil die Proteste gegen den Bau von Atomreaktoren oder die Stationierung von Atomwaffen hysterisch seien oder zumindest auf hysterischen Vorstellungen beruhten, wird den Protestierenden jede rationale Auseinandersetzung mit dem Atomkomplex abgesprochen.

An dieser Diagnose ist sehr viel richtig. Sie kehrt sich aber in dem Moment gegen die Betreiber und Befürworter der Atomwirtschaft, in dem sie sich auf die Wissenschaft und ihre Rationalität beziehen. Es gibt nämlich einen inneren Zusammenhang zwischen der spezifisch modernen Form der Wissenschaft, wie sie im 17. Jahrhundert mit Galilei und Descartes entsteht, und der Hys­terie als Reaktionsform auf eine unkontrollierbar gewordene Wirklichkeit.

»So paradox die Behauptung sein mag«, schrieb der Psychoanalytiker Jacques Lacan, »die Wissenschaft nimmt ihre Anläufe aus dem Diskurs der Hysterika.« Für Lacan galten neben Galilei und Descartes Sigmund Freud und die Entwicklung der Psychoanalyse als das Beispiel für die Geburt der modernen Wissenschaft aus der Hysterie. Die Hysterie, als das Symptom der ungeheueren Spaltung, die die moderne Wissenschaft in das Subjekt hineinträgt, indem es ihm durch die Entdeckung der Unendlichkeit des Alls den geschlossenen Kosmos einer vom göttlichen Himmel überwölbten Erde nimmt, ist der Motor der neuen Wissenschaft. Die neue Wissenschaft unterscheidet sich von der alten der Griechen sowie der des Mittelalters durch die Unendlichkeit ihrer Aufgabe.

Der Schock, der dadurch über die Subjekte kommt, kann platt so ausgedrückt werden: Endliche Subjekte sehen sich mit Objekten konfrontiert, deren Betrachtung zu keinem Ende kommt, weil sie unendlich sind. Mit der Unendlichkeit der Objekte nehmen aber natürlich auch die Ungewissheiten zu, vor allem jene Ungewissheiten, die aus der Interaktion von Endlichem und Unendlichem hervorgehen. Der Atomkomplex ist von Anfang an ein Paradebeispiel für die prinzipielle Ungewissheit, die den Kontakt zwischen Endlichem und Unendlichem begleitet. Die jahrzehnttausendelange Halbwertzeit des Plutoniums macht eine zufriedenstellende Lösung für die Endlagerung der abgebrannten Reaktorbrennstäbe prinzipiell unmöglich. Das ist zwar seit langem bekannt, es ist aber angesichts der mit der Katastrophe in Japan bestimmt nicht endenden Eiertänze der Atomkraftbefürworter notwendig daran zu erinnern. Denn die Unmöglichkeit der defintiven Lösung der Endlagerung des Atommülls ist das wissenschaftlich Sagbare.

Man kann die Geschichte dieses Arguments jetzt in einer groß angelegten Analyse, die auch die sich darum gruppierenden Bewegungen mit ihren Erfolgen und Niederlagen untersucht, erstmals nachvollziehen. »Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte« ist die erste globale Analyse ökologischer Bewegungen. Dabei handelt es sich um eine teilnehmende Beobachtung. Joachim Radkau, der Autor der Studie, lehrt in Bielefeld Neuere Geschichte und ist ein Öko der ersten Stunde. Er sei sich längst wie »ein trotteliger Anti-AKW-Opa« vorgekommen, hat er kürzlich in einem Interview aus Anlass der japanischen Atomkatastrophe gesagt. Mit der Katastrophe in Japan ist aber nicht nur für Radkau die gesamte Szenerie der siebziger und achtziger Jahre um die Außenein­andersetzungen über die Atomkraft wieder aktuell.

Und auch jetzt ergreift Radkau Partei. Seine Aufgabe als Historiker sieht er darin, durch seine Analyse der weltweit zersplitterten und disparaten Umweltbewegungen deren Sinn für den richtigen historischen Moment zu schärfen. Und dass gerade eine Zeit beginnt, in der die Möglichkeiten des historischen Eingriffs gegeben sind, steht für Radkau außer Frage.

Entscheidend ist für ihn in diesem Zusammenhang vor allem die Frage, ob es dank der Möglichkeiten des Internet zu einer neuen globalen Verknüpfung der in der Regel lokal agierenden Umweltgruppen kommt und inwieweit das die Kampfkonstellationen verändert oder befördert. Denn um Kämpfe wird man nach wie vor nicht herumkommen, und die Kämpfe um die Umwelt sind für Radkau immer auch soziale Kämpfe. Der Ökologismus, ein Begriff, unter dem er die Denk- und Organisationsformen der Umwelt­bewegungen zusammenfasst, ist für ihn bislang die einzige umfassende Antwort auf das, was in der Welt vor sich geht, und dabei bedeutender als »alle Verheißungen der Liberalisierung und Globalisierung«.

Im »Zeitalter der Ökologie« haben der motorisierte Straßen- und Luftverkehr, die Belastung durch Emissionen unvermindert zugenommen. Erst jetzt kam die Chemisierung der Landwirtschaft mitsamt der Kontamination von Boden und Grundwasser in vielen Regionen in vollen Gang, und trotz aller Lippenbekenntnisse zur »Nachhaltigkeit« sind führende Konzerne mehr denn je auf maximalen Profit orientiert. Je weniger die Unternehmen noch standortgebunden sind, einen desto rücksichtsloseren Umgang mit der Umwelt können sie sich leisten. Exemplarisch findet Radkau den aktuellen Raubbau durch weltweit agierende Agrarunternehmen in Afrika. Insbesondere durch die Nutzung der Anbauflächen durch Großunternehmen hat sich dort die Umweltzerstörung seit den siebziger Jahren verschlimmert.

Die Probleme können benannt und auch Geschichten vom Widerstand erzählt werden, trotzdem ist die Öko-Ära keine Erfolgsgeschichte. Sie besteht eher aus Geschichten von Anläufen, Abbrüchen und neuen Anläufen, in denen nach Konstanten zu suchen nicht leicht ist. Zu vielfältig scheint der Ökologismus zu sein. »Das eine Mal begegnet er als Schlachtruf von Protestbewegungen«, schreibt Radkau, »das andere Mal als Hebel bürokratischer Reglementierung, das dritte Mal als Gegenstand von Ökologie als naturwissenschaftlicher Spezialdisziplin, dazu noch als spirituelle Lichtquelle der Meditation.« In Indien tritt der Öko­logismus als Kampf der Chipko-Frauen für traditionelle Dorfrechte am Wald auf, aber auch als Engagement von Naturschützern für Tigerschutz, der die Dorfbewohner gefährdet. Für Radkau sind das aber nicht nur Zeichen des Widersprüchlichen, Disparaten und der Zersplitterung der Ökobewegungen, sondern Merkmale ihrer Vitalität.

Weil es aber immer Kleingruppen, Einzelper­sonen und Ereignisse wie Tschernobyl, ein Großstaudammprojekt oder ein Unfall in einem Chemieunternehmen sind, die in die Umweltbewegungen neue Dynamik bringen, gibt es keine endgültige Lösung. Überall, wie jetzt in Japan, kann immer wieder ein unkontrollierbares Problem auftauchen. Das macht die Umweltproblemematik zu einer unendlichen Aufgabe. Gerade am Beispiel Japans lassen sich aber auch Konstanten herausarbeiten, die den Ökologismus lebendig halten. Wenn man Japan und die BRD nach dem Zweiten Weltkrieg vergleicht, fällt erst einmal auf, dass es in Japan keien große Kernenergiekontroverse gab, wie es sie hierzulande seit den siebziger Jahren immer wieder gegeben hat. Das ist natürlich merkwürdig. Japan war und ist bis heute das einzige Opfer der Atomwaffen. Und als im März 1954 der japanische Thunfischfänger »Glücklicher Drache« in den Fallout eines amerikanischen Wasserstoffbombentests geriet und die 23-köpfige Besatzung unter der Strahlenkrankheit litt, wusste man dort auch, dass Atombombentests stets gefährlich sind. Hinzu kamen schwere Störfälle in dem schnellen Brüter Monju 1995 und in der Wiederaufbereitungsanlage Tokaimura 1997.

Auf all das wurde auch in Japan mit Protesten und einer umfassenden kritischen Literatur reagiert. Die Anti-Atombewegung blieb immer aktiv, aber lokal. Der japanische Sozialphilosoph Kenichi Mishima erklärt das mit der intensiven Öffentlichkeitsarbeit von Atomlobby und Regierung, durch die es gelungen sei, das Misstrauen gegen die Atomenergie in ein irrationales Vertrauen in den Apparat zu verwandeln. Begleitet wurde diese Arbeit von einer »kulturdiagnostischen Politpropaganda, nach der die japanische Kultur auf Harmonie ausgerichtet sei, weich, sensibel für die Mitbürger«, wie Mishima in der Frankfurter Rundschau sagte. Für Mishima liegt der Skandal in Japan darin, dass sich auch die meisten Intellek­tuellen an dieser Form der Kulturdiagnostik beteiligten. Radkau stimmt Mishima im Fall der Atompropaganda zu, erweitert die Analyse aber um einen wichtigen Aspekt. Denn nicht in allen Fällen der Umweltbarbarei blieben die Japaner weich und harmonisch, ohne dass sich Protest regte. Als eine bis dahin paradiesische Bucht der Insel Kyushu mit Quecksilber vergiftet wurde und die Anwohner horrende Gesundheitsschäden davontrugen, war das eine Initialzündung für die japanische Umweltbewegung. Mitausgelöst wurde der Protest durch die Dokumentation des Skandals durch die Schriftstellerin Ishimure Michiko in ihrem zuerst 1969 erschienenen Buch »Paradies im Meer der Qualen«. Für Radkau wird mit dem gegen die Quecksilbervergiftung gerichteten Massenprotest die Energie des Widerstands so weit absorbiert, dass für den Atomkampf keine Kraft mehr bleibt. Jedes Engagement, meint Radkau, erfordere so viel Zeit und Kraft, das man sich nicht zugleich an anderen Umweltkämpfen beteiligen kann. Es gab also auch in Japan immer intensive Umweltkämpfe, sie bezogen sich jedoch auf andere Gegenstände.

Wichtig ist hier vor allem, dass natürlich auch Michikos Buch das Dokument einer Hysterie war, auf die die richtigen Antworten folgten. Und man spekuliert nicht zu stark, wenn man davon ausgeht, dass die jetzt hysterisch nach nicht kontaminiertem Wasser suchenden Eltern junger Kinder ein Anlass für eine Massenbewegung gegen die Atomenergie in Japan sein werden. Entscheidend für eine Einschätzung Japans wie aller anderen Länder bleibt Radkaus Geschichtsauffassung. Geschichte ist für Radkau ein offener Prozess, und je mehr man sich der Gegenwart nähert, desto klarer erkennt man die Vieldeutigkeit der in den Geschehnissen enthaltenen Potentiale. Dabei unterscheiden sich die Potentiale von Land zu Land und Kontinent zu Kontinent. Die vielen Umweltinitiativen leben in höchst unterschiedlichen Welten, und nur wenn man akzeptiert, dass die Öko-Bewegung ihre eigene Ökologie hat, ­sobald sie ihre jeweilige Umwelt konkret wahrnimmt und nicht nur die »Umwelt« als Abstraktum beschwört, gibt es eine Chance auch für »globales Handeln«.

2. Heldentum und Panikattacken

„Wer eine Tragödie überlebt hat, ist nicht ihr Held gewesen.“ (Stanislaw J. Lec)

Im umkämpften Libyen haben sich 2.000 philippinische Krankenschwestern geweigert, das Land – wie fast alle Ausländer – zu verlassen, obwohl ihre Regierung ihnen dies dringend nahegelegt hat. Gerade jetzt werden wir gebraucht, erklärten sie. Sind sie Heldinnen?

In Japan werden bei den brennenden Atomreaktoren von Fukushima 450 Hilfskräfte eingesetzt, die versuchen, das Kühlsystem wieder in Gang zu setzen – und sich dabei tödlicher Verstrahlung aussetzen. „Diese Arbeiter sind Helden,“ befand Isolde Charim in der taz. Der Kommentator der Zeit, Klaus Hartung, kritisierte die deutschen Hysteriker, die hier seit dem japanischen Reaktorunfall „selbstbezogen“ gegen Atomkraft demonstrieren, aber völlig desinteressiert, das heißt ,“unfähig zur Anteilnahme“ an den „Helden von Fukushima“, seien. Stattdessen werden sie hier als „Angeheuerte“ und zum Einsatz im Reaktor Befohlene bezeichnet – während man sie in Japan als „Samurai“ feiert. Sie stellen die „erste Verteidigungslinie“ dar, wie Premierminister Naoto Kan sagte. Für den Samurai als Angehörigem einer Kriegerelitekaste gilt laut dem Philosophen Hojo Shigetoki aus dem 13. Jahrhundert: „Er sollte nicht an Hunderttausende von Menschen denken, wenn er kämpft, sondern nur die Bedeutung seines Herrn im Sinn haben.“

Der westliche Heldenbegriff ist ein anderer. Schon die Ersten – Odysseus, Achill, Jason – verteidigten selbstbewusst ein Gemeinwesen. Und noch die Letzten – wie der legendäre Che Guevara – kämpften für ein Gemeinwesen freier Menschen. Mit den Legenden der antiken Helden kommt überhaupt das Selbstbewusstsein in die abendländische Geschichte. In seiner „Nikomachischen Ethik“ definierte Aristoteles das Heldentum bereits auf eine für uns bis heute gültige Weise: Über die „Tapferkeit des Bürgerheeres“ schreibt er: „Und wenn Truppenführer die Leute in die vorderste Front stellen und sie sie, falls sie zurückweichen wollen, schlagen, dann ist das Zwang. Man soll aber nicht tapfer sein aus Zwang, sondern weil es ruhmvoll ist.“ In Japan ist das noch immer kein Widerspruch: Hier wird der Zwang (des Staates, des Arbeitgebers) tapfer auf sich genommen: „Diese Lebensweisheit steckt tief in den Japanern, die auch besagt, selbst in schwierigsten Situationen gelassen zu bleiben, nicht zu streiten. Das kommt vom Konfuzianismus. Dazu kommen buddhistische Einflüsse, die den Menschen nicht als Individuum, sondern als kleinen Teil des großen Ganzen, der Welt sehen“, erklärte uns dazu der japanische Germanist Kennosuke Ezawa. „In Japan herrscht noch immer eine Gesinnung wie vor 150 Jahren. Man kann aber nicht immer nur lächeln, ausweichen und verzweifelt den Schein aufrecht erhalten. Man muss sich auseinandersetzen. Das zeigt die aktuelle Katastrophe.“

In Tschernobyl hat man den Katastrophenhelfern ein Heldendenkmal gesetzt. Inzwischen sind schon etwa Zehntausend dieser sogenannten Likwidatori an den Folgen ihrer Arbeit gestorben. Mehrere deutsche Zeitungen interviewten dieser Tagen die letzten Überlebenden: „Die Helden von Tschernobyl bereuen nichts“ lauteten fast unisono ihre Überschriften. Auch den „Fukushima-Samurai“ (Der Spiegel) wird man ein Denkmal setzen. Was ist aber mit den Zigmillionen Japanern, die quasi heldenhaft zu Hause ausharren und den Anweisungen der Regierung lauschen? Brechen die zum Beispiel in Panik aus, wenn sich eine radioaktive Wolke nähert, oder bleiben sie diszipliniert vor dem Fernseher sitzen? Der japanische Sozialphilosoph Kenichi Mishima ist sich bei den 35 Millionen Einwohnern Tokios sicher: „Es wird, wenn das Schlimmste eingetreten ist, der Augenblick kommen, wo jeder seine Haut zu retten versucht, mit allen möglichen chaotischen Konsequenzen, die ein solcher Exodus mit sich bringt. Übrigens hat schon ein kleiner Exodus angefangen. Höhere Töchter der global class reisen allmählich ab. Ich persönlich könnte mit meiner Lebensgefährtin, wenn es sein muss, westwärts wegfahren. Die Vorstellung einer Autokolonne, die sich nicht vorwärtsbewegen will, lässt mich jetzt schon grausen.“

Während ein taz-Leitkommentator kürzlich meinte, wer jetzt nicht in Panik gerät, der ist vielleicht bloß nicht gut genug über die Gefahren der Kernkraft informiert, versuchte der taz-Korrespondent in Tokio die Panikresistenz der Japaner auszuloten: Von einem jungen Paar erfuhr er, dass sie „sich nicht allzu viele Sorgen machen, aber vor einem fürchten sie sich ganz bestimmt nicht: vor einer öffentlichen Panik. „Das gibt es bei uns nicht. Wenn einer panisch reagiert, wird er von den anderen zur Ruhe gebracht.“

Wenn es beim Heldentum darum geht, dass man sich in Gefahr begibt, um andere zu schützen, dann scheint das Gegenteil davon die Panik zu sein – bei der man davonstürzt, um sein eigenes Leben zu retten. Für den italienischen Philosophen Giorgio Agamben und die Pariser Gruppe Tiqqun ist die panische Reaktion die letzte Möglichkeit, aus der „Normalisierung“ (Michel Foucault) auszubrechen, das heißt, sich aus der ideologischen Umklammerung durch den Staat, das System mit seinen unablässig zur Ruhe und Ordnung mahnenden Medien, zu befreien. Die Panik ist eine Art Negativaufstand. Für den Soziologen Albert Hirschmann gibt es in „Krisen“-Situationen überhaupt nur zwei Verhaltensweisen „Exit“ oder „Voice“: flüchten oder protestieren.

1990 veröffentlichten der Sony-Konzernchef Morita und der japanische Nationalist Ishihara ein kleines Buch: „Japan sagt Nein!“ Sie argumentierten darin gegen die US-Forderung nach Aufhebung der japanischen Handelsbeschränkungen. Angesichts der immer noch drohenden japanischen Atomkatastrophe käme es nun aber darauf an, dass die Japaner Nein sagen – zu ihrer „Japan AG“! Oder anders gesagt, dass sie Ja, panisch werden. Und zum Beispiel dem Vorbild der Tokioter Studenten folgen, von denen vor zwei Wochen 3.000 gegen Atomkraft demonstrierten, unter anderem mit der Parole: „Die amtierende Regierung stürzen! Lasst uns wie Ägypten die Gesellschaft verändern!“ Am Wochenende verhaftete man drei der linken „Rädelsführer“. Ihre individuelle Panik mündete demnach in den kollektiven Wunsch nach einem Aufstand. „In einer Paniksituation lösen sich Gemeinschaften vom Gesellschaftskörper, der als eine Gesamtheit konzipiert ist, und wollen ihm entwischen“, schreibt die autonome Gruppe Tiqqun in ihrem Buch „Kybernetik und Revolte“ – und zitiert dazu den Philosophen Peter Sloterdijk: „Lebendige Kulturen sind nur durch Nähe zu panischen Erfahrungen möglich.“

Die Panik ist laut Tiqqun ein „Zerfall der Masse in der Masse“. Was bei der Panik „die Deiche bricht“ und sich in eine potenzielle positive Ladung, „eine konfuse Intuition (in der Kon-Fusion), umwandelt“, ist, dass jeder hierbei so etwas wie das lebendige Fundament seiner eigenen Krise ist, anstatt sie wie ein äußeres Schicksal hinzunehmen. Wenn man sich der Panik überlässt, geht man das Risiko des Desintegration ein, „das jeder als Restrisiko-Dividuum für die Gesellschaft darstellt.“

Für Tiqqun geht es „in den letzten Tagen des Nihilismus darum, die Furcht ebenso extravagant erscheinen zu lassen wie die Hoffnung“. Denn die in Panik übergehende Furcht ist geeignet, dem heutigen kybernetischen System und seinem Totalitätsanspruch zu entkommen.

Was den islamgläubigen Ägyptern das Motiv für ihre Revolution gab – das bankrotte System „Mubarak“ -, wäre demnach für die technikgläubig genannten Japanern das AKW in seiner havarierten Form. Aber noch ist es nicht so weit. Noch hockt die Mehrzahl der 35 Millionen Tokioter vor den Nachrichtenspendern ihrer Regimezentralen. Erst wenn nennenswerte Teile der Bevölkerung in Panik ausbrechen, wird das die „Kybernetiker“ in Panik versetzen, denn das wäre für sie das „absolute Risiko“.

AP meldet aus Japan: An „vorderster Front“ stehen nun japanische Soldaten:

„Ich bin zu den Selbstverteidigungsstreitkräften gegangen, weil ich zu Hause bei Naturkatastrophen helfen wollte, nicht um nach Übersee in den Krieg zu ziehen“, erklärt Oberfeldwebel Shintaro Ichijo. Der 25-Jährige stammt aus Fukushima und wischt gerade in einer vom Tsunami überschwemmten Schule in Ishinomaki gemeinsam mit Lehrern und Schülern den Schlamm vom Boden der Turnhalle. „Wir sind für unser Volk da“, sagt er.

Der Spiegel tickert:

Auffällig unauffällig: Japanische Medien werden den Anforderungen der Katastrophe von Fukushima kaum gerecht. Wie auch? Scharfe Kritik, harte, unabhängige Recherche oder gar die Enthüllung von Skandalen gelten im Land als unschicklich oder sind verpönt.


Aus Libyen meldet Reuters:

Bei den diplomatischen Bemühungen um ein Ende des Krieges in Libyen hat sich auch am Dienstag kein Durchbruch abgezeichnet: Rebellen und Regierung könnten sich nicht über die Zukunft von Machthaber Muammar Gaddafis einigen, sagten türkische Regierungsvertreter nach einem Besuch eines libyschen Sondergesandten. „Beide Seiten stehen sich unnachgiebig gegenüber.“ Die Opposition bestehe auf einem Rückzug Gaddafis, die Regierung wolle ihn halten. Die Türkei bemühte sich um eine Vermittlung und erwartete in den kommenden Tagen einen Vertreter der Rebellen. Weder der Westen noch die Rebellen gingen auf die Reform-Versprechen der Regierung in Tripolis ein. Die libysche Führung hatte sich zu Wahlen und einer neuen Verfassung bereiterklärt, dies aber an einen Verbleib des Machthabers geknüpft.

Der libysche Vize-Außenminister Abdelati Obeidi stieß mit seiner Gaddafi-treuen Botschaft auch auf Malta auf Ablehnung. Ministerpräsident Lawrence Gonzi sagte dem Botschafter, Gaddafi und seine Familie müssten die Macht abgeben. Die Vorfälle im Rebellen-Vorposten Misrata nannte Gonzi abscheulich. Augenzeugen hatten von einem Massaker durch Gaddafi-treue Soldaten berichtet. Die drittgrößte Stadt des Landes ist die letzte Hochburg der Aufständischen im Westen und heftig umkämpft.

Gestern interviewte die FAZ mehrere libysche Aufständische – wohl um zu zeigen, dass nichts Islamistisches an und in ihnen ist und dass selbst die Stammesältesten demokratisch denken („Er weiß, dass sich die Funktion der Stämme in der Moderne verändert„):

Die „Rebellen“ sind nicht chaotisch und spontan. Sie sind vielmehr gut organisiert und mit einem ausgeprägten Bürgersinn ausgestattet. Aus ihrer Begeisterung entsteht eine Ordnung. Viele engagieren sich, sind Freiwillige, arbeiten, ohne Geld dafür zu verlangen. Sie stellen ihre Fähigkeiten in den Dienst der Gesellschaft, ob als Köche für die Front oder als Kämpfer mit der Kalaschnikow an der Front, ob als Mitglied in einer Fachkommission, als Verkehrspolizisten, als Übersetzer, als Verteiler der eingehenden humanitären Hilfen.

Es sind Leute wie Salim al Fisai, ein 31 Jahre alter Einzelhändler. Er hatte sich zu Beginn der Revolution bei den Kommissionen im Gerichtsgebäude als Freiwilliger gemeldet, und sie setzten ihn ein, um in einem Lagerkomplex vor den Toren Benghasis die Hilfspakete mit Lebensmitteln aus Qatar und den Vereinigten Arabischen Emiraten, aus Ägypten und der Türkei an die Bedürftigen in Benghasi und Umgebung zu verteilen. Gerade fertigt er einen kleinen Lastwagen ab, der für die umkämpfte Ölstadt Brega bestimmt ist. Der Lastwagen soll dort die Pakete an den Moscheen abladen. Sie hatten Fisai mitgeteilt, wie viele Bedürftige in ihrem Umkreis leben. Fisai ist für die Versorgung von 40 000 Familien zuständig.

Der Journalist Mustafa Fattusch,Mustafa Fattusch, „äußert sich verbittert über Deutschland. „Die Regierung hat sich für Gaddafi und gegen die Freiheit entschieden“, sagt der Intellektuelle enttäuscht. Dabei können die Revolutionäre im Osten Libyens jede Hilfe gut gebrauchen. Ihr Weg ist lang und steinig. Das Bildungssystem ist heruntergekommen, viele können nicht mit dem Internet umgehen.

Und doch sind die Ambitionen groß: Die Einheit des Landes, das aus drei historischen Provinzen besteht, soll nicht angetastet werden. Innerhalb einer Woche nach Gaddafis Sturz will die politische Führung der libyschen Revolution zu einer „Nationalen Konferenz“ in die Hauptstadt Tripolis einladen. Jeder der 300 Stadtbezirke soll mit zwei Entsandten vertreten sein. Binnen sechs Monaten sollen im ganzen Land freie Wahlen stattfinden, um die Unabhängigkeit zu sichern und eine Republik Libyen zu erschaffen. Dafür kämpfen an der Front und in den Städten des befreiten Libyens die Revolutionäre, die nicht als „Rebellen“ bezeichnet werden wollen.

Die FAZ meldete gestern aus dem Jemen:

„Die Gewalt im Jemen eskaliert weiter. In der jemenitischen Stadt Taizz haben am Montag Sicherheitskräfte das Feuer auf Demonstranten eröffnet und dabei 15 Menschen getötet. Mindestens 30 Menschen wurden schwer verletzt. Die Demonstranten hatten am zweiten Tag blutiger Zusammenstöße in Taizz Barrieren durchbrochen und sich Zugang zum Platz vor dem Amtssitz des Gouverneurs verschafft. Dort wurden sie von Sicherheitskräften beschossen, die auf den umliegenden Dächern Stellung bezogen hatten.

In Solidarität mit den Demonstranten von Taizz setzten in anderen Städten des Landes weitere Demonstrationen ein. Neun Tote und mehr als 400 Verletzte soll es in der Küstenstadt Hudeida, der viertgrößten Stadt des Jemen, gegeben haben, als Sicherheitskräfte in zivil das Feuer auf Demonstranten eröffneten, die sich erst vor Regierungsgebäuden versammelt haben und dann versuchten, sich der Residenz des Staatspräsidenten Ali Abdullah Salih zu nähern. Dieser hielt sich am Montag aber weiter in Sanaa auf.

Am Sonntag waren in Taizz, dem Wirtschaftszentrum des Landes, 1600 Menschen verletzt worden, als Sicherheitskräfte gegen sie Tränengas und scharfe Munition einsetzten, um einen gewaltfreien Sitzstreik im Stadtzentrum aufzulösen. Der Gouverneur der Provinz dementierte Berichte über getötete Demonstranten und warf der Opposition vor, acht Soldaten seien getötet worden, als sie Gewalt zwischen Demonstranten und Bürgern beilegen wollten.“

Dpa meldet heute aus Syrien:

Die syrische Führung hat nach den Protesten der vergangenen Wochen indirekte Kontakte zur Opposition aufgenommen. Vertreter der vorwiegend jungen Demonstranten, die in Syrien seit drei Wochen für demokratische Reformen auf die Straße gehen, sind allerdings dem Vernehmen nach nicht darunter. Ein bekannter Oppositioneller bestätigte, dass es in den vergangenen Tagen erste Gespräche gegeben habe, unter anderem mit Vertretern kurdischer Gruppierungen. Er sagte am Dienstag in Damaskus: „Persönlichkeiten aus dem Sicherheitsapparat haben Vermittlern grünes Licht gegeben, damit diese Vermittler Treffen mit Vertretern der Opposition organisieren.“

Einige Oppositionelle äußerten jedoch Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Gespräche. Einer von ihnen sagte: „Wir haben nichts gegen Diskussionen oder einen ideologischen, kulturellen und politischen Dialog und die Eröffnung eines Gesprächskanals, aber diese Bemühungen müssen ernsthaft sein und nicht nur ein Versuch, wegen der aktuellen Ereignisse Zeit zu gewinnen.“ Ein anderer Beobachter vermutete, die Sicherheitskräfte wollten die Ansichten der verschiedenen Gruppen sammeln, um festzustellen, wie stark diese untereinander vernetzt seien.

Die regierungsnahe Zeitung „Al-Watan“ schrieb in ihrer Dienstagsausgabe, die neue Regierung wolle ein Parteiengesetz nach dem ägyptischem Vorbild erarbeiten. Das Ende März erlassene ägyptische Gesetz verbietet religiöse Parteien und schreibt für die Gründung einer neuen Partei eine Mitgliederzahl von mindestens 5000 Bürgern vor.

Seit Beginn der Proteste in Syrien sind nach inoffiziellen Angaben mehr als 100 Demonstranten getötet worden. Dutzende von Aktivisten wurden festgenommen. Assad hat Reformen versprochen. Bisher gibt es jedoch keine Anzeichen dafür, dass er mehr Demokratie zulassen will.

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